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Norilsker „Memorial“, Ausgabe 5-6, Oktober 2010

Michail Imanali. “Gesalzene” Liebe

Michail Jurewitsch Imanali – Häftling der 11. Straflager-Abteilung des Norillag von 1946 bis 1954.

Es gab eine Zeit, als die gefangenen Männer und Frauen gemeinsam arbeiteten. Natürlich war ich kein Asket; ich war knapp über 20, und inmitten der gefangenen Frauen tauchte vor mir ein Mädchen auf. Wirklich ein Mädchen – sowohl vom Aussehen, als auch vom Alter. Sie teilte ihre Jugend mit den anderen, die in ihrer Brigade arbeiteten. Und sie wurde mein Mädchen, sie war durch das Lagerleben noch nicht verdorben. Sie hieß Jelena, aber wegen ihres Äußeren nannte man sie Lalja.

Bei Beendigung des Baus der Förderbrücken-Anlage arbeitete ich bei Rudminskij (Lew Issajewitsch Rudminskij, ehemaliger Tschekist, ehemaliger Leiter der Verwaltung für Straßen- und Wege der UdSSR, ehemaliger Leiter der Wjasemsker Lager, 1938 politisch verfolgt, Haftstrafe 15 Jahre; wie viele andere Opfer des Jahres 1938 war auch er nach diversen Punkten des § 58 verurteilt worden). Er war nun Chef des 4. Straßenabschnitts und hatte mich zu sich geholt; das war seine Bezahlung dafür, dass ich ihn, als er beim Ober-Ingenieur des Kombinats Swerjew in Ungnade gefallen und in die Strafbrigade von Gennadij Serikow geraten war, im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet hatte, und nun wollte er mir seine Schulden zurückzahlen. Sie entfernten die Frauen, indem sie sie von den Männern trennten. Aber dank der guten Beziehungen, über die Lew Issajewitsch Rudminskij verfügte, konnte ich meine Lalja häufig treffen. Aber ich bin Häftling. Ich konnte nicht über mich selbst verfügen, über mich und mein Schicksal verfügte der Herr Lagerleiter. Sie holten mich in die Lagerzone auf den Posten eines Gebäude-Aufsehers. Ich war verantwortlich für den Zustand des Wohnraum-Bestands in unsere Lagerzone sowie den Aufbau einer Wach-Division.

Die Arbeit ist interessant, sie füllt mich vollständig aus. Angefangen habe ich mit er Erstellung eines Kostenplans für die Renovierung der Wohn- und Verwaltungsbereiche in der Lagerzone und bei der Division. Ich bin häufig zur Division gegangen, natürlich mit einem Begleiter; das gab mir die Möglichkeit, gegen Geld mit meiner Leidenschaft zusammen zu treffen. Ich habe an Finanzierungsplänen gearbeitet, und das ist eine umfangreiche und unerlässliche Aufgabe. Und in dieser Zeit haben sie mir die Aufgabe erteilt, ein Projekt für einen Strafisolator zu entwerfen. Die Aufgabe musste erledigt werden. Ich blätterte eine Menge Literatur durch. Welcher Art dieser Bau sein sollte, wenn man von den Gegebenheiten eines Pfahlbaus unter den Bedingungen des ewigen Frosts ausgeht, welche Flächennormen für die Haltung eines einzelnen Häftlings und die Wachen eingehalten werden mussten – all das musste ich auf jeden Fall in Erfahrung bringen. Ich richtete Anfragen an die Bau-Verwaltung. Schließlich hatte ich das Projekt fertig, und es wurde bestätigt.

Das Skelett des Isoliergefängnisses war aus Betonschlacke, das verschaffte die Möglichkeit des Wärme-Erhalts im Gebäude während der polaren Winter. Aber als man sich nach Beendigung des 1. Bau-Abschnitts an die Errichtung des Skeletts machen sollten, wurde ich zum Lagerleiter, Oberst Katschereschkin, bestellt. Auf seinem Tisch lag der Bauplan des Strafisolators. Er blätterte ihn durch. Dann stellte er mir die Frage: „Wie soll die Betonschlacke zusammengesetzt sein?“ Ich erklärte ihm die Zusammensetzung der Komponenten im Beton. Er fragte weiter: „Wieviel Salz wird dem Beton denn hinzugefügt?“. Vor Verwunderung begriff ich nicht sofort, dass die Frage sollte. Denn Salz verleiht den Wänden ständige Feuchtigkeit, und dieses feuchte Milieu wirkt sich ganz fatal auf die dort einsitzenden Sträflinge aus Es bedeutet einen langsamen Tod, es bedeutet Tuberkulose. Und ich gab ihm zur Antwort, dass der Beton kein Salz enthalten dürfe. Katschereschkin gab in Form eines Befehls das Kommando, auf jeden Fall Salz beizumengen. Und ich erwiderte, dass ich dies nicht tun würde. Und damit entfernte ich mich aus dem Kabinett des Leiters.

Ein paar Tage später führte der Chef der Verwaltungs- und Wirtschaftsabteilung) den bekannten Letten Lew Karklinscha zu mir und sagte, ich solle ihm die ganze Angelegenheit übergeben. Dafür seien zwei Tage vorgesehen; danach würde man mir eine Zimmermannsbrigade zuteilen, die an der Aufbereitungsanlage arbeitete.

Ich bin ein Unfreier, kann mir meine Arbeit nicht aussuchen, man zwingt sie mir auf. Doch jeder Nachteil hat auch seinen Vorteil. Hinter dem mit Stacheldraht versehenen Lattenzaun der Arbeitszone arbeiteten Frauen-Brigaden, und dort befand sich auch meine Lalja. Ja, und damals dachte ich, dass das mein Schicksal sei, weil ich sie liebte – die zukünftige Mutter meines Kindes. Es gelang mir, wenn auch nicht oft, Lalja zu treffen. Und bei einer dieser Begegnungen erwischten mich unsere Aufseher aus der operativen Abteilung.

Sie brachten mich in die Lagerzone und steckten mich in den Isolator, mit dessen Bau ich begonnen hatte. Tatsächlich, die Wände weinen, es gibt keine Ventilation. Es herrscht eine stickig-muffige Luft; um die Tür zu schließen, musste man die Essensklappe öffnen.

Unverzüglich verkündete ich den Hungerstreik. Auch Lalja wurde in ihrer Zone ins Isolationsgefängnis gesteckt. Sie kündigte ebenfalls den Hungerstreik an und verätzte sich zur Verstärkung ihres Protests die Augen mit chemischer Tinte.

Zu der Zeitbefand sich ein Vertreter der Staatsanwaltschaft der UdSSR, der Staatsberater der Justiz III. Klasse Wawilow, auf einem Inspektionsrundgang durch das Lager. Als erste Amtshandlung begab er sich in die Frauenzone, wo sich das unruhigste Häftlingskontingent aufhielt. Und dort sah er eine Frau mit dunkelblauen Augen. Er fing an nachzuforschen. Es stellte sich heraus, dass sie als Zeichen des Protests wegen meiner Unterbringung im Strafisolator einen unbefristeten Hungerstreik erklärt und zudem die Augen verätzt hatte. Man hatte sie eingeschüchtert und ihr mitgeteilt, dass man sie wegen Selbstverstümmelung nach dem § 58-14 bestrafen würde, und da hatte sie ganz einfach aufgehört, überhaupt noch ein Wort zu reden.

Aber Wawilow brachte sie wieder zum Sprechen. Er fragte sie näher nach ihrer Vergangenheit und ihrem gegenwärtigen Leben aus. Er gab sein Wort, dass man mich aus dem Isolator frei ließ, allerdings sollte sie unverzüglich ihren Hungerstreik beenden, was sie auch tat. Offenbar war er daran interessiert, den Typen zu sehen, welcher den Anlass dazu gab, dass die Frau sich dermaßen verstümmelt hatte. Schließlich kam er unsere 11. Lager-Abteilung und verlangte nach mir.

Die Lager-Leitung war in helle Aufregung versetzt; dort wusste niemand, warum ein so hoch gestellter Beamte nach mir verlangte. Man brachte mich zum Gespräch in das Kabinett de Chefs Katschereschkin, in das mir bereits bekannte Amtszimmer. Man warnte mich vor, dass mich dort ein wichtiger Vorgesetzter empfangen würde.

Als sie mich in die Amtsstube führten, sah ich einen General vor mir; ich verlor nicht den Kopf, sondern machte meine Meldung: „Strafgefangener K-465 Imanali – hergebracht auf Ihre Anweisung“. Der General bot mir an mich zu setzen. Ich setzte mich, aber ich bemerkte das boshafte Gesicht Katchereschkins. Und dann begann unser Dialog. Der General bat mich, alles genau zu erzählen. Ich ließ dabei unerwähnt, dass einer der Gründe für meine Verbringung in den Isolator die Weigerung gewesen war, Salz unter den Beton zu mischen. Er begann die Ergebnisse seines Gesprächs mit Lalja zu erzählen. Er riet mir, die Finger von diesem unmoralischen, ungehorsamen Individuum zu lassen. Ich widersprach, sagte ihm, dass sie die zukünftige Mutter meines Kindes wäre. Daraufhin meinte er: „Sie braucht das Kind nur für eine vorzeitige Entlassung“. Anschließend erteilte er die Anordnung, mich aus dem Strafisolator zu entlassen.

Später erwiesen sich seine Worte als wahr. Lalka, die früher als ich entlassen wurde, brachte den Sohn zu meinen Eltern, fuhr fort und verschwand. Bis zum 16. Lebensjahr wuchs mein Sohn bei meinen Eltern auf, danach kam er in unsere einmütig miteinander lebende Familie. Walera absolvierte das Bergbau-Technikum mit Auszeichnung. Er bekleidete verschiedene leitende Posten; heute bezieht er seine Altersrente, ist Vater zweier hübscher Töchter und Großvater zweier Enkel.

Rostow-am-Don

Norilsker „Memorial“, Ausgabe 5-6, Oktober 2010

Ausgabe des Museums der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets und der Norilsker „Memorial“-Gesellschaft


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