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Über den Norilsker Aufstand

An dem Tag, als der Aufstand der Gefangenen in den Außenstellen der Lager mit besonderer Haftordnung sowie in den Strafzonen begann, befand ich mich auf dem Territorium der Ziegelfabriken. Und das Ganze nahm an einem sehr warmen Polarsommer-Tag seinen Lauf (an das genaue Datum kann ich mich nicht mehr erinnern).

Bei Schichtende wartete ich, wie alle anderen Frauen, die in der 6. Lager-Außenstelle des Gornij-Lagers (Berg-Lager; Anm. D. Übers.) inhaftiert waren, auf das Eintreffen der Wachmannschaften, welche die Frauen für die Nachtschicht herbringen und anschließen uns ins Lager zurückgeleiten sollten.

Unsere Lagerabteilung befand sich in der Nähe der Produktionszone der Ziegelfabrik. Auf der anderen Seite war das Männerlager N° 5 untergebracht. Der Produktionsbereich und das Außenlager N° 5 waren durch einen Stacheldrahtzaun mit Abschirmungen aus demselben Stacheldraht voneinander getrennt. An der Umzäunung hatten sich zahlreiche Mädchen versammelt, die sich mit den Männern de 5. Lagerstelle unterhielten und sich gegenseitig Notizen zuwarfen. Die Wache verlangte, dass sie alle auseinandergingen, aber niemand schenkte der Aufforderung Aufmerksamkeit. Plötzlich hörten wir, dass in der Männerzone geschossen wurde. Ich vermag nicht darüber zu urteilen, ob das eine provokative oder geplante Aktion war.

Und dann begann etwas Merkwürdiges. Wir sahen, wie die Männer hastig in ihrem Lagerbereich hin und her liefen. Viele weigerten sich zur Arbeit zu gehen. Und diejenigen, die sich zu dem Zeitpunkt im Produktionssektor aufhielten, lehnten es ab, den Rückweg ins Lager anzutreten.

An diesem Tag streikten gleichzeitig alle Regime-Lagerabteilungen, einschließlich der Strafzonen. Auf den Krantürmen und in den Lagerzonen tauchten schwarze Flaggen und Losungen auf, die auf Ukrainisch verfasst worden waren: „Tod oder Leben!“

Nach kurzer Zeit kamen die Wachen, um uns zu holen und ins Frauenlager N° 6 zu schicken. An diesem Abend gab es viele Gespräche, viele Diskussionen.

Am folgenden Morgen versuchte die Lagerleitung uns zum Arbeitsausgang zu überreden. Etwa 70-80 Frauen, die in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen waren, begaben sich zum Appell (wir waren so erzogen worden). Aus uns wurden zwei Brigaden zusammengestellt, und dann brachte man uns zur Arbeit in die Sowchose. Die Begleitsoldaten verhielten sich äußerst korrekt; das war noch nie zuvor der Fall gewesen. Uns wurde aufgetragen, Dünger auf dem Feld zu verteilen (Stallmist). In der Mittagspause brachte man uns zwei große Kannen – eine mit Milch, die andere mit Molke. Außerdem erlaubten sie uns, in dem nahegelegenen Tundra-See eine Weile herumzuschwimmen.

Indessen wurde der Lagerleitung bekannt, dass wir alle abgeschlachtet werden sollten – weil wir Streikbrecher waren. Nach der Arbeit führte man uns daher nicht wieder in unsere Lagerzone zurück, sondern brachte uns in das noch nicht ganz fertig gebaute Säuglingsheim, welche sich hinter einer Einzäunung, die an unser Lager grenzte. Die Aufseherinnen brachten uns unsere Bettwäsche und persönliche Sachen. Innerhalb der Einzäunung gab es einen Wasserhahn; dort wuschen wir uns. Aus der Lagerzone wurde auch ein großer Behälter mit Lagersuppe herantransportiert.

Am nächsten Tag, als wir von der Arbeit zurückkamen, hatten die Streikenden in der 6. Lagerabteilung bei sich das Wasser abgedreht; Den Behälter mit der Suppe kippten sie in den Straßengraben, damit uns davon nichts zu Teil werden sollte. Die „oberste“ Leitung traf im Lager ein und versuchte die Frauen dazu zu bewegen, ihre Arbeit wieder auf zu nehmen, aber die Streikenden ließen sich nicht darauf ein.

Nachdem bereits mehrere Streiktage vergangen waren, wurden schließlich die Frauen unter Einsatz von Feuerspritzen aus der 6. Lagerabteilung in die Tundra hinauskomplimentiert und dort umzingelt. Mit ihnen vereinigten sich auch Strafgefangene, deren Zone vom Lager 6 durch abschließbare Tore abgegrenzt war. Dort wurden Frauen aufgrund irgendwelcher Anzeichen (wahrscheinlich außergewöhnlicher Aktivitäten) aussortiert und die meisten von ihnen, unter ihnen auch die Strafhäftlinge, ins Lager zurückgebracht. Auch uns brachte man dorthin zurück. Am nächsten Tag gingen alle zur Arbeit. Und damit endete dann auch der Aufstand im Frauenlager N° 6.

Dabei wurden folgende Forderungen der Streikenden erfüllt:

1. Man entfernte die Häftlingsnummern, mit denen wir 1949 hier angekommen waren, von der Rückseite unserer Kleidung.
2. Von den Baracken wurden die Schlösser entfernt und die Kübel für die Notdurft liquidiert.
3. Im Lagerbereich wurde ein Kiosk eröffnet, an dem man Lebensmittel, Seife und ähnliches erwerben konnte.
4. Wir bekamen für unsere Arbeit einen geringen Lohn gezahlt.
5. Aus unserem Zwölfstundentag wurde ein Arbeitstag von zehn Stunden.

Mit einem Wort, die Lagerordnung gestaltete sich jetzt so, wie in einem ganz gewöhnlichen Besserungs-/Arbeitslager.

Wera Mischne

„Widerstand im GULAG“. Erinnerungen. Briefe. Dokumente.
Moskau. Verlag „Woswraschtschenie“ („Wiederkehr“; Anm. d. Übers.), 1992, Mai


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