Wir erbitten Ihre Aufmerksamkeit für das Fragment eines Manuskripts von Wladimir Jewgenewitsch Poluektow mit dem Titel „Blick in die Vergangenheit“.
W.J. Poluektow (1911-1988) war Häftling des Norillag in den Jahren 1947-1951, ein hervorragender Baumeister und Wissenschaftler, der stets mutige Lösungen auf dem Gebiet des Ingenieurwesens und grundlegende Theorien fand und sie im Leben ganz beharrlich nach deren Verwirklichung suchte; er war der Begründer der Schneebekämpfung in Norilsk.
Ungeachtet der Tatsache, dass der Autor Ereignisse beschrieb, die im Zeitraum zwischen 1930 und 1986 geschahen, begegnet man in den Memoiren Hinweise auf das 12. Jahrhundert. W.J. Poluektow berichtete ausführlich über seine Vorfahren und zahlreichen Verwandten, widmete seine Erinnerungen jedoch den nachfolgenden Generationen.
Das Manuskript wurde 1988-1989 von Wladimir Jewgenewitschs Ehefrau fertiggestellt – von Larissa Grigorjewna (Haupt-Architektin der Stadt Norilsk in den Jahren 1957-1965, Professorin für Architektur, Ehrenbürgerin der Stadt Norilsk); es wurde von W.J. Poluektows und L.G. Nasarowas Tochter, Anna Wladimirowna Garina, ans das Museum der Geschichte des Norilsker Industriegebiets übergeben.
L.G. Nasarowa und W.J. Poluektow. Norilsk. 1960er Jahre
Naturnahe Erfahrungen am Pfahlfundament des 150-Meter-Rohrs im unterirdischen
wissenschaftlichen Forschungslabor. Norilsk, 1970er Jahre
Gegenwärtig wird das Manuskript „Blick in die Vergangenheit“ zur Veröffentlichung im Museum vorbereitet und wird demnächst von der Moskauer geschichtsliterarischen Gesellschaft „Wiederkehr“ herausgegeben – mit finanzieller Unterstützung der Wohltätigkeitsstiftung für soziale Programme / Viktor Konowalow – „Territorium des Guten“.
Am Vorabend meines Namenstages, dem 28. Juli (*1942 (Anm. d. Red.)), rief eine Freundin in Koltschugino an und schlug mir vor, inkognito nach Moskau zu fahren, um dort meinen Ehrentag zu feiern, was ich auch tat, indem ich eine Flasche Schnaps und ein paar rationierte Lebensmittel mitnahm. Etwa um acht Uhr abends traf ich zu Hause ein. Die Freundin bereitete das Abendessen zu und hatte gerade den Tisch gedeckt, als die Tür meines Zimmers aufgerissen wurde und drei Mitarbeiter der OGPU in Begleitung es Hausmeisters und zweier Zeugen auftauchten. Nachdem sie mir den Befehl für meine Verhaftung und eine Haussuchung vorgelegt hatten, forderten sie mich auf, mich in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl zu setzen, befahlen mir die Hände auf die Knie zu legen und fingen an alles sorgfältig zu durchsuchen. Als sie im Schrank guten Tabak fanden, baten sie mich um Erlaubnis ihn rauchen zu dürfen. Ich gestattete es ihnen, woraufhin sie mich in bequemerer Haltung sitzen und sogar mein Abendessen beenden ließen. Ich deutete ihnen an, dass ich es ungemütlich fände allein zu essen und bot ihnen deshalb an, sich zu mir zu gesellen. Bald darauf, nachdem sie die beiden Ze7ugen und den Hausmeister fortgeschickt hatten, lächelten sie schon wieder freundlich, setzten sich zu mir an den Tisch und lehrten mit mir eine Flasche Schnaps. Bis elf Uhr abends saßen wir so beisammen; dann sagten sie, dass es nun Zeit wäre loszufahren, und da sie den Befehl erhalten hatten, meine Wohnung zu versiegeln, empfahlen sie mir, die wertvollsten Dinge zu den Nachbarn zu bringen, was ich mit ihrer Hilfe auch tat; wir brachten die Sachen zu meiner Schwester, die im Nebenzimmer wohnte. Anschließend fuhren wir wie gute Freunde zur Lubjanka. Am fünften Tag nach meiner Verhaftung, um 8 Uhr, rief mich Ermittlungsrichter Makarenko zum ersten Mal zum Verhör. Er ließ mich in einer Ecke auf einem Stuhl Platz nehmen. In den folgenden vier Stunden beschäftigte er sich mit privaten Telefon-Gesprächen und las die Zeitung. Erst dann fing er an, mit die phantasievollen Anklagen vorzulegen, welche ich ohne große Mühe widerlegte.
Wenige Tage später bestellte Makarenko mich erneut zum Verhör, schwieg lange, schrieb irgendetwas und unterschrieb dann das Verhörprotokoll, wobei er mit der letzten Seite begann, auf der Sich Angaben zu meiner Person befanden, die keinerlei kriminelle Bedeutung hatten; dabei handelte es sich um die erste Seite, die jedoch faktisch die letzte des Protokolls darstellte. Er schlug mir vor, an zwei Stellen meine Unterschrift zu leisten. Ohne Argwohn unterschrieb ich. Die ersten Seiten des Verhörprotokolls enthielten angeblich meine Schildanerkenntnis, und ich weigerte mich diese zu unterzeichnen. Der Untersuchungsrichter, der schon berücksichtigt hatte, dass ich die Richtigkeit des gesamten Protokolls durch meine Unterschrift auf der letzten Seite bestätigt hatte, meinte: „Wenn Sie nicht wollen, brauchen sie nicht unterschreiben“. Als ich diesen Trick durchschaute, strich ich meine Unterschrift auf der letzten Seite unbemerkt durch und gab ihm dann das Protokoll zurück. Überzeugt vom Erfolg seines Betrugs, schickte er mich zurück in die Zelle.
Am nächsten Tag, als er bemerkt hatte, dass sein arglistige Täuschung nicht
funktioniert hatte, benahm er sich während des Verhörs entsetzlich grob und
rüpelhaft und stieß mich sogar mit Füßen. Ich besaß noch genügend körperliche
Kraft, und ich antwortete ihm mit einem Schlag auf den Kopf. Er tauchte hinter
seinem Schreibtisch ab, drückte irgendeinen Knopf und rief die Wachen herbei.
Nachdem sie mir Handschellen angelegt hatten, führten sie mich in den Keller in
einen Karzer ähnlichen Raum, in dem ich vierundfünfzig Tage ohne Paketempfang
saß. Die Zelle hatte eine Größe von 1,5 mal 2,5 Meter und war fensterlos. Am 55.
Tag ließ mich ein neuer Ermittler erscheinen; er verkündete mir, dass er meine
gesamte, unter den Nägeln brennende Wahrheit kennen würde und es mir keineswegs
gelingen würde, ihn so in die Irre zu führen und mich so zu verhalten, wie es
mit Makarenko der Fall gewesen wäre.
Nachdem ich aufgrund der Beschreibung davon überzeugt war, dass es sich bei ihm
um die Person handelte, die auch meine Kollegen verhört hatte, antwortete ich,
dass auch ich ihn kennen würde und sein Nachname Iwanow lautete, obwohl sein
Äußeres nicht sonderlich an einen Russen erinnerte.
Drei Tage lang verhörte er mich, um herauszubekommen, woher ich seinen Namen kannte. Um ihn schließlich loszuwerden, nannte ich den Hausverwalter – den allergrößten Denunzianten in unserem Haus. Nach ergebnislosen Befragungen, die sich über mehrere Monate hinzogen, kündigte Iwanow schließlich an, dass sie mich trotz allem nicht freilassen könnten, da meine Verhaftung als Mitarbeiter der Nomenklatur mit den vier höchsten Instanzen abgestimmt worden war. Damit wäre meine Schuld bewiesen und dass ich nun vor der Wahl stünde – entweder im Gefängnis zu verkümmern oder mit einem nicht so schwerwiegenden Paragraphen ins Lager zu gehen, um dort auf meinem beruflichen Spezial-gebiet zu arbeiten. Ich wählte die letzte Variante, und wir suchten gemeinsam leichtere Verbrechen aus. Zum Schluss waren dies: …“ermöglichte die Einnahme Moskaus durch die Deutschen, weil in Moskau Barrikaden errichtet worden waren; er lobte die deutsche Technik, wobei er in Betracht zog, dass der Deutsche bis Moskau vordringen würde; er äußerte seine Verwunderung darüber, dass das Informationsbüro unsere Rückeroberung der Stadt Rostow verkündete, jedoch vorsorglich nicht darüber informierte, dass wir sie vorsorglich aufgegeben hatten – worauf er den Angaben des Informationsbüros keinen Glauben mehr schenkte“. Da ich dementsprechend Gesprächspartner gehabt haben musste, schlug Iwanow mir vor, sie zu benennen, und ich gab ihm die Namen freier an der Front gefallene Männer. Zwei Monate später riefen sie mich erneut heraus und ließen mich unterschreiben, dass ich auf Beschluss eines Sonder-Kollegiums des NKWD der UdSSR wegen antisowjetischer Agitation zu 10 Jahren Freiheitsentzug in Lagern mit Sonder-Regime“ verurteilt worden wäre. Am folgenden Tag verlegten sie mich ins Butyrka-Gefängnis und brachten mich in einer Zelle für bereits Verurteilte unter – dem großen Raum einer ehemaligen Kirche, in dem bereits etwa 150 Mann eingesperrt waren – Politische, Kriminelle und Deserteure. Ich war körperlich bereits stark geschwächt, weil man mir die ganze letzte Zeit hindurch die Erlaubnis für den Empfang von Paketen verwehrt hatte. Am fünften Tag meines Aufenthalts ernannte mich der Aufseher zum verantwortlichen Diensthabenden der Zelle und teilte mir fünf Kriminelle als Gehilfen zu. Auf meinen an diese Fünf gerichteten Vorschlag, die Zelle sauberzumachen, reagierten sie nicht. Da nahm ich einen Lappen und fing an den Boden zu feudeln. Anstatt zu helfen machten sie sich nun daran, den Dreck zu zertreten… Das war der Augenblick meiner schlimmsten, besonders erniedrigenden seelischen Demütigung. Plötzlich wurde das Fenster in der Zelle geöffnet und ein Mann in weißem Kittel, der mich beim Nachnamen rief, übergab mir ein herrliches Paket von meiner Schwester und den Nichten. Da geschah etwas, das ausdrücklich vom psychologischen Standüu8nkt aus interessant war: Die mit mir „Dienst tuenden“ Kriminellen ergriffen Lappen und Bürsten und begannen eifrig den Boden zu scheuern, während andere Geschirr herbei holten, um die Lebensmittel hinein zu legen. Von diesem Moment an stieg meine Autorität in der Zelle jäh an. Ich verbrachte zwei Monate in dieser Zelle, und während dieser Zeit begegnete ich dort sehr interessanten Menschen: dem angesehenen Professor für Hydrotechnik - Risenkampf sowie dem Professor an der Militär- und Chemie-Akademie – Wosnessenskij. Der Erste betrat die Zelle mit einer kleinen Tasche, wobei er vor lauter Schwäche taumelte. Risenkampf hob sich von seinem Umfeld durch das wohlgeratene Äußere eines römischen Patriziers ab. Einer der Alltagskriminellen, der die schönen Stiefel an ihm bemerkte, schlug vor, sie gegen eine „%Ration“ Brot einzutauschen, womit der halb verhungerte Risenkampf gern einverstanden war. Als ich diese empörende Tauschaktion sah, schlug ich diesem „Alltags“-Ga7uner ins Gesicht, gab Risenkampf die Stiefel zurück, ließ ihn neben mir sitzen und gab ihm von den Sachen aus meinem Paket zu essen. Als Risenkampf ein wenig zu sich gekommen war, hielt er in der Zelle derart interessante Vorlesungen über Probleme der vaterländischen Hydrotechnik, dass alle Gefangenen, sogar die Kr8iminellen, ihm mit großer Aufmerksamkeit lauschten. Später, nachdem man ihn in ein Lager verschleppt hatte, starb er an völliger Entkräftung.
Professor Wosnessenskij, mit dem ich zum ersten Mal im Badehaus sprach, litt an Pellagra und war ebenfalls sehr geschwächt. Wer trat zu mir heran und meinte, er könne sich aufgrund meiner sportlichen Figur daran erinnern, dass er mir schon einmal auf der Datscha des Volksschauspielers Petrow begegnet sei. Jetzt wa5r er aus nicht bekannten Gründen mit einer Etappe aus dem Lager Workuta gekommen. Ich verschaffte ihm ebenfalls einen Platz neben mir und übernahm seine Patenschaft. Ein paar Tage später brachten Wosnessenskijs Schüler, die erfahren hatten, dass er sich in Moskau befand, ein feines Paket für ihn. Der Ataman der Kriminellen (in jeder Zelle hatten sie ihren Ataman) verlangte von Wosnessenskij die Hälfte des Inhalts; da ich schon wieder in wenig zu Kräften gekommen war, verbot ich das und sagte, dass der Professor den anderen nach seinem eigenen Ermessen etwas abgeben würde. In der folgenden Nacht versucht jedoch einer der Kriminellen das Paket zu entwenden. Ich schnappte und verprügelte ihn und erkämpfte mir dadurch Autorität innerhalb der Zelle – die Willkür der Kriminellen hörte auf.
Den Wendepunkt brachte für mich ein Fall mit, als der verantwortliche Gefängnis-Diensthabende Interessierten vorschlug, bei der Einlagerung von Brennholz im Gefängnishof mitzumachen. Professor Wosnessenskij und ich gaben gern unsere Einwilligung, ein wenig an der frischen Luft zu arbeiten; mit unglaublichem Enthusiasmus transportierten wir riesige Holzstöße mit Brennhol7z und lagerten sie ein und hielten das für ein großes Glück. Dafür verlegten sie uns mit einigen anderen in eine kleinere Zelle und stopften uns bis zum Platzen mit Gefängnis-Essen voll.
Bald darauf rief man mich zur Gefängnisleitung und bot mir an, in meinem beruflichen Fachbereich, auf dem Bau, in der Gefängnis-Verwaltung außerhalb der Stadt zu arbeiten. Ich willigte ein, und dann brachte man mich unter Wachbegleitung zum Bauprojekt für eine Hilfswirtschaft und ein Objekt des NKWD mit militärischer Bestimmung. Dort statteten sie mich mit einem deutschen Generalsuniformmantel aus, mit aufgenähter Nummer am Ärmel, und teilte mir einen Sergeanten als Begleitwache zu. Am dritten Tag meines Aufenthalts schlug man mir vor, an der Spitze von sechs Soldaten und in Begleitung meines Wachmanns in den Wald zu fahren, um dort Holz auszuwählen und für dessen Bereitstellung zu sorgen. Damit ich entsprechenden Kerben in die Bäume schlagen konnte, die zum Fällen bestimmt waren, händigte man mit eine Axt aus. Nachdem die Bäume abgeholzt, das Holz aufgeladen und das erste Fahrzeug mit den Soldaten abgefahren waren, blieb ich mit dem Wachmann unter vier Augen im Wald zurück. Es war Anfang Juni – der Wald duftete, die Nachtigallen sangen, und nach meinem einjährigen Gefängnisaufenthalt kam mir alles wie das Paradies vor…
Norilsker „Memorial“, Ausgabe 5-6, Oktober 2010
Ausgabe des Museums zur Geschichte der Erschließung und Entwicklung des
Norilsker Industriegebiets und der Norilsker „Memorial“-Gesellschaft