In einem halben Jahrhundert ist eine Menge Wasser im Norilsker Fluss geflossen, vieles hat sich verändert, noch mehr Gras ist darüber gewachsen und hat sich mit grauem Moos bedeckt. Schon der kleine Trieb, sich reckenhaft zu allen Seiten ausstreckend, vergrößerte die Erhabenheit und den guten Ruhm des Polargiganten. Nicht zu finden, nicht zu definieren sind die Grenzen des Zeltlagers – des Vorgängers der mehrgeschossigen zeitgenössischen Stadt mit seinen Bequemlichkeiten und komfortablen Einrichtungen. Der Autor dieser Zeilen sieht, als wäre er in einem nebelumwobenen Wunderland, die unbewohnte Tundra in der Umgebung der Stadt Norilsk im Jahre 1936, am Fuße eines Kohleberges – dutzende, wenn nicht hunderte Zeltplanen-Dächer, tausende Häftlinge in einförmigen Wattejacken. Man nannte sie Kontras. Im Vorüberfahren gibt das Bild den Weg für etwas anderes frei: „Volksfeinde“ stehen mit ihrem Kochgeschirr und Blechdosen in einer Schlange nach ein wenig stalinistischer Brühe und einer Kelle Haferflocken an…
Das Norilsker Kombinat – eine solche Wortverbindung existierte noch nicht; damals war ein einziges Wort verständlich genug, und all e benutzten es: das Norilstroi (Norilsker Bauprojekt; Anm. d. Übers.). Und wenn jemand einen Brief erhielt, dann lautete die Adresse: Region Krasnojarsk, Norilstroi… Empfänger: der und der.
Auch der Lagerpunkt Waljok weicht nicht aus der Erinnerung: langgestreckte Zelte, vollgestopft mit Pritschen; im kleinsten – das Kontor, im hintersten, unweit vom Fluss Norilka – die hohe, hölzerne Unterkunft der Räucherei, wo uns einst der Räucherer aus den Reihen der Gefangenen mit Fisch bewirtete. Die übrigen Häftlinge arbeiteten beim Bau der Eisenbahn-Abzweigung Waljok – Norilsk.
Ich fuhr auf der ersten Waggon-Plattform von Waljok bis zur Ziegelfabrik, wo ebenfalls ein Lagerpunkt in Betrieb war, an dem nicht die ersten mehreren hundert „Feinde“ arbeiteten, die eines der ersten Industrieprojekte in Norilsk fertigstellten. Leiter des Lagerpunkts war ein inhaftierter Alltagsgauner namens Waskin. Etwa 600-700 Meter weiter in Richtung Norilsk wurde eine Baustelle für die große Ziegelfabrik N° 2 vorbereitet. Alle Leute, die im Lagerpunkt der Ziegelei inhaftiert waren, wurden während der Arbeitszeit zu drei Arbeitsstellen eingeteilt: dem Fundament des zukünftigen Werks, der Säuberung des Bauplatzes für eine Lehmgrube, dem Bau von Holzbaracken.
Schmerzlich ist es, sich an diese menschenunwürdige Zeit zu erinnern, aber die blutigen Jahre gehen einem nicht aus dem Kopf, sondern wollen aufs Papier und an die Leute gebracht werden. Ich will versuchen, das Wichtigste zu beschreiben. Es wird kein einziges erdachtes Sujet geben, kein erdachter Familienname, sondern nur dass, was ich selber gesehen, erlebt und erfahren habe und was für immer in mir bleiben wird. Wie die Tundra ihr Erscheinungsbild veränderte, wie sie immer neue und neue Partien verurteilter Menschen aufnahm, wie sie brodelte, stöhnte und im Blut des Jahres 1938 außer Atem kam. In jenem Jahr befand ich mich im Lagerpunkt „Ziegelwerk“, dort waren bereits fünf oder sechs Baracken gebaut und besiedelt, der Schornstein der kleinen Fabrik qualmte, es gab mehr als tausend Menschen, die nach §58 verurteilt worden waren. An der ersten Fabrik mit dem Bauplatz für die geplante zweite vorbei verlief die Eisenbahnlinie, welche Waljok mit Norilsk verband.
Technischer Leiter und der wichtigste Projektleiter der zweiten Ziegelei war Professor Cholodnij. Die bewaffnete Wache erlaubte ihm in einem separaten Küchenanbau zu wohnen, einem kleinen Zimmerchen von 6-8 Quadratmetern, in dem eine Holzpritsche und ein kleiner Tisch standen, der stets mit technischen Zeichnungen und anderen Papieren bedeckt war. Ich brachte es in dem Jahr bis zum Rechnungsführer und stellte für die Gefangenen Ausgabescheine für Bekleidung und Lebensmittel aus. Mehrfach ging ich zum Zimmer des Professors, um mich mit ihm zu unterhalten Einmal fragte er mich:
- Du bist noch ganz jung und hast schon weiße Harre. Warum ist das so?
Ich musste ihm von der Tragödie erzählen, die für meine Haarfarbe gesorgt hatte. Irgendwann werde ich darüber ….
In einer Baracke war ein guter Kamerad Aleksander Kosarews mit mir zusammen – Michail Jegoruschkin. Zu seiner Zeit arbeitete er im Zentral-Komitee der Komsomolzen-Organisation, lebte mit Kosarew zusammen in einem Haus, später – fast bis zur Machtergreifung Hitlers – arbeitete er in Deutschland, half den deutschen Genossen beim Aufbau von Jugendorganisationen. Verhaftet wurde er im seinem Amt als Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, des Flugwesens und der Chemie der UdSSR (OSOAWIACHIM; Massenorganisation in der UdSSR, in der in den 1930er und 1940er Jahren das Nachwuchs-Personal für die sowjetischen Luftstreitkräfte vorgeschult wurde; Anm. de. Übers.)….. Er klettert auf seine obere Pritsche und fängt mit leiser, rührseliger Tenorstimme an zu singen: „Weit bist du entfernt, mein Weg…“. Es war herzergreifend. „Wir nehmen an der Schwelle Abschied voneinander…“. Er erzählte, dass seine Tochter dieses Lied sehr geliebt hatte. Er konnte gut singen, in der Baracke wurde es dann jedes Mal ganz still…
Auf der Pritsche neben mir lag ein Astronom vom Pulkowsker Observatorium – Nikolai Aleksandrowitsch Kosyrew. Er erzählte gern von seinen Reisen.
Aleksej Karawajew