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Alexander Spiridonowitsch Nowikow . Erinnerungen

Alexander Spiridonowitsch Nowikow wurde am 3. Februar 1914 in der Stadt Brjansk, Fokinsker Kreis, Station Brjansk II, als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren: der Vater arbeitete gelegentlich in der Werkstatt des Hauswirtes, die Mutter war nicht berufstätig.

1914 wurde der Vater als Soldat einberufen. An den Masurischen Seen geriet er in deutsche Gefangenschaft. Die Mutter mit ihren minderjährigen Kindern (meine Schwester und ich) war Soldatenfrau. Aus der Gefangenschaft kehrte der Vater 1918 zurück. Danach arbeitete er als Wärter in der Konsumgenossenschaft. Die Mutter war Hausfrau, später Einsalzerin am Gemüse-Versorgungspunkt. Vater und Mutter hatten insgesamt 8 Kinder: 4 Mädchen und 4 Jungs. Zwei der Mädchen starben, als sie noch minderjährig waren.

Ich ging zur Schule, beendete 8 Klassen mit der Fachrichtung Chemie. 1930 fing ich an zu arbeiten, nachdem ich mich für zwei Jahre älter ausgegeben hatte als ich tatsächlich war - als Arbeiter in der Fabrik „Rote Gewerkschaftsinternationale“ in der Stadt Brjansk, Beschitzker Kreis (*). Ich arbeitete als Metalldreher in der 4. Lohngruppe in der Werkshalle Nr. 33. Wir stellten Projektile, Lafetten-Radnarben, Muffen für Ölleitungen der Firma „Embaneft“ und andere Erzeugnisse her.

1932 beendete ich die Abendkurse an der Arbeiterfakultät des Moskauer Instituts für Ingenieure im Transportwesen und trat ins Beschetzker Institut für Maschinenbau und Transportwesen ein, welches ich 1937 auf dem Spezialgebiet Ingenieur-Mechaniker für Waggonbau abschloß. Nach dem Institut arbeitete ich als Konstrukteur in der Fabrik „Rote Gewerkschaftsinternationale“ im Konstruktionsbüro für Eisenbahnwaggons, später im Sonderbüro Nr. 1 (dort wurden gepanzerte Eisenbahn-Plattformen entworfen).

1938 ging ich zur Armee, nachdem ich auf meine Sonderrechte verzichtet hatte. Ich diente zunächst in der Stadt Starij Peterhof in einem selbständigen Panzer-Übungsbataillon, 1. Kompanie, 6. Zug, als Jahreskurs-Teilnehmer. Als 1939-40 der Russisch-Finnische Krieg begann, wurde ich zum Leiter der Bataillons-Artillerie-Werkstatt ernannt. In diesem Amt blieb ich den ganzen Krieg hindurch. 1940 nahm ich bei der Angliederung Estlands an die UdSSR teil. Bei den Kämpfen erlitt ich Quetschungen. 1939, an der Front, wurde ich in die WKP/B (Allrussische Kommunistische Partei der Bolschewiken; Anmerkung der Übersetzerin) aufgenommen. Im Kommunistischen Jugendverband war ich ab 1930 bis zum Eintritt in die Partei. Wegen Erkrankung, die durch die Quetschungen entstanden war, wurde ich aus der Armee demobilisiert. Jetzt bin ich aufgrund meiner schlechten Seh- und Hörkraft Invalide 2. Grades des Vaterländischen Krieges.

Nach der Freistellung aus der Armee arbeitete ich im Kirow-Werk (Nr. 13) in Brjansk als leitender Technologe der Werkshalle Nr. 17, in der Abteilung für Haupttechnologie. Mitsamt der Fabrik wurde ich in den Ural evakuiert, in die Stadt Ust-Kataw, in die ehemalige Waggon-Fabrik. Dort im Ural stellten wir Kanonen, Fliegerabwehr-Vorrichtungen, Einzelteile für die „Katjusch“-Raketenwerfer und andere Waffen-Erzeugnisse her.

 ALLES IST SO GEWESEN

Am 25.02.1944 wurde ich aus der Kirow-Fabrik (Nr. 13) nach Stalingrad abkommandiert, zur „Barrikaden“-Fabrik Nr. 221, wo ich als Haupt-Technologe in der Werkshalle Nr. 3 tätig war. Gleichzeitig war ich Stellvertreter des Parteisekretärs der Werksabteilung.

Am 30.11.1944 wurde ich wegen § 47 „D“ des Arbeitsgesetzes entlassen, verhaftet und am 9. April 1945 vom Truppen-Tribunal des NKWD der Region Stalingrad gemäß §§ 58-10, Absatz 2, und 58-14 des Strafgesetzbuches der UdSSR zu 10 Jahren Freiheitsentzug mit Strafverbüßung in einem Besserungsarbeitslager, anschließender Aberkennung der politischen Rechte für einen Zeitraum von 5 Jahren sowie Konfiszierung des Besitzes verurteilt. Der Beginn der Haftstrafe wurde auf den 13. Februar 1945 festgelegt.

Anfangs hatte das Tribunal das Urteil: „... Höchststrafe – Tod durch Erschießen...“ gefällt.

Aber unter Berücksichtigung meiner sozialen Herkunft (Arbeiter, aus einer Arbeiterfamilie stammend), der Tatsache, daß dies meine erste Vorstrafe war, und meines „aufrichtigen Schuldbekenntnisses“ (meine Erklärung vor dem Gericht: „Wenn Lenin am Leben wäre, dann wäre alles ganz anders!“), wandelte das Gericht den Schuldspruch in 10 Jahre Freiheitsentzug um.

8 Jahre war ich inhaftiert, bis zum 23.03.1953,, und wurde dann frühzeitig entlassen (für einen tatsächlichen Arbeitstag waren mir drei angerechnet worden). Zuerst befand ich mich in der Besserungsarbeitskolonie Nr. 1 in der Stadt Stalingrad, wo ich als Ingenieur arbeitete. Anschließend, aufgrund meines Antrags, schickten sie mich 1949 auf Etappe nach Krasnojarsk, ins OTB-1 (Sonder-Technologie-Büro Nr. 1;Anmerkung der Übersetzerin).

Dort war ich als Projektierer in der elektromechanischen Abteilung tätig. Der Leiter der Abteilung war Martschuk. Aus dem OTB-1 kam ich 1952 mit einem Häftlingstansport nach Tuwa – zur Mine Ak-Dowurak; dort war ich Arbeiter.

Nach der Freilassung im Jahre 1953 arbeitete ich als Ingenieur für Wärmetechnik in eben jenem Bergwerk Ak-Dowurak, aber nach der Stillegung der Mine wurde ich am 04.02.1954 zur Bergbauindustrie-Verwaltung „Jenissejstroj“ MMP (Ministerium für Metallurgie; Anmerkung der Übersetzerin) der UdSSR abkommandiert. Ich arbeitete als Igenieur und Konstrukteur des Transportkontors beim Sora-Bergwerk in der Autonomen Republik Chakassien. Aber am 15.07.1955 wurde mir, weil ich nicht zur Abstimmung gegangen war, gekündigt – mit der Begründung: „... wegen Stellenplan-Kürzung“. Erneut begannen meine Qualen als „Volksfeind“. Im Paß war vermerkt: „Entzug des Stimmrechtes“. Nirgends wollte man mich in ein Arbeitsverhältnis einstellen.

Irgendwie gelang es mir im SMP-237 (Bau-und Montagezug) der Abakaner Straßen- und Wegebau-Verwaltung einen Posten als Streckenmechaniker zu bekommen. Aber aufgrund der Willkür von Seiten des Leiters des SMP, Mironow, dem ehemaligen Leiter der Polit-Abteilung, mußte ich auch diese Arbeit aufgeben. Ich war arbeitslos. Meine Frau und ich lebten in dem Dorf Sosnowka, neben der Station Krasnaja Sopka, und litten Not. Ein Nachbar half uns – der Kolchosbauer Nosenko.

Dann hörte ich zufällig vom Bauprojekt des Nasarowsker Wärmekraftwerks und fuhr nach Nasarowo. Ich fand dort Arbeit als Leiter der Mechanik-Werkstatt. Am 28.01.1957 verließ ich das Nasarowsker Wärmekraftwerk wieder und begab mich nach Tuwa, nach Kysyl, wo ich als Ingenieur für Energie-Wissenschaft in der Tuwinsker Regional-Kommunal-Wirtschaft arbeitete, anschließend als Leiter der elektrotechnischen Abteilung des Staatlichen Regional-Planungswesens. Am 16. Februar 1962 wurde ich rehabilitiert, jedoch nicht vollständig: in der Partei bekam ich meine Rechte nicht zurück. Und erst nach 26 Jahren, am 26.01.1989, wurde ich vom Büro des Fergansker Stadt-Komitees der Partei rückwirkend wieder in die Reihen der KPdSU ab November 1939 aufgenommen.

Jetzt bin ich Invalide 2. Klasse des Vaterländischen Krieges, wegen meiner schlechten Hör- und Seh-Fähigkeit.

Ich besitze folgende Auszeichnungen: den Vaterländischen Kriegsorden 1. Klasse, zwei Jubiläumsmedaillen „40 Jahre Sieg im Vaterländischen Krieg 1941-1945“ und „70 Jahre Streitkräfte der UdSSR“.

WIE ICH VERLEUMDET WURDE

Zu uns wurde der Leiter der Abteilung für Standardisierung, der Jude Unkeles, geschickt. Zuerst wurde ich ihm unterstellt. Er tat überhaupt nichts Konkretes und zeigte keinerlei Verantwortung. 1944 wurden in der Armee Schulterstücke und Offiziersbezeichnungen eingeführt, und es wurden entsprechende Unterscheidungsmerkmale verlangt. Unkeles fuhr häufig geschäftlich nach Moskau. Dort kaufte er Schulterstücke und Abzeichen, die er dann in Stalingrad auf dem Zentralmarkt verkaufte.

Darüber schrieb ich eine Notiz für die Wandzeitung: „Die weite Fahrt und das Abenteuer des Unkeles“. Und damit fing alles an.

Es gab eine Bestellung seitens der Direktion: zehn Vorrichtungen und Werkzeuge, die dringend angefertigt werden mußten. Ich hatte für alle Vorrichtungen und Instrumente eine gute Technologie ausgearbeitet, nach der diese auch hergestellt wurden. Aber für eine der Vorrichtungen besaß ich keine technische Zeichnung. Nach einigen Tagen kommt Unkeles, händigt dem Werkstattleiter Tsikin die Zeichnung aus und sagt: „Die habe ich auf Nowikows Tisch gefunden, er hat die Ausführung des Auftrags hinausgezögert“.

Wir arbeiteten alle in einem Raum: ich, der Technologe Budilow und der Werkstattleiter Tsikin, der Leiter Werkzeugabteilung der Fabrik Stepanow, seine Sekretärin, eine Frau, welche die Kontrolltafeln überwachte, und ein Normsachbearbeiter.

Bei den Tischen handelte es sich um Küchentische ohne Schubladen. Zeichnungen lagen auf dem Tisch. Und genau das hatte sich Unkeles auch zunutze gemacht. Zunächst entwendete er die Zeichnung, dann brachte er sie wieder und beschuldigte mich, die Bestellung zurückgehalten zu haben. In dieser Bestellung war auch die Herstellung von 12 Gewinde-schneidköpfen enthalten, mit denen man Gewinde in die Innenrohre von Gewehrläufen schneiden konnte. Ich hatte eine hervorragende Technologie entwickelt. Nach dieser wurden die Gewindeköpfe produziert. Aber bei der Anfertigung wärmte sich der Fräser, der in der zweiten Schicht die Fugen hineinfräste, ein wenig am Heizkörper auf und nickte dabei ein. Die Werkbank arbeitete automatisch weiter. Die Fräse wurde stumpf, der Werktisch begann zu zittern. Der Arbeiter, schlaftrunken wie er war, verlor den Kopf und hielt, anstatt die Fräse aus der Fuge zu entfernen, die ganze Werkbank an. Die Fräse verkantete sich. Als er sie hochnehmen wollte, zerbrach sie. Ohne mir etwas zu sagen, befahl Meister Petrow (der auch der Parteisekretär der Werkshalle war) die Fräse vollständig mit einem Meißel herauszuschlagen,die Fuge zu verschweißen und dann noch einmal auszufräsen. So wurde es auch gemacht, aber das hielten sie vor mir geheim. Wegen Zurückhaltens der Bestellung wurde gegen mich ein Verfahren eingeleitet.

Der Technologe Budilow fuhr in die Kreisstadt und verausgabte öffentliche Gelder. Er wurde nicht verurteilt: das Ministerium für Innere Angelegenheiten stellte ihn unter seinen Schutz, und er begann dafür als Denunziant tätig zu werden. Budilow, Petrow und Unkeles sagten gegen mich aus und gaben an, daß sie gearbeitet hätten und ich sie mit allen Mitteln bei der Ausführung des Auftrags gestört hätte. Eine Gegenüberstellung mit diesen „Zeugen“ fand nicht statt, alle ihre offiziellen Erklärungen galten als „reine Wahrheit“.

Außerdem fanden sie bei mir noch einen Auszug aus dem Buch eines französischen Schriftstellers: „Hitler über Europa“. Der Untersuchungsrichter hielt es für das von Hitler verfaßte Buch „Mein Kampf“ und zog daraus die Schlußfolgerung: er besaß antisowjetische Niederschriften. Bei der Verhandlung sagte ich: wenn Lenin noch leben würde, dann wäre alles ganz anders.

So kam es, daß sie mich verurteilten und zum „Volksfeind“ machten. Zwei Paragraphen: 58-10 und 58-14, 10 Jahre Freiheitsentzug und 5 Jahre Verlust der politischen Rechte mit Konfiszierung des Besitzes. Das war also die Auszeichnung für mein heldenhaftes Verhalten im Vaterländischen Krieg.

Als sie mich ins innere Gefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit sperrten, nahmen sie mir alle Dokumente weg, darunter auch die Brotkarten. Und ich dachte: selbst wenn sie mich freilassen, dann habe ich doch nichts zu essen.

Während des Untersuchungsverfahrens bekam ich ausschließlich schlechtes Essen. Balanda

(Wassersuppe; Anmerkung der Übersetzerin) aus Magary (eine Art Hirsegraupen) und grüne Kartoffeln sowie 400 gr Brot. Während des Untersuchungsverfahrens bekam ich Skorbut und fing an abzumagern, bis ich nur noch Haut und Knochen war.Schlagen taten sie mich nicht. Sie quälten mich, indem sie mich hungern und nachts nicht schlafen ließen. In den Nächten wurde ich zu Verhören hinausgerufen, wo sie mich mit dem Gesicht zur Wand stellten und mich so die ganze Nacht dort stehen ließen, und tagsüber ließ mich der Aufseher nicht in der Zelle schlafen. Kaum bin ich eingedöst, da bemerkt es auch schon der Aufseher durch das Guckloch, öffnet die Zellentür und weckt mich wieder.

Nach solchen Foltern wollte ich nur noch eines – das das alles bald aufhörte. An Verteidigung und Freispruch war nicht im entferntesten zu denken, es war ganz unmöglich.

Nach der Verhandlung brachten sie mich ins Stalingrader Gefängnis. Hier kamen wir, die Politischen, alle in eine Zelle. Wir lagen auf dem Fußboden wie Heringe in einem Faß. Auf Befehl des Zellenältesten drehten sich alle auf die andere Seite. Gesunde und Tuberkulose-kranke – alle befanden sich in derselben Zelle. Aufgrund der vielen Wanzen fanden wir keine Möglichkeit in den Schlaf zu kommen. Die ganze Nacht war man mit den Fingern dabei, sie von seinem Körper abzusammeln.

Dann wurde ich aus dem Gefängnis in die ITK (Besserungsarbeitskolonie; Anmerkung der Übersetzerin) verlegt, in den Bezirk, wo das Traktorenwerk ansässig war. Hier wurden wir zur Arbeit geführt: Waggons mit Bauschutt und Lastkähne mit Salz entladen, einen Karzer bauen und ähnliches mehr. Eines Tages holte der Leiter der Besserungsarbeitskolonie Nr. 1, Leutnant Lewtschenko, mich zu sich. Er war in die Kolonie gekommen, um qualifizierte Häftlinge für die ITK Nr. 1 auszuwählen. Und auch mich nahm er als Ingenieur.

In der ITK Nr. 1, neben dem Gefängnis, arbeitete ich also als Ingenieur und führte dort alle anfallenden Ingenieur-Arbeiten aus: ich befaßte mich mit der Projektierung, entwarf Zeichnungen und Schablonen, Säge-Werkzeuge für die Tischler-Werkstatt, usw. Auf Initiative von Oberst Kotow wurden wir auf zehn Leute verteilt und kamen in einem separat eingerichteten Wohnheim in der Wohnzone unter. Die Verpflegung wurde besser. Unter uns waren Ingenieure, Werkshallen-Leiter, Buchhalter, Personal-Chauffeure. Durch uns stieg die Produktion der Kolonie, die bislang 75 Tausend Rubel hervorgebracht hatte, nun auf 1,5 Millionen Rubel an. Wir stellten Eisenwaren, Spaten, Betten, Möbel und viele andere Erzeugnisse her. So produzierten wir z.B. auch Türen für das Stalin-Museum in Stalingrad.

„Volksfeinde“ wurden nicht in die Stadt gebracht. Die im freien Arbeitsverhältnis stehenden Personen verhielten sich gegenüber den Häftlingen mehr oder weniger gut – aus dem einfachen Grund, weil viele in der Vergangenheit selber Gefangene gewesen waren. Aber es gab auch sehr gefährliche unter ihnen, z. B. Sarafanow – der Leiter der KWTsch (Kultur- und Erziehungsabteilung) und Gordejenko (junior) – Leiter der OTK (Abteilung für technische Kontrollen; Anmerkung der Übersetzerin). Gordejenko (senior) war bis zum Ober-Ingenieur der ITK Nr. 1 „aufgestiegen“. Sie alle waren in der Regel Analphabeten oder konnten zumindest nur wenig lesen und schreiben – ungebildete Leute.

Trotz einer gewissen Nachsicht führten die Gefangenen in der Kolonie ein schweres Leben. Die harte Arbeit und die schlechte Verpflegung taten ihr übriges. Viele wurden zu vollständigen Invaliden. Ich kann mich noch an einige von ihnen erinnern: einen Schmied, der von der schweren Arbeit in der Schmiede am Hochofen später körperliche Anomalien aufwies; einen gelernten Koch, der in der Tischlerwerkstatt an der Werkbank gestanden hatte, in die laufende Werkzeugmaschine geriet und sich die Hände verstümmelte. Zum Invaliden wurden auch der Leiter der Vernickelungswerkstatt Iwan Moscharowskij und viele, viele andere. Mir waren, weil ich gleich zwei Tätigkeiten nebeneinander ausübte, (faktische) Verpflichtungen eines Inspektors für technische Sicherheit auferlegt. Ich verfaßte Akten und Schriftstücke von Unfällen, von denen es ziemlich viele gab und schrieb Rechenschafts-berichte. Aber offiziell war für die Sicherheitstechnik der Hauptmechaniker Nikiforow verantwortlich; praktisch tat er jedoch gar nichts – er erhielt lediglich seinen Lohn. Und auf diese Weise arbeiteten alle, die in einem freien Arbeitsverhältnis standen. Sie waren alle Leiter irgendeiner Abteilung und bekamen ihren Lohn, aber die eigentliche Arbeit führten in Wirklichkeit die „Ersatzschauspieler“ aus – die Häftlinge.

Aus der ITK Nr. 1 wurden Leute für den Bau des Wolga-Don-Kanals eingestellt. Die, die den § 58-10 hatten, wurden nicht ausgewählt, und mich nahmen sie auch nicht. Und die Leitung hatte auch gar nicht die Absicht uns gehen zu lassen. Weshalb bemühten sich so viele darum, am Bau des Kanals mitzuwirken? Weil dort die Arbeitstage nach der Schwere der Arbeit für die Haftfrist in Anrechnung gebracht wurden – im Verhältnis 1:3.

1949 schrieb ich ein Gesuch an die GULag (Anmerkung der Übersetzerin: Haupt-Verwaltung der Lager) mit der Bitte, mich gemäß meiner Fachausbildung als Ingenieur und Mechaniker zu verwenden. Aufgrund meines Antrages schickte man mich mit einer Häftlingsetappe über Moskau und Kirow nach Krasnojarsk, ind OTB Nr. 1, welches damals noch in der Entstehung begriffen war. Es war ein „goldener Käfig“.

Im OTB Nr. 1 arbeitete ich als Projektplaner. Ich entwarf Bergwerke, Schachtanlagen, Fabriken. Außerdem nahmen wir chemische und andere Analysen von Erzen vor.

Im OTB Nr. 1 gab es eine Metallhütten-Anlage zur Verarbeitung von nicht konditioniertem Antimon, welches aus China eingeführt worden war. Über den Weg der Umschmelzung führte man das Antimon zur höchsten Marke, der sogenannten „Null-Marke“. Dies war ein sehr gefährlicher Produktionsbereich. In der Luft und in der Schlacke sonderte sich Arsen ab. Dort wurde mit Atemschutzmasken gearbeitet, und auch nur jeweils vier Stunden lang, aber trotzdem war bei den Arbeitern die Nasenscheidewand zerstört. An jenen Plätzen, wo nach einem Regenschauer Pfützen entstanden waren und wo Schlacke herumlag, wuchsen überhaupt keine Pflanzen. Die Abflußrohre über der Anlage verliefen in nur geringer Höhe.

Vom OTB Nr. 1 mußte ich wegen eines „Vergehens“ Abschied nehmen: ich hatte über Martschuk, den Leiter elektromechanischen Aabteilung eine Bemerkung in der Wandzeitung geschrieben. Ich kam mit einem Gefangenentransport ins Sorsker Lager, ins Autonome Gebiet Chakassien. In Sora gab es zwei Lager: eines mit besonderen Haftbedingungen, das andere mit einer gewöhnlichen Lagerordnung. Von dort kam ich mit einer Etappe ins Ulensker Lager nach Tuwa (auf Tuwinisch „ak dowurak“, was soviel wie „weißer Stein“ bedeutet). Im Dowuraksker Asbest-Bergwerk verbüßte ich meine Reststrafe als Arbeiter. Ich förderte Asbest und baute die Mine mit auf.

1953 wurde ich freigelassen. Als Wohnort wählte ich die Station Syr-Darinskaja bei Taschkent. Einer der Gefangen hatte mir das empfohlen: dort wohnen ehemalige Entkulakisierte, so daß es mir dort auch nicht schlecht gehen würde. Aber der Haupt-Mechaniker des Bergwerks, Tkatschenko, schlug mir vor, den Posten eines Ingenieurs für Wärmetechnik in der Bergwerksverwaltung zu besetzen. Ich hielt das für einen großen Erfolg und willigte ein.

Aber ich arbeitete dort weniger als ein Jahr: die Mine wurde stillgelegt und man kommandierte mich nach Sora ab. In Sora, als die Wahlen stattfanden, ging ich nicht hin, da man mir ja (laut Gerichtsurteil) das Stimmrecht entzogen hatte.

Danach kündigte man mir wegen angeblicher „Planstellen-Kürzungen“. Aber es gab überhaupt keine Stellen-Kürzungen. Ich machte mich auf, um beim Bergwerkskomitee Schutz zu suchen. Vertreter des Komitees wenden sich an die Kader-Abteilung, an deren Leiter Guljajew, und fragen ihn: „Weshalb haben sie dem technischen Leiter Nowikow gekündigt? Er arbeitet doch gut und wird gebraucht!“ – „Wir trauen ihm nicht“. – „Warum denn nicht?“ – „Nun, das ist unsere Sache!“

Und so begannen meine Qualen als „Volksfeind“. Mit dem Vermerk im Paß „Stimmrecht entzogen“ stellte mich niemand zur Arbeit ein.

Jetzt bin ich inzwischen vollständig rehabilitiert. Ich bin einen langen und schweren Weg gegangen, aber das hat mir nicht meinen Optimismus und mein Gefühl für menschliche Würde genommen. Für Gorbatschow und die von ihm durchgeführte Politik der Umgestaltung unserer Gesellschaft werde ich bis zu meinem Tode einstehen.

DIE ICH AUS DER STALINGRADER ITK NR. 1 NOCH IN ERINNERUNG HABE

1. Alexander Alexandrowitsch Belinskij, Hochschullehrer, Erfinder. Er wurde nach Moskau, ins Gefängnis Matrosskaja Tischina, überführt.

2. Jewgenij Wassiljewitsch Chitrow, Moskauer, Bau-Ingenieur.

3. Iwan Moscharowskij, Leiter des Vernickelungswerkes in der ITK Nr. 1. Die Schwerkrimi-nellen verspielten ihn beim Kartenspiel und verübten einen Anschlag auf ihn. Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus wurde er vorzeitig in die Freiheit entlassen; er blieb zeitlebens Invalide.

4. Wladimir Iwanowitsch Popow, Stalingrader, Schiffskapitän des Wolga-Flottenverbandes. In der ITL Nr. 1 arbeitete er als Konstrukteur und als persönlicher Chauffeur des Leiters der ITK Nr. 1, Leutnant Lewtschenko.

5. Nikolaj Nawraschkow (an den Vatersnamen kann ich mich nicht erinnern); er saß wegen § 58-1. Ein Mann, der als Ingenieur sehr viel Initiative bewies; in der ITK Nr. 1 war er der inoffizielle Leiter unserer Gruppe.

6. Tjurin, Mechaniker, gebürtig aus Kamyschin, saß wegen § 58-10. In der ITK Nr. 1 arbeitete er als Meister.

7. Andrej Wassiljewitsch Kitajew (sofern ich mich nicht irre), Bauarbeiter, saß aufgrund des „Gesetztes vom 7. August 1932“.

8. Nikolaj Filatow aus Filonowo, Ober-Leutnant. Saß wegen § 58-1.

9. Grigorenko. Nach welchem Paragraphen er verurteilt worden war, weiß ich nicht mehr. Er arbeitete als Leiter der Mechaniker-Werkstatt.

10. Onopa, Ukrainer. Man hatte ihn dafür eingesperrt, daß er Auros aus Beutegut repariert und sie an Kolchosen verkauft hatte. Auch er arbeitete als Leiter einer Mechaniker-Werkstatt.

11. Alexander Schagurin, Pilot. Er saß wegen § 58-1. Er arbeitete beim Haupt-Mechaniker Nikiforow.

12. Iwanow vom Don. An den Paragraphen kann ich mich nicht erinnern. Er arbeitete in der Planungsabteilung bei Bobkow (Bobkow war ebenfalls Häftling).

13. Miskin, Armenier; vor der Verhaftung war er stellvertretender Minister. Er saß wegen § 58-10.

14. Gleichzeitig war in der Kolonie auch der Bruder von jenem Nikolajew, der Kirow erschossen hat.

In der Kolonie gab es unheimlich viele Häftlinge. Es kam vor, daß beim Morgen- und Abendappell bis zu tausend Mann antraten.

DIE ICH AUS DEM KRASNOJARSKER OTB NR. 1 NOCH IN ERINNERUNG HABE

1. Leonid Petrowitsch Aschar

2. Demtschuk, Ober-Hüttenwerker in der Fabrik in Mariupol. Hervorragender Spezialist; leitete im OTB Nr. 1 die Verarbeitung von chinesischem Antimon. Ein Mensch voller Energie. Auf solche Männer wie Demtschuk baute das ganze OTB Nr. 1. Seine Haftstrafe betrug 25 Jahre.

3. Sassypkin. Wo und als was er vor der Verhaftung gearbeitet hat, weiß ich nicht. Er wurde schwer krank: er hatte „Steine“ in den Harnwegen. Seine Haftstrafe – ebenfalls 25 Jahre.

4. Borissow, Seemann. Fuhr noch zu Zeiten des Russisch-Japanischen Krieges zur See. 1921 nahm er am Kronstädter Aufstand teil. Dafür sperrte man ihn auch ein. Er war ein echter Patriot des Vaterlandes. Seine Schlafstelle befand sich über der meinen. Er starb im OTB Nr. 1 an einem Herzinfarkt.

5. Zejtlin, Kino-Ingenieur. Er konnte echte Zaubertricks zeigen.

6. Zinew, Bergbau-Ingenieur. Spezialist in seinem Fach.

7. Lewinsson, Künstler.

8. Worobjow, war vor seiner Verhaftung Leiter eines Konstruktionsbüros. Als was er im OTB Nr. 1 arbeitete, erinnere ich nicht. Das Gefängnisleben hat ihn schwer mitgenommen.

9. Sasonow, Doktor der Wissenschaften aus Orel. Ein Mensch, der seine Gedanken gut beisammen hatte, akkurat und nicht redselig. Wo er im OTB Nr. 1 gearbeitet hat, weiß ich nicht mehr.

10. Sitnitschenko.

11. Tschirkow.

12. Lasarewiskij, Moskauer, Doktor der Wissenschaften, Spezialist für Fischfang. Im 1. Weltkrieg war er Artillerie-Offizier, nach der Revolution arbeitete er als Landvermesser. Seine Haftstrafe betrug 7 (oder 5) Jahre. In Moskau blieben seine Frau und Kinder zurück. Im OTB Nr. 1 arbeitete er im Chemie-Labor.

13. Funder, Sowjet-Deutscher. Zu Beginn des Vaterländischen Krieges war er an der Front und geriet in der Nähe von Brjansk in Kriegsgefangenschaft. Bei den Faschisten saß er in verschiedenen Konzentrationslagern. Für die Deutschen arbeitete er nicht. Die Unseren befreiten ihn aus dem deutschen Lager und steckten ihn erneut ins Lager, aber diesmal in ein sowjetisches. So kam er also von einem Lager ins nächste.

14. Gennadij Pismennyj. War zusammen mit Funder bei den Deutschen in Gefangenschaft, und saß später, auch mit ihm, im OTB Nr. 1 (danach in Ak-Dowurak).

15. Winogradow, Leningrader, großartiger Spezialist für Holz-Bearbeitung. Arbeitete im OTB Nr. 1 als Chef-Ingenieur des Projektes. Unter seiner Leitung fertigte ich Zeichnungen für die Entwicklung des DOK (Holzverarbeitungskombinat) an. Er war noch vergleichsweise jung, besaß jedoch eine schwache Gesundheit.

16. Lutschinskij. Er arbeitete in der Allgemeinen Planungs- und Transport-Abteilung, wohnte im Nebenzimmer. Spezialist mit hoher Qualitfikation.

Die Familiennamen vieler Häftlinge, die nach § 58 verurteilt worden waren und in den beiden anderen Zimmern der zweiten Etage wohnten, erinnere ich nicht mehr. Die Aufseher bemühten sich uns abzusondern und übten uns gegenüber unermüdliche Bespitzelungen und Kontrollen aus. Deswegen trachteten die Gefangenen auch nicht danach, miteinander zu verkehren, waren auf der Hut und brachten sich keinerlei Vertrauen entgegen.

Es gab noch eine Filiale des OTB Nr. 1 in der Ortschaft Schilkinka (Suchobusimsker Kreis). Ich weiß im Augenblick nicht mehr, wer dort alles war.

Über die Filiale des OTB Nr. 1 in Ak-Dowurak weiß ich nur wenig. Dort arbeiteten ehemalige Häftlinge: mein Landsmann aus Brjansk-II, Iwan Kirillowitsch Sujew (er blieb nach der Freilassung dort), Bobkow, Gennadij Pismennyj und andere.

Im Ak-Dowuraksker Lager befanden sich auch noch die Häftlinge: Rodtschenko, Ustinow und der Haupt-Mechaniker Tkatschenko. Dort waren die Bachurows, die man aus der West-Ukraine verschleppt hatte.

Der Lagerleiter war Titowkin, der Leiter des Ministeriums fes Innern Alchimenko, der Leiter des bergwerks Karljukow. Der Chef-Geologe war Towkatsch, der Haupt-Energiewissen-schaftler Krawtschenko. Nossenko arbeitete als Leiter der Werkstatt, Golzew als Meister.

A.S. Nowikow, 20. März 1989


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