Aufzeichnungen eines Tschekisten
Es war ein klarer Morgen im Mai. Der Fluß Tom glänzte im strahlenden Sonnenschein. In der Stadt Tomsk blitzten und blinkten die Kuppeln der Kirchen, der bunten Dächer der Häuser und der weißbauchigen Dampfer, die an der Anlegestelle festgemacht hatten. Am Ufer stand eine Menschenmenge. Einige waren zum Abschied gekommen, andere zufällig stehenge-blieben. Die Leute brachen auf in weit entfernte, menschenleere und unwirtliche Gegenden.
Aus den Erzählungen der Alten hatten wir erfahren, daß vor der Revolution in solchen Fällen auf den Schiffen und Anlegern Gebete gesprochen worden waren. Die Verladung auf speziell ausgerüstete Lastkähne, die seitlich an einem kleinen Dampfer vertäut waren, war beendet. Um zehn Uhr morgens, vor der Aufstellung des Personalbestandes, wünschte I.I. Dolgich ihnen eine gute Reise sowie viel Erfolg und gab dann das Kommando zum Ablegen.
Nach dreimaligem kurzen Tuten der Schiffssirene setzte sich der Dampfer in Bewegung, dem Flußlauf des Tom folgend. Das Publikum am Ufer schwenkte noch lange zum Abschied seine Taschentücher - unbekannte Leute winkten den abfahrenden Tschekisten nach.
Auf Grundlage der erfolgreichen Durchführung einer umfassenden Kollektivierung waren die Klassenwiderstände auf dem Lande beseitigt worden: die Kulaken als Klasse wurden von der breiten arbeitenden Masse der Kolchos-Bauernschaft durch spezielle Zwangsumsiedlung in weit entfernte und völlig unbewohnte Regionen Sibiriens isoliert, in denen unzählige Natur-Resourcen noch nicht erschlossen waren. Die Kommunistische Partei und die sowjetische Regierung gaben den sich gegenüber der Sowjetmacht feindlich verhaltenden Kulaken die Möglichkeit, ihre Haltung zu überdenken, in dem sie in Genossenschaften und Gruppen ohne festgelegte Satzung aufrichtige Arbeit leisteten.
Ende 1930 wurde ich zur kommunistischen Universität der Stadt Nowosibirsk geschickt, und im April 1931 kamen 40 Studenten von ehemaligen Tschekisten mit einer soliden Partei-Mitgliedschaft in der Russischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken, auf Anordnung des Regionskomitees der Partei, zur Verfügung der Regionsverwaltung der OGPU, dorthin.
In dem geräumigen Kabinett empfing uns der stellvertretende Leiter der Gebietsverwaltung der OGPU – Iwan Iwanowitsch Dolgich. Auf den himbeerfarbenen Kragenspiegeln seines Militärhemdes glänzten drei Rhomben. Genosse Dolgich sagte, daß die Gebietsparteiorgani-sation gezwungen war, verantwortungsbewußte Arbeiter und Studenten für die Einrichtung und Führung neu gegründeter Organe der OGPU in den nördlichen, weit abgelegenen Gebieten abzuberufen. Das wäre nötig für die Unterbringung von Sonderzwangsumsiedlern, für die Erschließung unbewohnter Orte und die Umerziehung dieses Kontingents durch ehrbare Arbeit. Er sprach von bevorstehenden Schwierigkeiten , mahnte zu besonderer Wachsamkeit, da wir von tausenden von Klassenfeinden umgeben sein würden, von der Unabdingbarkeit entscheidend zu handeln, über Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußt-sein eines Kommunisten und Tschekisten. Anschließend erinnerte er noch einmal daran, daß Partei und Regierung uns zu unserer Disposition hunderttausende von Menschen anvertrauten, die sich der Sowjetmacht gegenüber feindlich verhalten hatten. Er bat darum, nicht die Einhaltung der revolutionnären Gesetzlichkeiten, die Verantwortung gegenüber allen Gesetzesübertretungen, amoralischen Lebensweisen und Verbindungen mit Sonderzwangs-umsiedlern oder Untätigkeiten zu vergessen.
Ich war zum stellvertretenden Kommandanten in der Nischne-Wasjugansker Kommandantur ernannt worden. Der Kommandant war L.I. Safonow, und dann gab es noch zwei weitere Helfer: Beresowskij und Berewkin. Die Mannschaft wurde vervollständigt durch Soldaten der unteren Dienstgrade aus demobilisierten Kriegsdienstlern sowie zwei Ärzten (einem Chirurgen und einem Therapeuten).
Wir wurden in Kajüten auf einem Passagierdampfer untergebracht. Die Lastkähne waren innen mit Schlafbänken ausgestattet; alle drei Kommandos wurden untergebracht: die Kommandanturen aus Werchnjaja-, Srednjaja- und Nischne-Wasjugansk. Oben an Deck lagerten unter einer Zeltplane Lebensmittel, Uniformen und Wirtschaftsgüter. Man kann sagen, daß wir luxuriös fuhren und uns an keinerlei Normen oder Rationierungen hielten. Wir fuhren auf dem Fluß Tom, anschließend auf dem Ob. Ein Wachdienst wurde eingeführt, man sang Lieder im Chor oder einzeln. Täglich verbrachten wir zwei Stunden mit Politaufgaben. Und ganz regelmäßig befaßten wir uns mit massenpolitischer Erziehungsarbeit an den gewöhnlichen Soldaten und Sergeanten.
Am zweiten Tag, gegen Abend, kamen wir in dem Kreis-Städtchen, heute die Stadt Kolpaschewo, an. Nach vierunzwanzig Stunden näherten wir uns der Ortschaft Parobel, die sich am Ufer des Ob befindet. In der Flußniederung, die während des Hochwassers immer unter Wasser stand und mit grünem, samtweichen Gras bedeckt war, an einem weitläufigen Gelände, machten wir fest. In unserer Gruppe gab es einen Bajanspieler. Wir setzten uns auf eine Wiese, dem Bajanisten wurden ein Platz auf einem Schemel zugewiesen und er begann zu spielen. Aus dem Dorf kamen Mädchen und Kinder herbeigelaufen; um den Bajanspieler scharte sich eine große Menge junger Leute, man fing an zu tanzen und Volkstänze aufzuführen. Lange vergnügten wir uns auf dem grünen Teppich, der von den Scheinwerfen des Dampfers erleuchtet war. Hier lernte unser Iwan Beresowskij ein junges, sympathisches Mädchen kennen, und nach einem Monat heirateten sie.
Am folgenden Tag kamen wir in Narym an. Das war die finsterste und von den zentralen Kreisen am weitesten abgelegene Siedlung. Ein Verbannungsort aus Zaren-Zeiten, wo bekannte Bolschewiken und Revolutionäre lange Jahre Qualen erleiden mußten.
Der letzte Siedlungspunkt, die Ortschaft Kargassok war inmitten von Taiga und Sümpfen gelegen. Einige Baracken, zwei zweigeschossige Holzhäuser, ein Laden, ein Kiosk und ungefähr zehn Privathäuser, die, wie es sich gerade traf, zwischen Baumstümpfen und Findlingen standen.
Ich will kurz von dem berühmten Ort Narym erzählen. Das Dorf liegt ungefähr dreihundert Meter vom Ob entfernt an seinem linken Ufer. In der Siedlung gibt es etwa hundert Häuser, alles alte Gebäude: kreuzförmige und fünfwandige Häuser aus dicken Lärchenstämmen, mit geschwärzten Wänden und Dächern, mit einfachen Fenstersimsen aus angenagelten Brettern und Fensterverkleidungen an den ungefüge wirkenden, kleinen Fenstern, hohe Lattenzäune und Brettertore mit dicken Säulen. Hier hatten vor der Revolution hauptsächlich Fisch- und Pelz-Industrielle gelebt, kleine Kaufleute und Händler.
Das Ufer von Kargassok war bewachsen mit dunklem, hartholzigem Zedern-, Edeltannen- und Fichtenwald. Gegenüber kräuseltee sich Weidengestrüpp, rauschten Pappeln, funkelte der ehemalige Flußlauf, grünten die Wiesen. Auf einer Ausdehnung von zweihundert Kilometern ließ sich am Fluß Wasjugan nicht eine einzige bewohnte Ortschaft finden. Nach drei Tagen und Nächten kamen wir in Ust-Tschischabka an, wo der Fluß in den Wasjugan mündete. Wir ließen uns nieder und begannen unser Lager aufzuschlagen, aber zwei der Kommandos fuhren auf dem Fluß noch weiter. Ust-Tschischabka war wenig anziehend: ein gleichmäßiges Gelände, das von den Wassern des Wasjugan und Tschischabka umspült wurde, das Ufer war kaum einen Meter höher.
Von der gegenüberliegenden Seite der Tschischabka umschließt ein dichtes Gebüsch die Lichtung; an dieser Stelle war das Wasser auf einen halben Kilometer über das Ufer getreten, und der gebogene Fluß Wasjugan stößt auf der gegenüberliegenen Seite an den Steilufer, wo irgendwann einmal das kreuzförmiges Haus von Parfischka Issajew mit seinen Hofgebäuden gestanden hatte. Das Haus war in Flammen aufgegangen, und die Überreste ähnelten von weitem dem Nest eines Königsadlers. Direkt an der Mündung, wo wir uns niedergelassen hatten, stand auf einem kleinen Hügel einsam und verlassen die Jurte des Chanten Juwan, gebaut aus dicken Baumstämmen, wobei drei Wände nicht mit Moos isoliert worden waren, die vierte war mit Tierfellen behängt. Oben war sie mit verschiedenartiger Baumrinde bedeckt, Wände und Decke waren mit Tierhäuten überzogen. In der Mitte, über der Feuerstelle – ein Dreifuß, Bettzeug aus Tierfellen. In harten Wintern leben die Chanten in solchen Jurten. Juwan war 60 Jahre alt, hatte einen Frau, einen Sohn, eine Tochter. In diesem Winter fror sich der Alte die Zehen des linken Fußes ab; ohne Behandlung schwoll der Fuß stark an. Unsere Ärzte, mein Landsmann aus Bogotol, Petropawlowskij – Therapeut, und seine Ehefrau Nina Wassiljewna – Chirurgin, bemerkten, daß Juwan stark lahmte und begannen sich für sein Leiden zu interessieren. Sie luden ihn ein, ins Zelt des Medpunktes zu kommen, aber er lehnte es kategorisch ab, sich behandeln zu lassen. Da zwangen die Ärzte ihn mit Hilfe zweier Soldaten gewaltsam zum Medpunkt. Juwan wehrte sich, schrie und biß, wie ein wildes Tier. Die Ärzte taten das Notwendige und umwickelten den Fuß ganz fest mit einem Verband, damit er ihn nicht zerreißen konnte. Zweimal brachten die Soldaten Juwan mit Gewalt dorthin, aber dann hatte er begriffen, daßder Schmerz sich zu legen begann, und da ging er selbst dorthin, bis er wieder gesund war.
An der Flußmündung richteten wir ein Lager ein, schlugen Zelte auf. Es war feucht, nasser Schnee fiel hernieder, rund um die Uhr liefen wir in halblangen Pelzmänteln herum. In den ersten Tagen beschäftigten wir ujns angestrengt mit der Organisation alltäglicher Dinge. Aus Balken, die wir selber heranzogen und –schleppten, bauten wir eine kleine Kate; für den Fußboden und die Decke zerhackten wir Bretter aus runden Balken. Diese Unterkunft war äußerst notwendig für die Wachen und zur Aufbewahrung wichtiger Gegenständige und Dokumente. Die Nächte hier waren kurz; es war nicht möglich ruhig zu schlafen. Entweder wirkte sich die Kälte störend aus, oder man bemerkte das Auftauchen von Unbekannten in Ust-Tschischabka, die zu zweit oder dritt auf Booten den Fluß befahren hatten. Später stellte sich heraus, daß es sich um die Überreste der zerschlagenen Solowjew-Bande gehandelt hatte, die sich in der Umgebung des Mernoje-Sees aufhielten. Man mußte zum Schutz des Lagers Wache schieben.
Uns stand nun bevor, weiterführend zu planen und Reviere ausfindig zu machen, die für die Unterbringung von Sonderzwangsumsiedlern geeignet waren, wobei berücksichtigt werden mußte, daß in einer zukünftigen Siedlung ungefähr einhundert Familien unterkommen sollten, die nach ihren Herkunftsgebieten zusammengestellt waren. Das hieß: in einer Siedlung – Menschen aus einem bestimmten Bezirk. Ebenso mußte infolgedessen geeigneter Boden für die Aussaat bestimmt werden. Unsere Kommandantur sollte für dreißigtausend Familien im Umkreis von 300 Kilometern Reviere einteilen. Für das schwierigste Revier, das sich auf einer Länge von 120 km am Fluß Tschischabka entlang zog, war ich zum Verantwortlichen ernannt worden. Wir organisierten drei Expeditionen: für den Oberlauf des Wasjugan trug Beresowskij die Verantwortung, für den Unterlauf – Berewkin. Als Fortbewegungsmittel dienten uns kleine Motorkutter. Jede Gruppe bestand aus einem Gruppenleiter, zwei Soldaten, die mit Gewehren bewaffnet waren, mit Äxten und Sägen, um das Flußufer zu säubern und Pfähle aufzustellen, auf die sie die Nummer und Bezeichnung des Reviers schrieben, für wieviele Familien es berechnet war und über wieviele Hektar brauchbaren Boden es verfügte; zwei Soldaten für die Bewachung unterwegs und an den Anlegestellen; zwei Motoristen, die in zwei Schichten arbeiteten und ebenfalls Gewehre trugen.
Wir nahmen für zwei Wochen Lebensmittel mit und machten uns auf den Weg. Kommandant Safonow blieb beim Lager und befaßte sich mit den Vorbereitungen für die Ankunft der Sonderzwangsumsiedler. Wir fuhren den Fluß Tschischabka aufwärts. Ein kleiner Fluß, gewunden, mit schneller Strömung. Vielerorts änderte der Fluß seinen Lauf und ließ dabei sein altes Bett zurück, bedeckt mit Weidengestrüpp und Faulbeerbäumen. Das linke Ufer stieg häufig zu einem Steilhang an, mit Nadelwald bewachsen. Es schien uns, als ob in einer derartigen Höhe die Erde trocken sein müßte, aber nachdem wir uns mit den Äxten durch das Dickicht hindurchgearbeitet hatten, kamen wir nur mit Mühe vorwärts; wir waren dort auf dichtes Sumpfgebiet gestoßen. Gelegentlich fanden sich tiefer gelegene Stellen in abgebrannten Waldstücken, wo irgendwann einmal ein Waldbrand getobt hatte, und jetzt faulten dort alte Wurzeln, und alles war mit Sträuchern zugewachsen, mit rotköpfigem Bergklee und Himbeersträuchern. Wir durchstreiften die Umgebung, versuchten die Möglichkeiten der Handrodung in Erfahrung zu bringen und ermittelten nach Augenmaß, wieviele Hektar das Gelände ausmachte. An einer gut sichtbaren Stelle am Ufer stellten wir einen Pfahl mit einer Aufschrift auf, dort, wo die Anlegestelle und die Siedlung gebaut werden sollten.
Das erste etwas erfolgversprechende Geländestück kennzeichneten wir in 40 km Entfernung vom Lager, am rechten Flußufer, wo eine kleine Kate stand, die Jurte von Juwans jüngstem Bruder – Gawriil. Wir bewegten uns gegen die schnelle Strömung der Tschischabka an, ließen uns gleichzeitig von der Schönheit der Natur mitreißen und machten so insgesamt 13 Reviere ausfindig, die wir alle markierten und die für die Errichtung von 13 zukünftigen Dörfern gedacht waren.
Einmal, als wir am Mernoje-See vorüberfuhren, steckte ich den Kopf aus dem
Fenster des Kutters und weidete mich am Anblick der Natur. Plötzlich ertönte vom
Ufer ein Schuß.
Eine Kugel durchschlug das Fensterglas nur fünf Zentimeter von meinem Kopf
entfernt. Wir machten am Ufer fest, fünf Bewaffnete stiegen das Ufer hinauf. Um
uns herum war dichter Wald, Dickicht. Wir fanden keine Menschenseele.
Mehrmals trafen wir von Angesicht zu Angesicht auf den Herrn der Taiga, den klumpfüßigen Michail, aber jedesmal verschwand er im dichten Wald. Ende Mai herrschte hier eine andauernde Hitze, Kriebelmücken und Mücken tauchten auf. Wie eine schwarze Wolke stiegen sie in die Luft auf; wir waren deshalb gezwungen, die ganze Zeit in Lederjacken, Helmen, Handschuhen und mit Netzen vor dem Gesicht zu gehen.
Nach vierzehn Tagen kehrten wir ins Lager zurück, braungebrannt und abgemagert. Aber hier ging die Verpflegung zur Neige, der versprochene Dampfer war nicht gekommen. Wir waren gezwungen, die Tagesrationen auf ein Minimum zu kürzen. Eine Verbindung nach Tomsk oder Nowosibirsk herstellen konnten wir auch nicht, denn die Funkgeräte arbeiteten nicht, weil es keinen Spezialisten dafür gab. Wir waren plötzlich in die Situation geraten, "von der großen Erde abgetrennt" zu sein. Nur noch ein einziger Sack Mehl war uns geblieben, Perlgraupen und die denkbar schlechteste Sorte Fisch – der große, mittlere und kleine Tschebak (Häsling- Anmerkg. der Übersetzerin); man hatte jeweils zehn Stück mit einem Bindfaden zsammengebunden, hob sie zwei-drei Tage auf und aß sie dann ohne Brot, und anschließend tranken wir Wasser mit Zucker. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen immer dasselbe.
Das Wasser wurde weniger, im Fluß Wasjugan tauchten Inseln auf. Dagegen nahmen die Schwärme der stechenden Insekten immer mehr zu. Mit dem Morgenrot kamen die Mücken, dann stiegen die Kriebelmücken auf und um die Mittagszeit – die Bremsen. Eine weitere Woche verging, Mehl und Zucker waren verbraucht; geblieben war lediglich gesalzener Fisch. Mit jedem Tag wurden die Menschen schwächer und litten an Magenverstimmungen. Jegliche Arbeit, außer der Bewachung des Lagers, wurde eingestellt. Tagelang lagen wir in den Zelten; nur in den kurzen, kühlen Nächten, wenn die Insekten verstummt waren, kamen die Leute heraus, machten es sich im Kreis auf Holzbalken bequem und versuchten wenigstens ein wenig fröhlich zu sein und dem Bajan zu lauschen, aber es kam keine frohe Stimmung auf. Da schlug irgend jemand vor, Witze zu erzählen. Beresowskij und Petropawlowskij konnten das sehr gut, aber die „fetthaltigsten“ erzählte der betagte Sergeant Semjonow. Vor Hunger begannen die Menschen anzuschwellen. So eine mißliche Lage begünstigte notgedrungen eine gewisse Panik.
Ende Juni machte endlich der langersehnte Dampfer „Melnik“ fest, nur brachte er keine Lebensmittel, sondern drei vierzig Meter langen Lastkähne im Schlepptau, die alle mit Sonderzwangsumsiedlern überfüllt waren. Sie stammten alle aus der Region Omsk, aus den freien Steppen, wo in großen Mengen vortrefflicher Weizen wuchs. Zuerst waren sie auf dem Irtysch gefahren und dann einen ganzen Monat lang auf den Flüssen Ob und Wasjugan. In den Gefängnisräumen unter Deck hatte sich eine unangenehme, schwere Luft angesammelt.
Es waren überwiegend Frauen, Alte, Halbwüchsige und Kinder. Und bei vielen waren die Familienoberhäupter wegen des einen oder anderen antisowjetischen Verbrechens von den Volksgerichten zu unterschiedlichen Haftstrafen verurteilt worden. Wir waren froh über die Ankunft des Dampfers, denn das rettete uns vor den Qualen des Hungers. Dieses Kontingent bestand bekanntlich aus durchtriebenen und zudem gierigen Leuten. Sie waren zu allen möglichen Intrigen fähig. Beim Verlassen ihrer Häuser hatten sie es irgendwie geschafft, nicht wenige Lebensmittel mitzunehmen, ebenso Mehl, trockenes Brot und Graupen – weit über die erlaubte Norm hinaus, die für jeden Esser festgelegt worden war. Dank dieser Überschüsse entkamen wir dem verfluchten Hunger.
Wir beschlossen, diese Etappe von Sonderzwangsumsiedlern an der Mündung der Tschischabka abzuladen und dann auf kleinen Dampfern in meinen Gelände-Abschnitt zu transportieren. Die besonderen Schwierigkeiten bestanden darin, daß es wegen des Niedrigwassers nicht möglich war, größere Dampfer bis ans Ufer kommen zu lassen, wie es auf dem Fluß Wasjugan gehandhabt wurde, wo Dampfer mit Lastkähnen direkt am Ufer festmachten. Die Menschen nahmen wir anhand von Dokumenten auf, welche die begleitenden Milizsoldaten bei sich führten.
Eine umfangreiche und schwierige Aufgabe fiel den Ärzten zu. Alle Ankömmlinge mußten, wenn auch nur oberflächlich, untersucht werden und bekamen dann eine allgemeine Bewertung ihres Gesundheitszustandes. Bei vielen stellte es sich heraus, daß sie krank waren, und es mußten Maßnahmen zur Behandlung und zur Verhinderung von Epidemien getroffen werden. Die Sterblichkeitsrate war hoch und ging vor allem zu Lasten der alten Menschen und Kinder. Schließlich mußten sie sich hier nun, nach langem Gefängnisaufenthalt, erst an die frische Luft und hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnen, wenngleich die Hitze Temperaturen von bis zu 35°C erreichte. Für diese Leute war ich verantwortlich. Meine Pflicht bestand darin, sie zum Revier zu bringen, am Ufer abzuladen und dem von uns ernannten Sergeanten-Personal, den Siedlungskommandanten und den Soldaten Richtlinien und weitere Anweisungen zu erteilen.
Mir wurde ein kleiner Dampfer mit zwei Lastkähnen zur Verfügung gestellt, der auch bei niedrigem Wasserstand fahren konnte. Auf einen Schlag wurden nicht weniger als 100 Familien auf die Lastkähne verladen, um auf diese Weise Bewohner, die aus demselben Bezirk stammten, alle in einer Siedlung anzusiedeln.
In dem ersten Revier, wo Juwans Bruder Gawriil lebte, war kein Mensch zu finden. Er hatte seine Familie und alles, was er besessen hatte, genommen und war in die Tiefe der Taiga aufgebrochen. Und das war so gekommen: nachdem Juwan gesund geworden war, setzte er sich in sein „Oblassok“ (langes, schmales Holzboot der Chanten; Anmerkung der Übersetzerin) – damit konnte man sehr schnell fahren, 40 Kilometer pro Stunde – und begab sich zum Bruder. Und dem erzählte er: „Viele Vorgesetzte sind angekommen; jeder von ihnen hat 2-3 Naganpistolen bei sich, und mit jedem Schuß fallen 2-3 Leute um. Und das sind solche Schamanen, daß sie die Toten sofort wiederauferstehen lassen, und wenn sie einen Arm oder ein Bein abreißen, dann stecken sie sie an ihren Platz zurück. Na, und mir haben sie auch die Zehen an den Füßen wieder eingesetzt, aber das ist sehr schmerzhaft; es ist besser, ohne die Zauberpriester zu sterben“. Nach dieser Information bekam es Gawriil natürlich ernsthaft mit der Angst zu tun; er machte sich schnell aus dem Staub und verschwand in der Taiga. Im Herbst schlich er sich heimlich an die Siedlung heran und sah sich genau an, was dort vor sich ging. Er vergewisserte sich, daß die Menschen normal arbeiteten: sie rodeten den Boden für die Aussaat, bauten Häuser, niemand erschoß einen anderen; da begann er sich zu zeigen und mit den Leuten Kontakt aufzunehmen. Als er den Dampfer sah, fragt er: „Aber wo sind denn die Ruderer? Das sind doch bestimmt ziemlich viele?!“
An einem Julitag beförderte ich mit Hilfe zweier Lastkähne Sonderzwangsumsiedler, die alle aus dem Jessilkulsker Kreis stammten. Es herrschte klares, heißes Wetter. Viele Halbwüchsige und Kinder begaben sich auf die Decks der Lastkähne, um sich dort am Anblick der wunderschönen Natur zu weiden und die frische Luft zu atmen. Plötzlich wurde es ringsherum dunkel, ein heftiger Wind fegte mit lautem Heulen über den Fluß dahin und der Regen strömte nur so hernieder. Ein fürchterlicher Hagel setzte ein, die Körner geformt wie Kekskringel oder Wagenräder, mit einem Durchmesser von drei Zentimetern. Es wurde ganz dunkel, so, als wäre die Nacht hereingebrochen, der Sturm toste mit solcher Kraft, daß die Äste der Bäume, welche der Hagel abgeschlagen hatte, wie ein Schwarm von Saatkrähen durch die Luft flogen.
Ich befand mich am Heck des Dampfers. So laut ich konnte befahl ich allen, in den Schiffsraum hinunter zu gehen; währenddessen schlugen mit drei Hagelkörner gleichzeitig auf den Kopf, und trotz des Lederhelms blitzten vor meinen Augen Sterne auf. Der Kapitän und ich beschlossen irgendwie so schnell wie möglich ans Ufer zu gelangen. Unter großem Risiko gelang es uns, die Lastkähne heranzuziehen. Etwa nach einer Stunde hatten sich die Naturkräfte wieder beruhigt. Ich hörte auf dem zweiten Lastkahn Weinen und Schluchzen, irgend jemand wurde dort ausgeschimpft, verflucht, Männer lärmten herum. Im Gefängnisraum, bei trübem Licht, stellt sich heraus, daß eine Eisscholle einen Säugling an der Schläfe getroffen hatte und er in den Armen seiner Mutter gestorben war, und einem halbwüchsigen Mädchen war so heftig der Kopf angeschlagen, daß es ohne Bewußtsein auf dem Boden lag.
Die Menschen begaben sich ans Ufer. Zuallererst begruben sie das Kind, entfachten ein Feuer, brühten Tee auf, aßen, trockneten ihre Kleidung. Man unterhielt sich. Aus den Gesprächen konnte man entnehmen, daß man sie noch weiter vom Zentrum fortbringen wollte, damit sie den qualvollen Hungertod sterben sollten und das Volk davon nichts erfuhr. Früh am Morgen fuhren sie weiter und erreichten in der zweiten Tageshälfte ihren Bestimmungsort. Zehn Mann gingen ans Ufer, liefen eine zeitlang umher, sahen sich die Örtlichkeit genau an, kehrten zu den Lastkähnen zurück und weigerten sich kategorisch mit dem Abladen zu beginnen. Sie begründeten dies damit, daß das ganze Gelände ringsum von Sümpfen durchzogen war und sich nirgends brauchbarer Boden befand.
Wir waren nur zu dritt: ich, der Siedlungskommandant und ein Soldat, aber uns gegenüber standen 125 Familien. Ich wiederholte den Befehl zum Entladen, und sie – rührten sich nicht von der Stelle. Wir ließen die Schiffssirene heulen; auch das half nicht. Ich betrat den Lastkahn und fragte: „Was ist denn, weshalb wollt ihr nicht abladen?“ Sie fingen an zu lärmen, Geschrei und Radau ertönte. Die einen sagten: „Teilen sie uns zu jeweils zehn Familien ein und siedeln sie uns nach dem System der Einzelgehöfte an verschiedenen Stellen an“. Die Mehrheit rief: „Es ist uns egal, wir wollen lieber sofort sterben, als jämmerlich zu verhungern. Man hat uns hierher gebracht, damit wir einen langsam Tod sterben sollen; wir werden das aufessen, was wir bei uns haben, und dann werden wir krepieren wie die Fliegen. So ist es besser, wenn ihr uns hier gleich im Wasser ersäuft. Wir werden euch mit uns ziehen und – alle gemeinsam sterben“.
Ich begriff, daß die Menschen in vollem Ernst sprachen; es mußte ein Ausweg gefunden werden. Ich versuchte ihnen damit zu drohen, daß ich angeblich zur Kommandantur zurückfahren würde, aber das erfreute sie nur. Da erklärte ich mich damit einverstanden sie in Gruppen aufzuteilen, wie sie es verlangten, und sie in verschiedenen Geländeabschnitten siedeln zu lassen – immer jeweils zehn Familien. Ich gab die Anordnung 12 Ältesten jeweils eine Gruppe von zehn zuzuteilen, damit sie dann mit den Listen ihrer Zehnergruppen an Bord des Dampfers kamen. Für die Erstellung der Listen gab ich ihnen 15 Minuten Zeit; ich selbst begab mich inzwischen auf den Dampfer. Den Kapitän benachrichtigte ich darüber, daß er auf mein Zeichen hin schnell die Lastschiffe losketten, zur Flußmitte hinausfahren und dort vor Anker gehen sollte. 15 Minuten später kamen 12 Leute an Bord des Dampfers; wir nahmen sie im Eßsaal in Empfang, der Siedlungskommandant und der Soldat stellten sich unauffällig draußen an der Tür auf, und ich fing an, die Familiennamen der „Delegierten“ zu registrieren.
Währenddessen setzte sich der Dampfer in Bewegung. Die „Parlamentarier“ zuckten zusammen, stürzten zu den Fenstern und da sehen sie, daß die Lastkähne losgemacht worden sind; da gerieten sie in Verwirrung; ich ging zu den Türen, öffne sie – und da standen meine Jungs mit schußbereiten Gewehren. Der Dampfer machte eine Wendung und ging in der Flußmitte vor Anker. Ich sagte zu ihnen: „Das alles hat jetzt genug Zeit und Nerven gekostet; mögen die Lastkähne hierbleiben, aber ich bringe euch jetzt zur Kommandantur, wo man gegen euch rechtskräftige Dokumente wegen Ungehorsam gegenüber den lokalen Behörden ausstellen wird, wegen Verzögerung der Dampferabfahrt, wegen Vereitelung der Beförderung zum Ort der Einquartierung der Sonderzwangsumsiedler; und dann werden wir euch nach Tomsk schicken, wo euch ein proletarisches Gericht verurteilen wird“. Sogleich fielen drei von ihnen auf die Knie und flehten inständig darum, sie um der Kinder willen nicht zugrunde zu richten, und alle erbaten einstimmig die Erlaubnis ausgeladen zu werden. Dafür gab ich ihnen eineinhalb Stunden Zeit; drei von ihnen blieben als Garantie auf dem Dampfer, und die übrigen wurden mit Pferden hinübergebracht, um die Entladung der Lastschiffe zu organisieren. Nach einer Stunde waren die Lastkähne leer. Der Dampfer schwamm rückwärts an die Lastkähne heran, und die „Geiseln“ wurden ausgeschifft. Die Lastschiffe wurden ins Schlepptau genommen und man begab sich wieder auf den Rückweg, wobei der Siedlungskommandant und der Soldat zurückgelassen wurden, um die Anweisungen von oben auszuführen.
Dann gab es noch einen anderen Fall: wir brachten 130 Familien aus dem Kupensker Kreis im Revier Nr. 3 unter. Das Gelände erwies sich als gut, der Boden war sandig, trocken, etwas höher gelegen – auf den ersten Blick machte dieses Revier gegenüber den anderen einen viel besseren Eindruck. Als dann aber die Neusiedler versuchten, vereinzelt ein paar Kartoffeln anzupflanzen, da waren diese bereits nach ein paar Tagen verbrannt - wie gebacken. An heißen Tagen wurde die sandige Oberfläche des Bodens im wahrsten Sinne des Wortes glühend heiß. Nach inständigem Bitten sagte man ihnen zu, sie zu verlegen und in einem anderen Revier anzusiedeln.
Nach Beendigung des Ansiedlungsprozesses begann ein Lastkahn nach dem anderen mit Verpflegung, Werkzeugen und äußerst notwendigen Baumaterialien einzutreffen: Nägel, Glas, Öfen mit Zubehör und ähnliches. Die Verpflegung wurde je nach Anzahl der Esser und unter strikter Einhaltung der festgelegten Norm auf die Siedlungen verteilt.
Bei der Ansiedlung mußten von den Neuankömmlingen harte Anweisungen eingehalten werden: in allen Revieren galt es zunächst, primitive überdachte Anlegestellen für die Aufbewahrung und Lagerung von Lebensmitteln zu errichten und gleichzeitig mit dem Bau von Wohngebäuden für jeweils 2-3 Familien zu beginnen, und zwar in der fünfwändigen und kreuzförmigen Bauweise. Auch wurde ein Siedlungsplan herausgegeben: wo sich was und wie befinden sollte. Trotz all dieser strengen Anweisungen war es nicht möglich, auch nur einen einzigen wenigstes zur Herstellung einer Laubhütte zum Schutz vor Regen und Hitze zu zwingen, bevor nicht die erste Verpflegungsladung eingetroffen war. Sie saßen rund um das Lagerfeuer und versuchten so, sich vor den Mücken und Kriebelmücken zu retten. Als die Lastkähne, beladen mit Mehl, Graupen, Fässern mit Fett und Fischen, ankamen, wollten sie ihren Augen kaum trauen, rannten zum Ufer, befühlten alles mit den Händen, sprangen wie Kinder auf der Stelle und riefen vor Freude: hurra-a! Nachdem der Transport der Lebens-mittel beendet war, trafen Lastschiffe mit Pferden und Vieh ein. Sie wurden wie folgt verteilt: jeweils auf fünf Familien - ein Pferd, auf drei Familien - eine Kuh; das erfreute die Menschen noch viel mehr.
Von diesem Tage an begann in den einzelnen Revieren ein derart aktives Arbeiten, daß das Schlagen der Äxte Tag und Nacht andauerte. Aber ich mußte die Pferde und Kühe befördern. Wir hatten den Befehl aus der Gebietsverwaltung der OGPU erhalten, eine Expedition zu organisieren und diese bis zum Oberlauf des Flußes Tschischabka zu schicken, eine Entfernung von mehr als 200 km. Die Aufgabe der Expedition sollte es sein, Reviere ausfindig zu machen, zu markieren und Pfähle an den Plätzen aufzustellen, an denen zwölftausend Sonderzwangsumsiedler im kommenden Jahr 1932 untergebracht werden sollten. Mit mir sollten noch ein paar andere Leute gehen – insgesamt waren wir sieben. Nach zwei Tagen und Nächten kamen wir an Revieren vorbei, die schon früher auf einer Länge von 120 km besiedelt worden waren, und dann fuhren wir weiter auf uns noch nicht bekannten Wegen.
Am vierten Tag begann die Fahrt mit dem Motorboot schwierig, beinahe unmöglich
zu werden. Der Fluß war hier so schmal geworden, daß ein quer hineingefallener
Baumstamm sich bis zum anderen Ufer hin erstreckte und der Weg erst freigemacht
werden mußte.
Außerdem mußten wir tagsüber vier-fünfmal anhalten, das Ufer hinaufsteigen und
sorgfältig nach geeigneten Plätzen für eine Ansiedlung Ausschau halten.
Mit Mühe erreichten wir zwei in der Nachbarschaft stehende Jurten von Chanten und Mansen. Zu unserem Glück waren die Hausherren zuhause. Die Männer waren gerade erst von der Jagd zurückgekehrt und schleppten einen ausgeweideten Bären heran. Sie begrüßten uns freundlich, und es gelang uns, mit ihnen darin überein zu kommen, daß wir unseren Kutter mit den beiden Motoristen bei ihnen ließen, die ihnen bei ihrer Wirtschaft helfen würden, und daß sie beide an deren Stelle in ihrer Eigenschaft als Ruderer mit uns fuhren – und zwar mit ihrem kleinen Boot. Zusätzlich gaben wir ihnen ein halbes Pud Mehl und ein paar Graupen; das war ihnen mehr wert, als alles andere. So versorgten wir uns mit Bärenfleisch, und dann fuhren wir weiter. Etwa 50 km schwammen wir dahin; 12 Reviere für insgesamt vierzehntausend Sonderzwangsumsiedler hatten wir bereits gefunden und gekennzeichnet, und nun wollten wir den unmittelbaren Oberlauf der Tschischabka erreichen, wo auf der Karte eine kleine Siedlung aus 10 Chanten-Jurten eingezeichnet war. Dort erfuhren wir viele Neuigkeiten.
Im Jahre 1921 war auf den Flüssen Ob, Wasjugan und Tschischabka die Handelsbase „Integral Sojusa“ aus Tomsk zu diesen Jurten gelangt. Von dieser Handelsstation kam der Bevollmächtigte des Gouvernementsrates der Volksdeputierten – mit dem Auftrag einen Einheimischen-Rat zu schaffen (zu wählen), und er hatte einen Sekretär mitgebracht, der lesen und schreiben konnte und die russische Sprache gut beherrschte; er besaß die deutsche Nationalität und auch den Legitimationsstempel für den Einheimischen-Rat. Als Vorsitzender wurde, trotz seines völligen Analphabetentums, ein Chante gewählt, der jedoch betagt und sehr erfahren war und sich zudem hervorragend im gesamten Gebiet an der Tschischabka, auf einer Ausdehnung von 200 km, auskannte.
Aber das war nur eine reine Formalität; tatsächlich erledigte der Sekretär Franz die Pflichten des Vorsitzenden und des Sekretärs. Er kannte jede Jurte, denn einmal pro Jahr fuhr er auf jeden Fall bei allen Jurten an der Tschischabka vorbei. Er erzählte ganz genau von der Lage und dem Leben der Chanten und Mansen. Detailliert berichtete er von den uns interessierenden Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Mernoje-See und den Menschen, die um ihn herum lebten. Dieser See ist etwa fünf Kilometer lang und drei Kilometer breit, sehr reich an Fischen. Ringsherum liegen wenige, verstreute Siedlungen, in denen die verschiedenartigsten Menschen hausen. Sie leben anscheinend autonom, still, friedlich, niemand beunruhigt sie; aber Überreste der Solowjew-Bande halten sich dort versteckt, ungefähr 100 Mann stark.
Rings um den See gibt es saubere, ebene Lichtungen, die zur Aussaat geeignet sind, ebenso wie gute Weideplätze. Die Menschen befassen sich mit Ackerbau und Viehzucht, eigener Branntwein-Herstellung, besonders entwickelter Bienenzucht. Banditen, die hier durch die Barabinsker Sümpfe streifen, begehen mitunter Überfälle, aber die Behörden haben sie aus irgendeinem Grund bislang in Ruhe gelassen. Bis an den See zu gelangen ist nicht so einfach: vom Fluß Tschischabka zieht sich über eine Entfernung von 20 km sumpfiges Gelände dahin; es gibt zahlreiche „okoshki“ (unauffällige, mit grünem Moos bedeckte Moore). Wir ruhten uns dort zwei Tage lang aus, hielten eine Versammlung ab, die aus 12 Leuten bestand, und unterhielten uns. Die Chanten waren äußerst zufrieden. Als wir abfuhren, begleiteten uns viele von ihnen ans Ufer und winkten zum Abschied.
Der Rückweg war viel leichter. In jedem Revier machten wir für 10-15 Minuten halt, präzisierten die Richtigkeit der Gelände-Berechnungen und trugen die markierten Flächen in die Karte ein. Unweit der Kommandantur hielten wir an, um in der Laubhütte von Leuten zu übernachten, die mit der Beschaffung von Baumaterialien befaßt waren. Hier arbeiteten 20 Sonderzwangsumsiedler, sie besorgten Holz und Schnittholz am hochgelegenen Steilufer und zersägten dort einen Teil des Holzes mit der Hand zu Klötzen und dünnen Brettern. Dieses Materialien schleppten sie dann an den Rand des Steilufers und ließen sie von dort oben ins Wasser fallen. Das Holz schwamm zur Mündung, wo es herausgefischt wurde. Die Holzbeschaffung ging am rechten Ufer der Tschischabka vonstatten, aber die Laubhütten fürs Nachtlager befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite auf einer ebenen Lichtung, die mit grünem, samtigem Gras bedeckt war.
Am Abend, nach dem Essen, legten sich die Leute ums Lagerfeuer und rauchten. Es entspannte saich eine heftige Unterhaltung. Die Sägearbeiter erzäühlten, wie sie in ihren ersten Arbeitstagen die Längsschnitt-Sägen nachts direkt auf den Sägeböcken liegengelassen hatten, und dann am nächsten Morgen entdeckten, daß die Zähne kaputtgebrochen waren und die Säge nicht so dastand, wie sie sie abends zurückgelassen hatten. Da gingen die Sägearbeiter nachts auf Beobachtungsposten. Es stellte sich heraus, daß ein Bär am Tage den Leuten gefolgt war und gesehen hatte, wie sie sägten, und dann nachts erneut herankam und sich abmühte: mal kletterte er nach oben – versuchte zu sägen, mal stieg er nach unten – und bemühte sich, die Säge irgendwie zu bewegen, und das hat er wohl so an die zehnmal gemacht - die Säge mal nach oben, mal nach unten gezogen.
Die Leute fingen erst an zu schweigen, als vom gegenüberliegenden Steilufer ein abgesägter Baumwipfel ins Wasser plumpste. Wir verstummten sofort und begannen das Ufer zu beobachten. Die Nacht war hell, und auch der Morgen dämmerte schon langsam herauf. Der „rastlose“ Michail schleppte einen zweiten Wipfel heran. Erfolgreich ließ er den abgehackten Stumpf hinabfallen, und das Kiefernholz schlug mit einem lauten Platscher aufs Wasser. Der Bär, der seinen Hals gereckt hatte, blickte neugierig nach unten.
Nach fünf Minuten bemerkten wir, daß der Bär erneut einen abgehauenen Baumwipfel zum Ufer zog, diesmal aber einen viel schwereren und im Umfang größeren, mit einer riesigen Krone. Er schob ihn mit der Baumkrone nach vorn an den Uferrand, wobei die Hälfte des Baumwipfels in der Luft hing. Dann zog der Bär ihn geschäftig zur Wasserseite hin, und plötzlich, als der Wipfel das Übergewicht bekam, verfing sich hinten der Bär, und flog zusammen mit dem Baumstumpf vom hohen Steilhang in die Tiefe. Wasser spritzte auf, und der Bär kam schnaufend und brummend unter dem schweren Holz hervor.
Wir kehrten völlig übermüdet und abgemagert ins Lager zurück. Und so braungebrannt, als wären wir von den Ufern der Krim zurückgekommen. Unsere Aufgabe hatten wir übererfüllt, nicht wenige interessante Abenteuer erlebt und zahlreiche Neuigkeiten erfahren. Im Lager ging die Arbeit ebenfalls mit Hochdruck voran – an dem abschüssigen, hohen Ufer des Wasjugan wurde eifrig gebaut: ein Krankenhaus mit 20 Bettstellen, das Kommandantenhaus mit insgesamt vier Wohnungen, ein Badehaus, ein Laden, ein Klub und das Stabsquartier. Auch auf der gegenüberliegenden Seite des Wasjugan wurde gebaut, dort, wo irgendwann vor der Revolution Porfischka Issajew (genannt Chanten-Mansen-Porfischka) über die Chanten geherrscht hatte. In den zwanziger Jahren hatte er drei Offiziere aus der Pepeljajew-Armee versteckt und ihnen Obdach gewährt; sie hatten die Liquidierung der Wasjugansker Kommunarden in der Belij-Schlucht organisiert. Unter der Leitung des Ausbeuters und Kulaken Porfischka wurden die Kommunarden, die sich ein neues Leben aufgebaut hatten, getötet – der Sekretär der Parteizelle Roman Bastrikow sowie seine engsten Helfer Wasjuch und Mitja Stepin.
Der Besitz des Ausbeuters und Kulaken verbrannte durch das Explodieren der verborgenen Munition (Schießpulver, Sprengstoff und ähnliches). Nun, an dieser Stelle begannen wir mit dem Bau unserer Kommandantur. Der alte Porfirij Ignatjewitsch Issajew besaß eine junge Ehefrau namens Ustinuschka. Wie die alten Chanten erzählten, trieb er erbarmungslos seinen Spott mit ihr und verprügelte sie mit und ohne Grund. Nach einiger Zeit kam Porfischka Issajew bei einem nächtlichen Überfall auf die schwimmende Warenstation ums Leben, welche die Flüsse Wasjugan und Tschischabka befuhr, um die Jäger mit Waren zu versorgen und um Pelzwaren einzukaufen. Der von dem Kommunisten Skobejew niedergeschossene Leiter der Station Porfischka ertrank im Fluß Tschischabka.
Das Bauen ging schnell voran, das Stabsgebäude und andere waren schon fast fertig. Nach der erfolgreichen Ausführung der Aufgabe wurde mir ein zehntägiger Urlaub für eine Fahrt zu meiner Familie bewilligt. Mit einem auf diesem Abschnitt verkehrenden Dampfer fuhr ich nach Tomsk. Als ich in Kargassok eintraf, war ich verwundert, daß am Ufer des Ob eine Vielzahl von Menschen mit Feldarbeiten beschäftigt war: Erdarbeiter (Zwangsumsiedler) errichteten auf einer Länge von einem Kilometer ein Gemüselager, und geleitet wurde das Bauprojekt von Verbannten, die auf administrativem Wege hierher geschickt worden waren; einige von ihnen waren Trotzkisten. Einer davon war I.I. Antiserskij, den ich gut kannte, ehemaliger Kommandeur des Transkaukasus-Wehrkreises, ein enger Freund und Kampfgefährte Trotzkis. Es gab dort auch Deportierte aus der Industrie-Partei und anderen politischen Strömungen sowie Kriminelle mit unterschiedlichen Haftstrafen. In Kargassok war ein Umschlagplatz für die drei Wasjugansker Kommandanturen eingerichtet worden, denn auf dem Fluß Wasjugan konnten große Dampfer im Sommer bei Niedrigwasser nicht verkehren; infolgedessen war eine solche Umschlagstation in Kargassok unerläßlich. Mich erstaunte auch noch etwas anderes: soviele Frachtladungen waren hierher herangeschafft worden – Industriewaren, eine Vielfalt an Frühgemüsen, Kartoffeln; das ganze Ufer war vollgepackt. Wie schwierig die Beförderung sich auch gestaltete, an den folgenden Tagen waren sowohl Lebensmittel als auch Industriewaren zu haben.
In Kolpaschewa stieg ich auf einen Passagierdampfer um und kam in einer Zweier-Kabine erster Klasse unter. Stundenlang stand oder saß ich auf dem Oberdeck, sah mir die Gegend an und freute mich an der Vielfalt der Natur an beiden Ufern des Ob, den am Fluß errichteten Ortschaften und Dörfern mit ihren glänzenden Kirchenkuppeln. Manche erstreckten sich entlang einer einzigen Straßenseite, mit der Front zum Fluß. Tagsüber begrüßten und begleiteten immer eine Menge Kinder und Frauen den Dampfer am Ufer, winkten mit Tüchern und Händen – und die Burschen mit den alten Schirmmützen ihrer Väter.
In Tomsk hielt ich mich nicht lange auf, sondern fuhr mit dem ersten verfügbaren Zug ab, denn ich hatte es eilig zu meiner Familie zu kommen, und nach vierundzwanzig Stunden war ich in Bogotol. Meine Frau und die Tochter lebten bei ihrer Schwester. Zu meiner Ankunft waren alle Erwachsenen zum Beerensammeln an den Fluß Tschulym gegangen, und so fand ich zuhause nur meine dreijährige Tochter Ljalja vor. Sie erkannte mich nicht sofort und hatte Angst näher zu kommen, eine zeitlang war sie ganz verwirrt, aber dann erkannte sie mich an meiner Stimme und fiel mir um den Hals. Ich trug meine Militär-Uniform, war bewaffnet, mager geworden, aber vor allem erschreckte sie meine Sonnenbräune, die man buchstäblich als schwarz bezeichnen konnte. Meine Frau und einige andere wunderten sich ebenfalls. Sie schwatzten mich voll mit zahllosen Neuigkeiten. Ganz besonders regten mich die verbrecherischen Tätigkeiten des schuldatsker Vorsitzenden auf – dem Komsomolzen M.Ch.Masitow, der eine strenge Strafe verdient hatte. Ich beschloß nach Schuldat zu fahren, um mich persönlich davon zu überzeugen. Beim Empfang durch den ersten Sekretär des Kreis-Komitees der Partei Iwanow gab man mir den Rat, wenigstens für einen Tag dorthin zu fahren, sorgfältig zu prüfen, streng und objektiv an das Problem heranzugehen und harte Maßnahmen zu ergreifen, bis hin zum Ausschluß aus dem Komsomol, der Kommunistischen Jugendorganisation. Anschließend unterhielt ich mich mit dem Sekretär des Kreis-Komitees des Komsomol, der mir riet, an Ort und Stelle eine Komsomolzen-Versammlung abzuhalten.
Ich beschloß mit dem Leiter der Kreis-Abteilung der OGPU, Hauptmann Korolkow zu sprechen. Er bemerkte, daß Masitow als vorbildlicher Vorsitzender des Dorfexekutiv-Komitees im Kreis in Erscheinung getreten war.
Nachdem ich in Schuldat angekommen war, führte ich zunächst ein paar Gespräche mit den Kolchos-Bauern. Zwei Jahre zuvor hatte ich als Bevollmächtigter des Kreis-Komitees der Partei in Schuldat zwei Kolchosen organisiert: „Natsmen“ ("Nationale Minderheit"; Anm. d. Übers.)und „Proletarskij“ ("Proletarier" - Anm.d.Übers.). Die Kolchos-Bauern bestätigten nicht nur die Tatsachen, über die man mir in Bogotol berichtet hatte. Empört erzählten sie, daß Masitow im Dorf nicht Vorsitzender des Dorf-Exekutiv-Komitees geworden war, sondern ein echter Gutsbesitzer, der mit den Kolchosbauern unerbittlich seinen Spott trieb, bis hin zu Handgreiflichkeiten und Nötigung. Außerdem war Masitow bereits in dritter Ehe verheiratet. Die letzte, Tochter eines Mullah, Majssarja genannt, hatte er mit Waffengewalt gezungen, seine Frau zu werden; ein halbes Jahr später war sie aufgrund des unerträglichen Lebens gestorben. Nachdem er sich mit dem Mullah Hassan Ossin angefreundet hatte, dem das Stimmrecht entzogen und der zur Verbannung verurteilt worden war, betrank er sich mit ihm maßlos, und hat dadurch immer wieder seinen Abtransport hinausgezögert. Oder dieses Beispiel: einmal kommt Masitow mit seinem Freund Tagir Saljamow spätabends zum Kolchosbauern Dschaljakaj Abdrachimow, und der hat zwei Töchter, schon erwachsen und sehr hübsch. Die Freunde befahlen dem Alten zusammen mit seiner Frau für zwei Stunden zu den Nachbarn zu gehen. Dschaljakaj, ein ehemaliger Frontsoldat im imperialistischen Krieg, dem zwei Georgskreuze verliehen worden waren, konnte diese Schmach nicht ertragen, ergriff seine Jagdflinte, aber es gelang den beiden im letzten Moment aus der Kate hinauszuspringen, als der Schuß bereits krachte.
Auf der Jagd nach Ruhm übererfüllte Masitow den Plan für die Getreidebeschaffung, aber den Kolchosen ließ er kein Saatgut zurück. Aus diesem Grunde verkleinerten sich die Anbauflächen und der Viehbestand ganz erheblich, die Kolchosbauern litten Hunger, waren gezwungen in die Stadt zu gehen, um dort in Produktionsbetrieben zu arbeiten; Masitow aber erhielt Prämien und wurde hoch gerühmt. Um jedoch in einem Produktionsbetrieb arbeiten zu können, mußte man einen Paß besitzen, und um einen Paß zu bekommen, war eine Bescheinigung vom Dorf-Exekutiv-Komitee erforderlich. Als die Kolchobauern wegen dieser Bescheinigung bei dem grausamen Vorsitzenden vorsprachen, da machte der seine Entscheidung davon abhängig, wer ihn darum bat. Ganz nach eigenem Belieben lehnte er den einen ab, den anderen nicht, und sagte dabei: „Bring mir am späteren Abend deine junge Kuh her“, und dem nächsten verkündete er ohne Scham: „Komm am späteren Abend mit deiner Frau wieder (sofern sie jung und schön war); dann mache ich die Bescheinigung fertig“. Und wenn irgendjemand eine Tochter besaß, sagte er: „Bring deine Tochter her“. Als ich die Kolchosbauern so reden hörte, standen mir die Haare zu Berge. Ich bat die Erzählenden, die Fakten kurz zu beschreiben oder schlug ihnen vor, daß ich selbst alles aufschreiben würde und sie dann nur ihre Unterschrift darunter setzten; aber als hätten sie sich vorher abgesprochen, machten sie nun alle abweisende Handbewegungen und sagten: „Ich habe Ihnen doch gar nichts gesagt, ich weiß von nichts und gesehen habe ich Sie auch nicht. Wenn ich Masitow schreibe und Sie morgen abreisen, dann wird er mir mitsamt meiner Familie die Eingeweide auffressen“. Keiner war dazu bereit, irgendetwas aufzuschreiben oder zu unterschreiben, und das, was da gesagt worden ist, ist natürlich kein Beweis. In der Kreis-Verwaltung verlangen sie Fakten und schriftliche Bestätigungen von den Kolchosbauern.
Ich berufe eine Komsomolzen-Versammlung ein; in der Parteizelle sind 8 Leute, alle sind vollzählig anwesend. Auf der Tagesordnung steht ein einziger Punkt: das Verhalten des Komsomolzen Masitow. Ich berichtete über die offenkundige Verletzung der Komsomolzen-Ethik, Vielweiberei, das Besäufnis mit dem Mullah, das Hinauszögern seines Abtransportes in die Verbannung, die Verspottung der Kolchosbauern und –bäuerinnen sowie die verbrecherischen Handlungen, die das Ziel haben, den Kolchosbetrieb zu ruinieren und die Kolchosbauern dazu zu zwingen in die Stadt abzuwandern, um dort in den Industriebetrieben zu arbeiten. Auf der Grundlage der dargelegten Fakten schlage ich vor, M. Ch. Masitow aus den Reihen des Kommunistischen Jugendverbandes auszuschließen. Die anderen Komsomolzen sitzen mit gesenkten Köpfen, keiner blickt den anderen an, sie schweigen, als hätten sie den ganzen Mund voll Wasser. Masitow ergreift das Wort und streitet alles von Grund auf ab – nur die Ehen nicht. Da er wußte, daß die Komsomolzen vor ihm Todesangst hatten, weil er im Kreis das Sagen hatte, hielt er meine Aussagen für eine Verleumdung; es folgt Drohung auf Drohung an die Adresse mal des einen, mal des anderen Kolchosniks, darunter auch an mich. Gewissenlose Eigensucht – angeblich hat er, und nur er, den Dorfsowjet auf den ersten Platz im Kreis geführt. Lange mühte ich mich ab, versuchte die offenkundigen Fakten zu beweisen – alle schweigen. Nach langem Schweigen macht Satdar Alijew den Vorschlag: es soll ein Tadel mit einer Verwarnung ausgesprochen werden, und so wird dann auch entschieden.
Im Jahre 1937 versuchte Masitow mich als Volksfeind in Mißkredit zu bringen; es gelang ihm nicht. Stattdessen erfuhr er von jenen Kolchosbauern, die mir über die von ihm angerichteten Gemeinheiten berichtet hatten, und die mußten mit ihrem Leben bezahlen. Masitow verbreitete jede Menge Lügenmaterial, daß angeblich Kolchosbauern sich mit der Zersetzung der Kolchose befaßten, der Arbeit schadeten und als japanische Spione in Erscheinung traten. Es handelte sich um – Hussain Sajnullin, Habibullah Sajnullin, Umar Rachmatulin, Amin Fachurtdinow, meinen älteren Bruder Iskandjar und andere. So kamen diese Menschen in den Sümpfen von Magadan ums Leben.
Das Jahr 1941. Der Große Vaterländische Krieg begann, und über unserem Vaterland hing eine tödliche Gefahr. Als Organisator großartiger Siege rief die Kommunistische Partei in erster Linie die Kommunisten und Komsomolzen zur Verteidigung des Vaterlandes auf. Nachdem wir unsere Schuld und Verpflichtung gegenüber der Partei und dem Vaterland erkannt hatten, gingen wir, hunderte und tausende von Kommunisten und Komsomolzen bereits in den allerersten Tagen des Krieges als Freiwillige an die Front, kämpften in schwierigstem Gelände, immer in vorderster Reihe, und waren so ein Vorbild für andere. Aber Masitow, der vierundzwanzigjährige Komsomolze, ein kerngesunder Mann, saß untätig herum und benahm sich bis Ende 1943 äußerst unanständig. Die Kolchosen zerfielen, von dreihundert Hofbetrieben blieben nicht mehr als 50. Masitow überreichte irgendwelchen führenden Mitgliedern der Kreis-Verwaltung Kalbfleisch, ein paar anderen Hammelfleisch, und er wurde mit einem Fahrrad und ähnlichen Dingen prämiert. Erst Ende 1942 wurde er zur Armee mobilisiert und, nachdem er in die vordersten Linien geraten war, kam er bei der erstbesten Gelegenheit in deutsche Kriegsgefangenschaft, wo er schnell mit den Faschisten einließ und Freiwilliger in der Wlassow-Armee wurde. 1946 kehrte er nach Hause zurück. Die Gebietsverwaltung für Innere Angelegenheiten verbannte ihn bis zur endgültigen Klärung vorübergehend in das 25 km von Schuldat entfernt gelegene Dorf Pawlowka. Dort arbeitete er als Finanzagent und heiratete eine Lehrerin.
So verging mehr als ein Jahr. Einmal, als in Bogotol Markttag war, geriet er mit zwei Bürgern aneinander. Diese Genossen erkannten ihn, hielten ihn an und sagten: „Du bist bei den Faschisten mit einem automatischen Gewehr herumgelaufen, im Konzentrationslager habt ihr auf Kommando der Gestapo unseren Bruder, Kriegsgefangene, erschossen, und hier geht ihr mit einer Aktentasche durch die Gegend“. Masitow fing an abzustreiten: ich, nicht ich – und machte sich davon. Aber diese Genossen waren beharrlich, begaben sich sogleich zur Kreis-Staatsanwaltschaft und erklärten: „Wenn die Behörden es nicht tun, dann werden wir unverzüglich Maßnahmen ergreifen; wir werden ihn selber ausfindig machen und in Stücke reißen, denn er hat uns gequält und viele im Konzentrationslager zugrunde gerichtet“. Masitow kehrte verwirrt nach Hause zurück. Zuhause war nur ein altes Tantchen. Er setzte sich an den Tisch, trank einen halben Liter Wodka und sagte: „Mütterchen, verabschiede dich“. Aber sie verstand nicht und sagte: „Gott vergibt“. Masitow ging hinaus, lief in den Schuppen und erhängte sich. Der Schuppen war ziemlich niedrig, und nachdem er die Schlinge gebunden hatte, stellte er sich auf die Knie und hauchte auf dem dünnen Kuhmist sein Leben aus. Nachdem sein Onkel ihn in Sackleinen eingehüllt hatte, brachte Ajmal Saljamow ihn zur Beerdigung nach Schuldat, aber die Einwohner des Städtchens erlaubten es nicht, daß man ihn auf dem allgemeinen Friedhof beerdigte, sondern vergruben ihn irgendwo an der Seite. So endete die schmachvolle Geschichte Masitows. Die alten Kolchosbauern erinnern sich immer noch mit schlechten Worten an die Masitowschen Zeiten und die Periode der Repressionen.
Nach dem Kriege wurden zwei Kolchosen zu einer zusammengeschlossen, und die Wirtschaft der Kolchose nahm einen schnellen Aufschwung. Kolchosbauern, die vorher die Kolchose verlassen hatten, kehrten nun wieder zurück und fingen an dort zu arbeiten, wurden wohlhabend und dankten der Kommunistischen Partei und der Regierung. Innerhalb kurzer Zeit bewies die Kolchos-Struktur ihre unvergleichliche Überlegenheit nicht nur vor der Kleinbauern-Wirtschaft, sondern auch vor der großkapitalistischen Dorfwirtschaft.
Ich kehrte nach Bogotol zurück und erstattete den Kreis-Komitees der Partei und der Kommunistischen Jugendorganisation über alles Bericht. Am nächsten Tag nahm ich meine Familie und fuhr an meinen Dienstort. Bis nach Kargassok fuhren wir ohne besondere Abenteuer mit dem Passagierdampfer. Wir bezogen Quartier beim Leiter der Station, Major Lasarew, der seinen linken Arm im Bürgerkrieg verloren hatte. Seine Wohnung bestand aus einem kleinen, quadratischen Einzimmer-Häuschen. Es stand ganz am Rande der Siedlung, umgeben von einem großen Kiefernwald. Abends kamen die Arbeiter der Station und Sergeant Petuchow, der für unsere Kommandantur zum Siedlungskommandanten ernannt worden war, unser Weggenosse. Lange saßen wir beisammen, unterhielten uns, und die Jungs waren außer Rand und Band. Zum Schlafen legten meine Frau und ich uns auf Lasarews Bett, er selbst ging auf den Dachboden. Etwa um ein Uhr nachts zupfte Petuchow mich wach: „Genosse Lasarew (er dachte, daß Lasarew in dem Bett schlief), stehen sie schnell auf“. Ich erhob mich, und er sprudelte hervor: „Nebenan ist ein Bär“. Ich ergriff meine Pistole und wir sprangen auf den Vorbau des Hauseingangs hinaus. Auf der Straße suchten wir alles genau ab: zwischen den Bäumen, wo frische, glänzende Späne lagen, bemerkten wir zwei kleine schwarze Gestalten, und seitlich davon hob sich schwarz noch eine große ab. Die beiden kleineren waren Bärenjunge, die große – die Bärenmutter. Wir krochen etwas näher heran, die Entfernung betrug nicht mehr als 30 Meter, und kamen überein, gleichzeitig einen Schuß abzugeben: er aus dem Nagan, ich aus meiner Pistole. Als Lasarew zwei Schüsse zur selben Zeit vernahm, sprang er beunruhigt von seiner Schlafstelle und lief eilig die Treppe hinab. In einer Hand hielt er ein Nagan. Hals über Kopf trat er bei einer Treppenstufe daneben, stürzte nach vorn und fiel hin. Ohne den Schmerzen Aufmerksamkeit zu schenken sprang er hinaus auf das Vordach und feuerte mit seinem Nagan in die Luft. Wir kamen herbeigelaufen, beruhigten ihn und erzählten ihm, was los war. Am Morgen, als ich noch im Bett lag, da wurde dem Leiter der Station, dem Major, gemeldet, daß nachts ein Pferd im Stall gestürzt war. Das Pferd war seit dem Abend an der Futterkrippe angebunden gewesen, mit dem Kopf zu der Seite, in deren Richtung wir geschossen hatten. Nun hing der Kopf über der Leine, der Rumpf lag ungefüge und plump auf dem Boden, an der Brust war Blut zu sehen; diesem Vorfall maßen wir keine weitere Bedeutung bei. Am Tage gingen wir zum Leiter der Kreis-Abteilung der Miliz, berichteten von dem nächtlichen Zwischenfall, lachten und gingen auseinander.
Wir mußten die Tschischabka 200 km mit dem Boot flußaufwärts fahren. Lasarew ernannte zwei Männer aus den Reihen der Sonder-Zwangsumsiedler zu Ruderern. Es war erforderlich, auf verschiedenste Art und Weise gegen die Strömung anzuschwimmen: mit Rudern, mit Stangen und mit einer Peitsche. Am dritten Reisetag machten wir zum Mittagessen bei Belij Jar halt; dort wurde gerade eine Siedlung für Sonder-Zwangsansiedler gebaut, die unserer Kommandantur unterstanden. Dort standen bereits viele unfertige Häuser, noch ohne Dach, mit hervorspringenden Dachstühlen. Petuchow und ich entfachten ein Lagerfeuer, die Ruderer machten sich auf, um Sterlets für eine Fischsuppe zu fangen, und Ljalja, mein Mädchen, lief am Ufer auf und ab und spielte mit Steinchen. Aus der Siedlung kamen ein paar Kinderchen und einige Frauen zu uns ans Feuer. Sie begannen sich mit meiner Frau zu unterhalten, wo bei sie sich gegenseitig ins Wort fielen, und fragten wie das Leben in der Stadt sei und was für Neuigkeiten es von dort gäbe.
Petuchow und ich begaben uns in die Siedlungskommandantur. Der Kommandant, ein Ober- Sergeant, erzählte uns, daß er unweit der Siedlung, am Ufer, einen mit Unkraut zugewachsenen kleinen Hügel entdeckt hätte, und daneben – eine unauffällige Grube von gleicher Größe. Auf dem Hügel läge quer ein verfaulter kleiner Pfahl, an den ein Brettchen mit irgendeiner Aufschrift angenagelt war. Die Chanten sagen, daß es hier angeblich irgendwann einmal eine Kommune gegeben hätte und deren Anführer irgendwen ermordet hätten.
Zu dritt gingen wir zu dieser Stelle. Tatsächlich lag ein kleiner Pfosten im Gras, und darauf war eine kleine Tafel angebracht. Wir begannen sie vorsichtig zu säubern und stellten fest, daß die Aufschrift durch Ausbrennen vorgenommen worden war. Nach dieser anstrengenden und viel Geduld erfordernden Arbeit gelang es zu ermitteln, daß hier Wasjuganer Kommunarden unter der Erde lagen, Mitglieder ders Kreisausschusses der Kommunistischen Partei der Bolschewiki: Roman Bastrikow, Wasjucha Stepin und Mitjaj Stepin. Ferner waren die folgenden Worte eingebrannt:“ Leute, ihr sollt wissen, daß man sie in den Wald gelockt und umgebracht hat. Die Mörder sind unerkannt entkommen. Ehre den Helden der Revolution! Schmach und Tod den Feinden!“ Und weiter unten waren noch zwei kleine Zeilen eingebrannt: „Wir werden aus Wasjugan fortfahren, aber hier bleibt ewig; auf Wiedersehen, Brüder – ohne euch fühlen wir uns wie Waisen!“
Dem Siedlungskommandanten gab ich die Anordnung, einen vernünftigen Zaun aufzustellen, einen neuen Pfahl mit rotem Sternchen, sowie Bäume, Sträucher und auch mehrjährige Blumen anzupflanzen.
Wir kamen wohlbehalten an Ort und Stelle an. Ich brachte meine Familie in einer kleinen Kate unter, die wir bereits im Frühjahr gebaut hatten. Die Kate hatte eine Größe von 20 Quadratmetern und war mit Stangen in zwei Hälften unterteilt: in der einen waren die Wachen und der Stabstresor untergebracht, in der anderen befand sich unsere Wohnung, bis der Bau des Kommandantenhauses beendet war.
Ende August brach in der Galkinsker Kommandantur eine Meuterei unter den Sonder-Zwangsansiedlern aus. Wir erhielten einen Funkspruch und fuhren sofort mit dem Operativ-Bevollmächtigten, Hauptmann Salnikow, und zwanzig Soldaten zur Auflösung des Aufstandes. Die Feinde der Sowjetmacht gaben auch in der Verbannung keine Ruhe, sondern setzten den Kampf gegen das neue Leben, gegen den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande, fort, einschließlich der feindlichen Elemente. Leider gab es auch solche, die mitliefen, weil sie sich wegen der in der Politik vorgefallenen Fehler gekränkt fühlten.
Auf dem Kutter fuhren 22 Mann fort. Am Morgen des 1. September kamen sie am Bestimmungsort an. Im Stab der Galkinsker Kommandantur wurde eine Trojka organisiert, welche in Aktion treten sollte, um die Leitung über die Verteidigung und Beendigung der Meuterei zu übernehmen. Uns schickte man in ein etwas weiter entferntes Revier, wo der Aufstand seinen Ursprung genommen hatte. Die Aufständischen kamen aus weit entlegenen Siedlungen. Sie hatten den Siedlungskommandanten und die Soldaten ermordet, waren bewaffnet. Die meisten von ihnen trugen Jagdflinten und Lanzen, Äxte mit langen Stielen und eiserne Heugabeln.
Wir kamen in der Siedlung an, wo die Pogromhelden warteten, organisierten eine runde Verteidigungslinie, stellten fünf Posten auf, und dann gingen wir selber, zusammen mit Hauptmann Salnikow, in eine andere Siedlung, wo wir die noch nicht fertiggestellte Schule betraten. Hier ruhte sich der Wärter aus. Die Herbstnächte waren länger und dunkler geworden, unsere Augen konnten sich nicht an das Dunkel gewöhnen, als plötzlich bewaffnete Leute aus Türen und Fenstern herausschrien: „Hände hoch!“ Es gelang uns nicht mehr, nach unseren Pistolen zu greifen, als uns auch schon die Hände und Füße zusammengebunden und wir zum Ufer geschleppt wurden. Der Rädelsführer der Gruppe, ein kräftiger Mann mit schwarzem Bart und Kaufmannsschirmmütze, befahl den Fluß streng zu bewachen und niemanden herankommen zu lassen. Während dieser Zeit überfiel eine andere Gruppe das Lebensmittel-Lager, eine Schießerei begann, und den Gegnern gelang es, das Lager in Brand zu stecken. Und hier entschied sich unser Schicksal. Die einen sagten: „Den Tschekisten soll man auf Lippe und Wangen einen Stern einritzen und in die Augen Patronenhülsen hineinschlagen“, und andere meinten: „Man müßte sie auf einem Baum aufhängen - und die Sache wäre erledigt!" Jemand schrie: „Quälen muß man sie, verspotten, zum Aufhängen haben wir immer noch Zeit“, und noch ein anderer rief: „Wozu sich mit ihnen Lange abgeben!? Einfach einen Stein um den Hals binden – und ab in den Fluß“.
Erneut begann eine Schießerei. Drei kamen herbeigelaufen, und, nachdem sie mit Mühe zu uns herangelangt waren, begannen sie uns zu schlagen und mit den Füßen zu treten. Ich bekam mehr ab, weil ich zwei himbeerfarbene Abzeichen auf den Kragenspiegeln trug und der Ranghöchste war. Ich verlor das Bewußtsein und Salnikow hörte, wie sie Anstalten machten, uns Steine um den Hals zu binden, um uns dann in den Fluß zu werfen. Sie zerrten uns an den Beinen in die Schule, stießen uns in den Keller hinab, versperrten die Falle mit allem, was ihnen gerade unter die Finger kam, schleppten Reisig herbei und steckten das Gebäude in Brand. Als der Qualm bis zu uns in den Keller vorgedrungen war, ging uns langsam der Atem aus und ich kam wieder zur Besinnung. In diesem Augenblick vernahmen wir eine ganze Salve von Schüssen. Unsere bereits ein Jahr zuvor eingerichtete Scherstobitowsker Kommandantur war im Besitz eines schweren Maschinengewehrs, welches der Galkinsker Kommandantur in dem Moment zur Hilfe kommen sollte. Sie wurde mit Ungeduld von der Verteidigungstrojka erwartet, aber die Teilnehmer an den Ausschreitungen hatten davon gewußt und Wache gestanden, um das Geschütz abzufangen. Als sie das Klopfen des Motors vernahmen und losrannten, um den Kutter zu umzingeln, begannen einige Boote auf der Tschischabka zu kreuzen. Der Schulwärter, Sonder-Zwangsumsiedler I.M. Malachow, war, nachdem man uns in den Keller geworfen hatte, heimlich zur Kommandantur gelaufen. Aber dann hatte er auf dem Fluß das Tackern eines Motors gehört und sich dem herannahemdem Kutter entgegen gestürzt. Er begann mit den Armen zu winken, damit dieser ans Ufer kommen sollte. Malachow machte Mitteilung; die Besatzung des Kutters, die aus 20 Schützen bestand, stellte das schwere Maschinengewehr am Bug des Kutters auf und bereitete sich zum Kampf vor. Es wurde bereits hell. Die Schützen bemerkten einige Boote, die auf der Tschischabka kreuzten. Vom Kutter wurden ein paar kurze Salven abgegeben, und die Boote drehten ab. Am Ufer sahen sie die brennende Schule, schossen noch ein paarmal. Fünf der Aufrührer wurden verwundet, die übrigen liefen auseinander, und die Schützen rannten in das glutheiße Gebäude. Sie zogen uns aus den Flammen und trugen aus auf den Kutter. Zehn von denen, die bei den Ausschreitungen dabei gewesen waren, ertranken, zwei wurden getötet und drei verwundet. Außerdem fanden sie im Wald zwei von unseren Wachposten, die man, mit Knebeln im Mund, an Bäume gefesselt hatte. Im Zentralrevier der Kommandantur lieferte man uns ins Krankenhaus ein und leistete erste Hilfe. Ich hatte gebrochene Rippen und zwei ausgeschlagene Zähne. Bei Salnikow war der linke Arm ausgerenkt, und er hatte eine Beule am Kopf.
Nach zwei Tagen kam eine Einheit der Miliz aus Tomsk, welche die Meuterei endgültig auflöste. Mit dem Ergebnis, daß vierzig Mann lebend gefaßt und sieben Rädelsführer nach Tomsk gebracht wurden. Bei den Verhören stellte sich heraus, wer die Organisatoren gewesen waren: ein Oberst aus Solowjews Bande, zwei Hauptmänner und ein Geistlicher aus den Reihen der Sonder-Zwangsumsiedler. Sie scharten diverse Anhänger um sich und trafen den ganzen Sommer hindurch Vorbereitungen, nahmen den Chanten-Jägern im Wald die Waffen und Messer weg, schmiedeten heimlich Beile und Lanzen, entwendeten aus dem Vorratsspeicher eiserne Mistgabeln. 100 Mann fanden sich insgesamt zusammen. Sie machten sich auf, um die Siedlungskommandanten und Soldaten du entwaffnen. Falls jene Widerstand leisten sollten, so würde man sie töten, die Lebensmittel-Speicher vernichten und Anhänger für den Kampf gegen die Tschekisten anwerben. Weiter beabsichtigten sie von Kommandantur zu Kommandantur zu gehen, um die Bewaffnung zu verstärken und die Zahl der Meuterer zu erhöhen, bis zur Kreis-Ortschaft Kargassok zu gelangen, sie unter ihre Macht zu stellen und dann dort die weitere Vorgehensweise auszuarbeiten.
Ich war bereits etwa zwei Monate nicht mehr in meinem Revier gewesen. Die Baumaßnahmen gingen gut voran, bereits fertiggestellt waren eine Anlegestelle, ein Badehaus, ein medizinischer Versorgungspunkt sowie eine primitive Sommerküche für die Verpflegung der Arbeitenden. Wir bereiteten uns auf die Feier des 14. Jahrestages der Großen Oktoberrevolution vor. Aber es fanden sich auch in unserer Kommandantur Menschen mit vernebelten Gehirnen und schmutzigen Gedanken. In der Hoffnung, daß die Leiter der Kommandantur mit den Festlichkeiten beschäftigt sein würden und der Verkehr während der Schlammwetter-Periode eingestellt würde, hielten sie dies für einen geeigneten Moment, um die Meuterei durchzuführen, ein paar Siedlungen zu vernichten, zu bewaffnen und sich zu Solowjews Bande an den Mernij-See zu begeben.
Die Information über die Vorbereitung einer solchen Operation erhielten wir in den letzten Oktobertagen aus zwei Revieren, und zwar von unseren Geheimagenten, die sich unter den Sonder-Zwangsansiedlern befanden. Man mußte diesen gefährlichen Herd unverzüglich, so lange er noch keinen Schaden angerichtet hatte, vernichten. Nachdem wir das Problem auf einer geschlossenen Versammlung mit der Parteizelle und mit Salnikow und zwei Sergeanten - den Kommunisten Tschurkin und Petuchow - besprochen hatten, und alle mit dem Notwendigen bewaffnet worden waren, machten wir uns mit einem Motorkutter auf den Weg. Die Fahrt war sehr schwierig. Es war bereits November, Schnee fiel, die Temperaturen lagen bei minus 15 Grad. Die mehr als 100 Kilometer zu bewältigen wurde immer schwieriger, je weiter wir kamen. Es gab Treibeis; mit sechs Mann mußten wir die entgegen kommenden Eisschollen fortstoßen und standen dabei bis zu den Knien im eisigen Wasser, um den steckengebliebenen Kutter freizuziehen.
Nach großen Mühen erreichten wir in der Nacht zum 5. November unser Ziel. Den Kutter ließen wir 2 km von der Siedlung entfernt zurück und gingen dann zufuß am Ufer weiter. Genaue Kenntnisse über die Organisatoren und den Aufbewahrungsort der Waffen erleichterten uns den Überraschungseffekt. Es gelang uns 11 Mann festzunehmen und das Geheimnis zu entdecken, wo sie 4 doppelläufige Jagdgewehre, 100 Patronen, 7 selbstge-schmiedete Lanzen, 10 Äxte mit langen Stielen und 8 Dolche aufbewahrten. Nach sorgfältigen Verhören wurden sieben der Verhafteten wieder freigelassen; vier der Anführer und Organisatoren, welche die Waffen beschafft und eine Doppelflinte aufgetrieben hatten, mit der ein Chanten-Jäger getötet worden war, beschlossen sie zum Kommandostab mitzunehmen. Uns beunruhigte der Rückweg. Von Tag zu Tag wurde die Eisdecke auf dem Fluß immer stärker und dichter.
Um die Mittagszeit des 7. November machten wir uns auf den Rückweg. Uns halfen die Äxte mit den langen Stielen. Mit ihnen zerhackten wir das Eis und bewegten uns langsam voran. Die Verbrecher lagen aneinandergebunden in dem eisernen Kämmerchen. Am zweiten Tag der Reise waren wir gezwungen mit Sergeant Petuchow auf das Eis hinunterzusteigen, sonst hätten wir den Kutter nicht von der Stelle wegrücken können. Das Eis bog sich durch wie Gummi, aber es hielt uns. Wir zerhackten es, und plötzlich zerbarst die ganze Fläche, und wir befanden uns bis zur Brust im Wasser; wir kletterten hinauf. Salnikow und der Maschinist warfen uns einen Strick zu. Ich klammerte mich daran, und sie zogen mich heraus. In dem Moment traf mich eine riesige Eisscholle an der Brust.
Sie zogen uns heraus und wickelten uns in lange Pelzmäntel; dann legten sie uns in den Maschinenraum, wo es warm war. Petuchow hatte das Eis den Hals und den Arm zerschnitten, aus den Wunden floß Blut. Am Morgen war der Frost stärker geworden, es war unmöglich, mit dem Kutter weiterzufahren. Wir beschlossen zufuß zugehen und den Kutter in der Siedlung Nr.18, 40 km vom Stab entfernt, zurückzulassen. In der Siedlung nahmen wir uns zwei Sonder-Zwangsumsiedler mit Äxten, mit denen sie uns den Weg durch den Wald freimachen sollten. Nach zwei Tagen kamen wir beim Kommandostab an.
Diese ganzen Operationen blieben für mich nicht ohne Folgen. Die Prügel, das Bad im eisigen Wasser, der Stoß, den mir die Eisscholle versetzt hatte, hatten ihre Auswirkungen auf mein Herz; ich erkrankte an einer beidseitigen Lungenentzündung. Die Behandlung gestaltete sich schwierig, es gab keine Hoffnung auf eine baldige Genesung. Da kamen die Ärzte zu dem Schluß, daß ich unter keinen Umständen bis zum Frühjahr hier bleiben sollte, bis die Flußschiffahrt wieder einsetzte. Sie setzten einen Funkspruch an die Gebietsverwaltung der OGPU ab, mit der Bitte, einen Ersatzmann zu schicken und mir die schnellstmögliche Abreise nach Tomsk zu erlauben, um mich dort dringend ärztlich behandeln zu lassen.
Hier unterbreche ich kurz, um zu erzählen, was für ein Leben die nördlichen Volksgruppen vor der Oktober-Revolution geführt hatten. Das erzählte mir unser Nachbar, der Chante Juwan. Wenn wir abends mit ihm auf einem Holzbalken saßen, dann pflegte er oft von der Vergangenheit zu erzählen, wo bei er nicht eine einzige Minute seine Tabakspfeife zwischen den Zähnen herausnahm. Von Zeit zu Zeit, wenn die Pfeife zu heiß geworden war, machte sie zwitschernde Geräusche, und nur dann nahm Juwan sie aus dem Mund und sagte: "Ach, du Dummkopf, die Pfeife hat angefangen zu weinen, die Hitze tut ihr weh", - und fuhr mit seiner Erzählung fort. "Viele wilde Tiere hatte es gegeben, die Jagd war gut, vor Weihnachten erlegten wir viele, viele wilde Tiere, die Jurte behängten wir mit Füchsen, Zobeln, Hermelinen, sibirischen Mardern und zahlreichen Eichhörnchen, sehr viele Felle waren das. Aus Tomsk kam mit Rentieren ein Wachtmeister der Landmiliz angefahren, suchte alle Jurten auf, nahm vieles als Steuerabgabe für den Zaren mit, nahm auch für sich selbst schöne Felle mit, zwei oder drei Fuhren voller Felle nahm er auf dem Rentierschlitten mit. Dann sind ein Erzbischof und Mönche hergekommen, sie haben in den Jurten wenig zu essen vorgefunden; sie baten Gott, daß die Jäger viele Tiere jagten, und sie haben sich auch viele gute Felle ausgesucht. Es wurde viel gesprochen beim Bärenfell-Fäßchen mir Arrak (Wodka) - und dann drehte sich im Kopf alles. Dann hat der Kaufmann viele Felle gekauft, selber ausgesucht hat er sie sich: fünf Eichhörnchen - dafür ein Päckchen Tabak; ein sibirischer Marder, ein Fuchs - dafür ein Kattunhemd; ein schwarzer Fuchs - zwei Kattunhemden und ein Becher Arrak; ein Zobel - viele Kattunhemden und für die Frauen Glasperlen und Ohrringe; vieles gibt es zu kaufen, ein, zwei, drei Jurten, da gibt es viele Waren - und das Faß mit Arrak ist leer, aber das leere Fäßchen kann man ja auch noch verkaufen".
Das leer gewordene Faß für Wodka wurde den Chanten gegen Pelze verkauft. Die Chanten spülten das Faß ein paarmal aus und tranken das trübe Wasser, dannach zerhackten sie es in kleine Stücke, kochten alles und tranken auch diesen Sud, und das so lange, bis sie den Geschmack des Wodkas nicht mehr wahrnehmen konnten. Für diese Volksgruppen gab es in jener Zeit nichts wichtigeres und teureres als Wodka und Tabak, jahrelang kamen sie ohne Mehl und Graupen aus, aber ohne Tabak konnten sie nicht einen einzigen Tag lang leben. Den Jägern blieben für den freien Verkauf von Pelzwerk nur die schlechten Pelze. Einmal pro Jahr, im Februar oder März, fuhren die Chanten zum Verkauf der übriggebliebenen Pelze nach Kargassok, wo sie wieder für fast umsonst an Gauner und Spitzbuben verkauften. Wenn ein Jäger ohne blaue Flecken und "Veilchen" aus Kargassok zurückkehrte, dann sagte man, das sei wie bei einer erfolglosen Jagd gewesen.
Ab 1925 geriet in diese Einöde eine schwimmende Station der Staatlichen Pelzbeschaffung, die Pelzwaren zum vollen Wert annahm, sie tauschte dagegen keinerlei Nippsachen und Kleinigkeiten ein, sondern lebensnotwendige Waren -Lebensmittel, Waffen und Munition. Die Chanten besaßen nun auch Mehl, Graupen, Butter, Fett. Sie kleideten sich auch mehr oder weniger gut, hatten aber keine Ahnung, was Arbeits- und was Festtagskleidung war: in Cheviot-Anzügen begaben sie sich auf die Jagd, und mit denselben Anzügen gingen sie auch zu Feierlichkeiten.
Als der erste große Dampfer mit Sonder-Zwangsumsiedlern eintraf, kam eine Gruppe von zehn Chanten mit ihren Booten aus den nahegelegenen Jurten herbei. Sie sahen vergnüglich zu, schüttelten die köpfe und sagten: "Was für ein großes Boot, und sie heizen sogar den Ofen". Alle suchten mit ihren Augen nach den Ruderern und ihren Rudern, und dann fragten sie: "Wo sind denn hier die Ruderer? Warum sind sie nicht zu sehen? Es sind doch bestimmt sehr viele?" Da bat ich den Schiffskapitän, ihnen den Maschinenraum zu zeigen, und der Mechaniker führte sie durch den ganzen Dampfer, zeigte ihnen alles und erzählte ihnen, was und wozu das alles war. Sie hörten aufmerksam zu und, weil sie ihren Augen kaum trauen konnten, befühlten sie alles mit den Händen und schüttelten erneut die Köpfe. Wir erzählten ihnen, daß es eine Eisenbahnlinie gäbe, Lokomotiven, Waggons, und daß die Züge noch viel schneller fahren könnten, als ein "Oblassok" (langes, schmales Chanten-Boot aus Holz; Anm. d.Übers.), daß die Menschen in den Waggons sitzen, am Tisch sitzen und essen und hinterher dort auf weichen Betten schlafen. Und am Himmel würden Flugzeuge fliegen, die noch viel schneller wären als ein Zug, in denen man auch, genauso wie in einem Waggon, sitzen, essen und schlafen könnte. "Oh je, wie kann denn ein Mensch fliegen, eine Maschine, Eisen - wie kann das denn fliegen?"
Womit, außer mit Bauprojekten, beschäftigten sich die Zwangsumsiedler? Es existierten bei der Kommandantur Genossenschaften ohne feste Satzung. Die erste war eine Fischfang-Genossenschaft an der Wasjugan-Mündung; sie bestand aus 120 Leuten, die mit Booten und Hand-Geräten ausgestattet waren. Erfahrene Fischer fingen die besten Fischsorten: Sterlet, Taimen-Lachs, große Maränen und andere. Frischer Fisch wurde nach Kargassok geliefert, wo von den Mitgliedern dieser Genossenschaft eingesalzene Fische und Kaviar hergestellt wurden, die man dann nach Tomsk verschickte. Außerdem traf jeden Samstag in der Kommandantur eine Barkasse mit Fischen und Kaviar zum Verkauf im Laden ein. Ein bis zwei Störe (von jeweils 25 Kilogramm Gewicht), waren noch lebend an die Barkasse gekettet worden und wurden nun zur Kommandanten-Mannschaft herangeschleppt. Die andere Genossenschaft befaßte sich mit der Beschaffung von Fässern für Fisch und Kaviar, der Herstellung von Leiterwagen, Schlitten, Wagenrädern, Krummhölzern für Pferdegeschirre und Wagendeichseln. Die dritte kümmerte sich um die Beschaffung von Beeren, Pilzen und Nüssen von Zirbelkiefern. Die vierte jagte mit Hilfe von Fangeisen und Schlingen wilde Tiere. Derartige Genossenschaften wurden auch in den Siedlungskommandanturen organisiert.
Und nun zur Frage der Verpflegung der Sonder-Zwangsumsiedler. Ich sage es gerade heraus: sie war keineswegs schlechter als die der Arbeiter in den zentralen Bezirken. Die Leute erhielten Brot, die Arbeitenden 600 g, nichtarbeitende Familienmitglieder 400 g pro Tag. Milch ging, unter der Berücksichtigung, daß eine Kuh auf drei Familien verteilt war, in erster Linie an Kinder und Kranke. Außerdem wurde in jeder Siedlung für die Arbeitenden eine Gemeinschaftsverpflegung in primitiven, provisiorischen Eisenöfen (wie sie im Sommer draußen verwendet wurden; Anm.d.Übers.) organisiert, die einmal in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden ausgenutzt werden konnte.
Ich sollte erwähnen, daß ich - als ich zur Familie fuhr - am Ufer einen riesigen Vorrat an Lebensmitteln sah - verschiedene Sorten Gemüse, einen Stapel Säcke mit Mehl, Graupen und Nudelprodukten, ebenso Fässer mit Fisch, und Fett sowie Industriewaren unter einer Plane; alles andere lag unter freiem Himmel. All das zog sich auf einer Länge von einem Kilometer am Ufer des Kargassok hin. Ich dachte, daß, wenn es schon hier einen solchen Reichtum, einen solchen Überfluß gab, wie mußte es dann erst in den Städten aussehen? Bei uns in der Kommandantur gab es im Laden feines Weizenmehl, verschiedene Arten von Graupen, frische Früchte, Industriewaren. Schwarze, kurze Romanow-Pelzjacken kosteten 40 Rubel, Stiefel aus dem Fell junger Kühe - 16 Rubel, ein Paar gesteppte, wattierte Hosen nach militärischem Vorbild - 12 Rubel das Paar. Das alles gab es in unbegrenzter Menge für das Kollektivpersonal. Als ich in Tomsk ankam, gab es in der Kantine absolut nichts anderes als mageren Borschtsch aus gesalzenem Bärlauch. Ich war darüber nicht nur verwundert, sondern äußerst empört: wurde doch die Einöde für ehemalige Gegner der Sowjetmacht mit einer derartigen Fülle an Frachtgut für den Sommer überschüttet. Außerdem war ich überzeugt, daß der Winter schon vor der Tür stand und daß, mit Ausnahme der Lebensmittel, die sich im Gemüselager befanden, alles andere im Schnee versinken und verderben würde, während die Werktätigen im Gouvernementszentrum Hunger litten; all das wollte mir irgendwie nicht in den Kopf gehen.
Der Prozeß der Liquidierung der Kulakenschaft als Klasse verlief nicht ganz so glatt, man ließ Übergriffe zu, Fehler und Irrtümer, und zum Teil auch vorsätzliche Handlungen. Versteht sich, daß die Kulakenschaft in Wut geriet und sich nicht ohne Kampf ergab. Sie gingen zum Terror über, und dabei halfen ihnen - und führten sie sogar an - unzerschlagene Konterrevolutionäre aller Schattierungen. Hinzu kamen noch geduldete Übergriffe von Seiten der örtlichen Leitung. Zudem erhielt jedes Ortsexekutiv-Komitee einen von oben vorgegebenen Plan, in dem der zu erreichende prozentuale Anteil derer festgelegt war, die kollektivisiert werden sollten, denen das Stimmrecht zu entziehen war sowie die Anzahl der Verbannungen auf eine bestimmte Zeit. Weil sie diese Direktiven ausführen und einhalten mußten, wurden durch das Dorfaktiv und die Bevollmächtigten des Kreis-Komitees aufgrund des Mangels an tatsächlichen Kulaken Mittelbauern und teilweise soager Kleinbauern in Mitleidenschaft gezogen. Zum Beispiel wurden aus der Ortschaft Schuldat verbannt: Ismail Salawatow, Kolchos-Aktivist, der mehrmals zum Vorsitzenden des Dorf-Exekutiv-Komitees gewählt worden war, der aufrichtig arbeitete, zwei Stuten, eine Kuh und ein paar Stück Kleinvieh besaß. Da er keine eigenen Kinder hatte, zog er erinen siebenjährigen, obdachlosen Jungen groß, hatte ihn jedoch nicht formell adoptiert. Und deswegen wurde er als Ausbeuter verbannt. Zweites Beispiel: Dian Sajnulin, ein leistungsschwacher Mittelbauer - wurde in die Verbannung geschickt, weil er ein großes fünfwandiges Haus besaß. Als die verhafteten Meuterer verhört wurden, stellte sich heraus: zwei von ihnen waren kleine Mittelbauern; sie wurden nur verbannt, weil nicht genügend tatsächliche Kulaken im Dorf zu finden gewesen waren, obwohl alle im Dorf ihre Zustimmung gegeben und dies auf einer allgemeinen Versammlung bestätigt hatten. Heftig erzürnt über die Ungerechtigkeit gerieten sie unter den Einfluß derer, die die Meuterei organisierten.
Der Leser mag unwillkürlich denken, daß der Autor viel und genau von den Schwierigkeiten erzählt, die sich nach der sozialistischen Oktober-Revolution auf dem Lande fortsetzten, und teilweise von der Arbeit der Tschekisten, aber daß er nur wenig über die anderen Kommandantur-Mitarbeiter sagt. Die Kommandantur war territorial in drei Bezirke aufgeteilt: Tschischabka und zwei zwei Bezirke am Wasjugan, und für jeden Bezirk waren drei Helfer als Verantwortliche vorgesehen. Jeder von ihnen arbeitete in seinem Bezirk und stieß dabei auf alle möglichen Schwierigkeiten - nicht weniger als ich, vielleicht sogar noch erheblich mehr.
Ende Dezember erhielten wir einen Funkspruch von der Gebietsverwaltung der OGPU, in dem mir die Abreise nach Tomsk zur Fortsetzung meiner ärztlichen Behandlung gestattet wurde; ferner wurde darin mitgeteilt, daß am 18. Januar 1933 das erste Flugzeug nach Kargassok kommen würde, mit dem ich und meine Familie in die Stadt fliegen sollten, und daß gleichzeitig mit diesem Flugzeug auch meine Ablösung kommen würde, Hauptmann Popow und seine Ehefrau Jekaterina. Anfang Januar begann ich mich für die Abreise fertig zu machen. Die 200 km bis nach Kargassok mußten mit Pferden zurückgelegt werden, und das mitten im Winter, im hohen Norden. In der Werkstatt bestellte ich einen geräumigen, mit einer Filzdecke ausgeschlagenen offenes Fuhrwerk, damit wir zu dritt darin Platz fanden. Ich kaufte zwei schwarze Pelzmäntel aus Hundefell, in der Filzwalkerei bestellte ich Filzstiefel mit langen Schäften. Man teilte mir drei gute Pferde zu und erhöhte ihre Futterartion. Ich kaufte mehr als genug Lebensmittel ein, vor allem guten Fisch.. Und am 12. Januar machten wir uns mit zwei Fuhrwerken (eine offene Kutsche für mich, meine Frau und unsere Tochter, und, wie im Gänsemarsch dahinter - ein Schlitten mit Lebensmitteln und Sachen) auf den Weg. Zeit hatten wir genug, wir fuhren ohne Eile, übernachteten in Siedlungen der Kommandantur und hatten es nach drei Tagen und Nächten geschafft. Am 17. morgens kamen wir an, und am 18., gegen Mittag (es war ein Samstag), kam auch das zweimotorige Flugzeug angeflogen. Es war ein trüber Tag; über den zum Landeplatz vorbereiteten vereisten Fluß Ob fegte ein Schneesturm hinweg, die Signalzeichen war nur schlecht zur erkennen und die Landung gelang nicht. Das Flugzeug geriet aus der Bahn, Passagiere kamen jedoch nicht zu Schaden. Und ich sollte auf Entscheidung des Arztes unter keinen Umständen hier bleiben. Was sollte ich tun? Zurückfahren? Das bedeutete, sich Gefahren auszusetzen, möglicherweise auch Komplikationen der Krankheit hervorzurufen, aber bis zur Wiederaufnahme der Flußschiffahrt waren es noch fünf Monate hin. In der Wohnung Lasarews beratschlagten wir nicht nur einen Abend darüber und trafen dann die Entscheidung, mit Pferden bis nach Tomsk zu fahren. Der Kutscher Karmanow, verbannt wegen irgendwelcher Pelz-Machenschaften, war ein zuverlässiger und erfahrener Mann. Lebensmittel hatten wir genug, alles, was sonst fehlte, konnten wir an der Station hinzukaufen. Da fiel uns wieder die Jagd nach den Bären ein, die sommerliche Schießerei. Und es stellte sich heraus, daß vor uns, in der Richtung, in die wir geschossen hatten, im Wald ein Pferdestall gewesen war. Bei den Schüssen auf den Bären war eine der Kugeln in die Brust des Pferdes gelangt. Die Kugel stammte aus einer Nagan-Pistole, und aus der hatte Petuchow geschossen. Das war festgestellt worden, weil nach unserer Abreise ein Mitarbeiter der Station ein Denunziationsschreiben verfaßt hatte, daß wir angeblich das Pferd getötet hätten. Als Folge davon war das Pferd dann notgedrungen wieder ausgegraben und untersucht worden. Und dabei wurde dann auch die Kugel im Herzen entdeckt.
Am 20. Januar reisten wir weiter. Der Weg war schwierig, wir fuhren über das Eis des Ob und durch dichte Wälder, an beiden Ufern zog sich die dunkle Taiga hin; nur in ganz großen Abständen taten sich Inseln mit Waldlichtungen auf, wo, spärlich verstreut, Häuser von vor langer Zeit erbauten Siedlungen standen. Mitunter tauchte zwischen den riesigen Kiefern oder gigantischen Lärchen plötzlich eine Winterhütte auf, aus dicken Balken gebaute Häuser mit von der Zeit nachgedunkelten, nicht sehr hohen Bretterdächern. In die 10-12 Arschin (1 Arschin = 0,71 m; Anmerkung der Übersetzterin) großen Wände waren zwei bis drei kleine Fenster eingesetzt; die Decke war niedrig, die Wände ungebleicht, ein riesengroßer russischer Ofen, aus Tonerde zusammengebaut (auf so einen Herd konnten sich fünf Mann zum Schlafen hinlegen), lange Pritschen aus behauenen Stangen standen entlang den Wänden, wo Durchreisende sich ausruhen konnten.
Die Inhaber solcher Winterhütten waren finstere Menschen, wenngleich familienlieb. Viele von ihnen hatten hochbetagte Eltern; in der Vergangenheit waren diese alten Leute Vagabunden, aus dem Zuchthaus Entlaufene gewesen. In diesen Winterhütten machten alle Durchreisenden Halt, um zu übernachten, ihr Mittagessen einzunehmen oder die Pferde zu füttern. In den umliegenden, weiträumigen, eingezäunten Höfen stellten sie ihre beladenen Schlitten ab, und manchmal kamen dort 20-30 Fuhrwerke auf einmal zusammen.
Die Schneedecke in der Taiga erreichte eine Höhe von eineinhalb Metern; durch sie hindurch führte ein schmales Wegband, wie ein endloser Graben. Wenn wir auf entgegenkommende Fuhrwerke stießen, die mit Lasten beladen waren, dann waren wir jedes Mal gezwungen, den Weg zu verlassen und zu warten, bis sie vorbeigefahren waren. Aber wenn die Pferde den Weg verließen, dann versanken sie bis zum Rücken im Schnee. Danach gelangten wir nur mit größter Mühe wieder auf den Pfad - und das nahm jedesmal 30-40 Minuten in Anspruch. Innerhalb eines Tages trafen wir so auf fünf bis sechs Wagenzüge. Sie bewegten sich mit unterschiedlichen Frachten aus Tomsk nach Narym und Kargassok, um die Menschen in den entlegenen Gegenden des Nordens zu versorgen. Wir entschlossen uns, unsere Reisezeit zu ändern und fingen an, nachts zu fahren. Zu dieser Zeit übernachteten alle Wagentrecks in den Winterhütten und wir konnten bei Mondlicht ruhig dahinfahren. Sobald der Morgen dämmerte, suchten wir uns die nächstbeste Winterhütte oder Siedlung aus, wo wir dann bis zum späten Abend verweilten, die Pferde fütterten und uns selbst ausruhten.
Einmal begannen meine Beine vom vielen Sitzen zu schmerzen, ich wollte zufuß weitergehen. Ich legte meiner Frau die Zügel auf die Knie und sagte ihr, daß ich ein Stück zufuß gehen wollte. Ich kletterte aus dem Fuhrwerk, wobei ich mich an der Rückenlehne festhielt, und marschierte los. Aber meine Frau, warm eingehüllt in ihren Pelzmantel, war eingenickt und hatte nicht gemerkt, daß ich ausgestiegen war. Plötzlich setzten sich die Pferde in Trab, und nach wenigen Schritten mußte ich schon hinterherlaufen. In der schweren Kleidung kam ich schnell von Kräften, und kein Licht war zu sehen, Schneesturm, der Wind warf mich um. Ich begann zu schreien, meine Stimme verhallte, verlor sich. Da nahm ich die Pistole aus der Revolvertasche und begann zu schießen, den gtanzen Patronenstreifen schoß ich leer, aber auch das half nicht. Ich überlegte: was tun? Bei meinem Gesundheitszustand und bei so einem Wetter könnte etwas Schlimmes passieren, und ich hatte keine Ahnung, wie weit entfernt die nächste Siedlung lag. Auch an Zurückgehen war überhaupt nicht zu denken, das wäre auch ein weiter Weg gewesen; meine einzige Hoffnung war, daß meine Frau schnell irgendetwas unternahm.
Zur Hilfe kam uns die mit dem Gesicht zu uns gewandte dreijährige Tochter. Sie hatte schon längst bemerkt, daß ich nicht mehr da war, weckte die Mutter und fragte: "Wo ist Papa?" Und die Mutter, die nicht recht begriff, kam auf die Idee einen Scherz zu machen: "Sie haben Papa den Wölfen vorgeworfen". Tatsächlich hatten wir schon zweimal, nicht weit vom Weg entfernt, Wölfe gesehen. Unsere Tochter begann ernsthaft zu weinen, und erst da war meine Frau gezwungen, sich umzusehen und sich zu überzeugen, daß ich wirklich nicht da war. Da begann sie dem vorneweg fahrenden Kutscher Karmanow zuzuschreien. Jener hielt die Pferde an und versuchte etwa einen halben Kilometer zurückzugehen und zu rufen. Er vergewisserte sich, daß ich weit entfernt war. Mit Mühe wendete er unsere Stute, meine Frau und das Töchterchen blieben zurück, um den Schlitten mit dem Gepäck zu bewachen, und er selbst machte sich nach mir auf die Suche. So kamen wir dann nach insgesamt 20 Tagen und Nächten in Tomsk an.
In Tomsk besaß ich weder Famiienangehörige noch Bekannte, aber Karmanow hatte dort gute Bekannte, wo wir auch Hlt machten. Die Leute erwiesen sich als sehr gutherzig, gastfreundlich und aufmerksam, sie begrüßten uns und sorgten sich um uns als wären wir Verwandte. Nach zwei Tagen und Nächten hatten die Pferde sich ausgeruht und Karmanow machte sich, nachdem er sich von uns verabschiedet hatte, auf den Rückweg. Wie er dort ankam und was weiter aus ihm geworden ist, weiß ich bis heute nicht. Wir blieben sechs Tage bei den guten Leuten, und dank der freundlichen Fürsorge unserer Wirtsleute bekamen wir im Stadtzentrum, in der Podgornij-Gasse, eine schönes Zimmer. Ich versorgte meine Familie mit allem Notwendigen und begab mich dann zur stationären Behandlung ins Militärhospital.
Dank der täglichen Fürsorge unserer kommunistischen Partei überwand unser Volk auf dem von W.I. Lenin erarbeiteten Weg die Schwierigkeiten und ging nun vorwärts, dem Kommunismus entgegen, und hat die Revolution auf dem Lande erfolgreich vollendet. Es waren Jahre der Blüte, Jahre des Kampfes, Jahre des Aufstiegs der Volkswirtschaft, Jahre des Heldentums der Werktätigen und des sowjetischen Volkes.
Literarische Überarbeitung M. JEGOROWA
Veröffentlicht: Almanach JENISSEJ, Ausgabe 3, 1989