Sophia Jakowlewna Diener: „ Ich will mich nicht erinnern!“
- Als der Krieg erklärt wurde, befand ich, Studentin am deutschen Staatlichen Institut für Pädagogik in der Stadt Engels, mich bei landwirtschaftlichen Arbeiten in der Kolchose. Alle kehrten in die Stadt zurück, und kurz darauf begann die Aussiedlung der Deutschen; die deutschen Dörfer blieben einsam und verlassen zurück, so wie Jahrzehnte später die Dörfer um Tschernobyl….
In Viehwaggons wurden wir zunächst nach Alma-Ata geschickt, anschließend nach Krasnojarsk. Ich bin nicht einfach eine Deutsche – ich bin die Tochter eines Volksfeindes – mein Vater wurde verhaftet und 1937 erschossen.
… Sie ist der aufrichtigen Meinung, daß niemand ihre Erinnerungen braucht, daß schon niemanden mehr die Schicksale tausender Menschen bewegen, deren Wege sich einst in Norilsk kreuzten.
Ich finde, daß diese außergewöhnlich vernünftige und starke Frau sich in dieser Hinsicht im Unrecht befindet – Norilsk soll seine Ursprünge nicht vergessen, und Sophia Jakowlewna Diener ist doch schließlich eine der Mitwirkenden und eine der Zeuginnen des norilsker Nachkriegsgeschehens (welches zuerst enthüllt und dann von vielen wieder vergessen wurde), die man leider inzwischen an ein paar Fingern abzählen kann.
-Ich weiß noch, wie der Vater im Krankenhaus behandelt wurde und irgendwann darum bat, man möge ihn zu den Oktober-Feiertagen nach Hause entlassen. Mama buk, wie immer, Kuchen und brachte das ganze Haus auf Hochglanz. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich nach Hause kam und dort völlig unerwartet Papa antraf. Und in der Nacht kamen Leute vom NKWD, stellten alles im Haus auf den Kopf, brachten den Vater fort, und danach sollten wir ihn nie wieder sehen.
Erst viele Jahre später, 1963, bekam sie endlich aus Moskau die Bescheinigung über die Rehabilitation Jakob Davidowitsch Dieners und erwirkte sogar für die Mutter eine Rente in Höhe von 40 Rubel.
- Alles ist nur wegen meines Großvaters geschehen. Er hatte einen Bruder, der noch zu Beginn der 1920er Jahre nach Amerika ausreiste und sich nicht schlecht in Chikago einrichtete. Ausgerechnet 1937 wurde der Großvater von einem ausländischen juristischen Kollegium ausfindig gemacht – der Bruder hatte ihm eine Versicherung und noch ein paar andere Finanzmittel hinterlassen. Aber Moskau gab aus irgendeinem Grund die offizielle Antwort, daß der Bruder schon verstorben sei. Der Vater mußte sich für die Sache einsetzen….
Was dabei herauskam, wissen Sie bereits. Allerdings erhielt Sophia Jakowlewnas Großvater seit der Zeit und auch teilweise während des Krieges eine Rente aus Amerika. 1941 wurde er, zusammen mit anderen Deutschen, nach Minusinsk abtransportiert, wo er starb, ohne das Ende des Krieges noch miterlebt zu haben.Während Sophia Jakowlewna mit ihren beiden Töchtern bereits auf dem Jenisej flußaufwärts unterwegs war, begegnete sie zufällig ihrer Stieftochter, die ihr dann auch vom Schicksal des Großvaters berichtete.
- In Scharypowo, wohin ich zuerst kam, arbeitete ich eine Zeit lang als Sekretärin und Rechnungsführerin, Lehrerin an der Schule und – geriet erneit in doe Listen des NKWD – sie wählten die gesündesten und jüngsten Leute aus, um sie zum Fischfang in den Norden zu schicken. Dorthin gelangte ich auf der „Maria Uljanowa“. Wir arbeiteten in Turuchansk und Wjerchne-Imbatsk, und in den kleinen Siedlungen trafen wir auf Verwandte, Bekannte, einstige Nachbarn. Bis 1944 blieben sie in Kurejka. Es folgte die Trudarmee – Frauen- und Männerbaracken am Fluß Ambarna. Wir, die Sonderumsiedler, bedienten die Norilsker Eisenbahnlinie und mußten uns jeden Monat einmal in der Kommandantur melden und registrieren lassen.
Natürlich hatte Sophia Jakowlewna Glück, dass sie nach Norilsk kam und nicht ans Kap Wchodnoj, wie ihre Freundin Alma Dorn ...
- Alma erinnerte sich mit Grauen daran, wie man sie, Kinder und Frauen (die Männer waren alle in der Arbeitsarmee), mit dem Schiff ans Kap brachte und dort einfach am kahlen Ufer aussetzte ... Sie bauten sich Erdhütten, fischten aus dem noch nicht vollständig zugefrorenen Jenisej Baumstämme, um sich daraus eine Art Behausung zusammenzuhauen. Jeden Tag starb jemand, und die Leichen wurden aufgestapelt und gefroren ...
Alma Dorn hatte später ebenfalls Glück – sie bekam Hilfe von A.P. Sawenjagin, der sie nach Norilsk holte, wo sie lange Jahre als Krankenschwester in der Gynäkologie tätig war, die sich Ecke Sewastpolskaja- und Kirow-Straße befand ... Vier Jahre später verstarb Albina Iwanowna.
Im Juli 1946 ging meine Trudarmeezeit zuende, und ich suchte mir eine Arbeit bei der Straßenverwaltung. Ich kann mich erinnern, daß an dem Tag Kalinin starb, der sich um das deutsche Volk „so eifrig bemüht“ hatte.
Zu der Zeit war ich bereits verheiratet. Mein Mann – Nikolaj Franzewitsch Prinz – ein Tscheche, geriet während des Krieges aus Odessa nach Norilsk. Im November 1946 wurde unsere erste Tochter Lena geboren. Unsere Ehe wurde nicht registriert, denn weder mein Mann, noch ich besaßen einen Ausweis. Aber als Lena zur Welt kam, setzte mein Mann das doch noch durch – auf Grundlage einer Bescheinigung wurden wir 1947 beim Standesamt Dudinka eingetragen. Einen Ausweis erhielten wir erst 1953.
Wir wohnten an der Pferdestation in der Altstadt, dort gab es eine kleine Siedlung der kommunalen Wohnungsverwaltung. Um uns herum nichts als Gefangene, denen wir bei jeder nur sich ergebenden Möglichkeit etwas Eßbares zusteckten; wir waren in einer etwas besseren Lage, obwohl der Unterschied auch nicht so groß war – wir waren ja ebensolche Unfreiwilligen.
1957 erhielten wir eine Zweizimmer-Wohnung in der Komsomolskaja 18 zugewiesen. Zu der Zeit war auch schon Tanja geboren ...
Das Schicksal führte mich , Gott sei Dank, mit Leuten zusammen, die trotz all der Erniedrigungen, ihren Stolz behalten haben, die unabhängig von trügerischen Werten geblieben sind – mit einem Wort: Menschen.
Ungerechtigkeiten gab es mehr als genug. Sie gingen bis zur völligen Absurdität. So gab es beispielsweise unter uns Sonderumsiedlern einen Georgier mit deutschem Vor- und Nachnamen, die man ihm im Kinderheim gegeben hatte, - alle schwärmten in jenen Jahren von Schmidt, und so erhielt das Jungchen eben den Nachnamen Schmidt. Wer konnte damals vorhersehen, was für eine schicksalhafte Wendung das für sein Leben bedeuten würde ...
Leiter des Fracht- und Passagierdienstes war bei uns lange Zeit Jakob Grigorjewitsch Gilels, der Bruder jenes bekannten Gilels. Weshalb es ihn eigentlich nach Norilsk verschlagen hatte, weiß ich nicht, und es ist ja auch egal, aber er lebte hier bis ins hohe Alter und zog erst kurz vor seinem Lebensende nach Minwoda um.
Und solche Leute waren es, die die Chlor-Kobalt-Fabrik errichteten: Akademiker, derenNationalitätenman gar nicht alle aufzählen kann – Finnen, Juden, Deutsche, Polen, Litauer, Letten, Esten ...
Die Schicksale sind krumm und verzerrt, aber die Seelen haben sich in bewunderswerter Weise gehalten; niemand hegte Wut auf die weiße Welt.
Ein Denkmal, sagen Sie ... Nein, es ist schon zu spät, aber Norilsk an sich ist doch schon mehr als ein Mahn- und Denkmal ...
L, Schuljak
„Norilsker Memorial“, 3. Auflage, Oktober 1996
Herausgeber: Vorstand der Norilsker Filiale der Allrussischen „Memorial“-Gesellschaft
und des Museums der Geschcihte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker
Industriegebiets.