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Barbara Olendska. Erinnerungen

  Barbara Olendska (*1) (Ehename Slobodsjanek) wurde 1944 im Alter von 30 Jahren in Bialystok verhaftet. Sie durchlief die Gefängnisse von Ostaschkow und Kalinin, wo man ihr die Haftstrafe verkündete: 8 Jahre. Darauf folgte die Etappe zur Station Tschum (zwischen Inta und Workuta), zu einem Lagerpunkt des PetschorLag. 1949 schickte man sie zuammen mit anderen politischen Häftlingen ins OserLag, zur Trasse Tajschet-Bratsk. Die letzten drei Jahre ihrer Lagerhaftzeit arbeitete sie in der Krankenzone an der Station Tschukscha im Tschunsker Kreis, Gebiet Irkutsk; anschließend geriet sie in die Verbannung in den Jenissejsker Kreis.

Das Jahr 1952 ging dem Ende entgegen, Weihnachten näherte sich. Aber den Feiertag beging ich schon nicht mehr im Laboratorium des Krankenhauses: man rief mich zur Freilassung auf. Obwohl ich 8 Jahre und 2 Monate in Gefängnissen und Lagern gesessen hatte, sagten sie mir, daß ich vorzeitig entlassen würde. Aufgrund guter Arbeit gaben sie mir sogenannte "Anrechnungstage". Die Zeit, die ich im Gefängnis verbracht hatte, war zeitlich für die Haftstrafe nicht anerkannt worden.

Zum Abschied bemühten sich die Freunde, mich etwas besser einzukleiden. Basja Dumnizka hatte mir ein wunderschönes Kleid aus Fäden gestrickt, die sie aus einer Decke herausgezogen hatte. Sosja Lechowitsch und Marjanka hatten mir eine neue, wattierte Decke aus Watte und Verbandmull genäht. Sosja Lechowitsch erhielt immer Pakete von ihren Verwandten in Lwow, denen es manchmal gelang, Briefe und Geld darin zu verstecken. Jetzt gab sie mir Geld für den Weg mit.

Weihnachten und Neujahr verbrachte ich im Durchgangslager in Tajschet. Leider war ich dort die einzige Polin. Im Januar 1953 transportierte man uns vom Tajschetsker Durchgangslager nach Krasnojarsk. Man verlas mir mein neues Urteil: lebenslängliche Verbannung. Es war verboten, aus eigenem Willen den zugewiesenen Wohnort zu verlassen, und einmal im Monat mußte ich mich in der Kommandantur melden.

Im Krasnojarsker Gefängnis fand ein wahrer "Jahrmarkt" mit Sklavenarbeitskräften statt, fast ohne jegliches Entgelt. Und dann die übliche Ärztekommission. Jene, die etwas kräftiger waren, wurden in der Waldwirtschaft eingestellt, und die "Abkratzer" teilte man den Kolchosen zu. Da ich in den vergangenen Jahren im Krankenhaus gearbeitet hatte, gab es keinen Grund, mich zu den hundertprozentigen Abkratzern zu zählen.

Im Durchgangslager in Tajschet, und anschließend im Krasnojarsker Gefängnis, sprach ich viel mit Anna Lasarewa, einer sehr interessanten und klugen Jüdin. Offensichtlich hatte sie große Verdienste im Kommunismus errungen. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie i Frankreich verbracht und war viele Male als Verteidigerin bei Prozessen gegen Kommunisten aufgetreten, darunter auch im Dimitrow-Prozeß. Sie hatte viele Jahre in Frankreich gelebt, sich jedoch in den ersten Jahren nicht mit Politik befaßt, sondern sich lediglich die Sprache angeeignet, um sie so gut wie die eigene Muttersprache zu beherrschen und keinerlei Verdacht hervorzurufen. Wegen ihrer kommunistischen Grundeinstellung hatte sie sich von ihrer Tochter losgesagt und wußte nicht einmal, in welchem Land sie lebte. Sie selbst beschäftigte sich auch noch mit kommunistischer Propaganda. Ihr Ehemann nahm aktiv am Kampf der Kommunisten gegen die Macht in China teil. Und scheinbar hatte er sich auch irgendetwas zuschulden kommen lassen, denn er war zu 15 Jahren verurteilt worden.

Ich begegnete nicht wenigen solcher Propagandisten und polnischen Frauen im Tajscheter Durchgangslager. Und nach den interessanten Unterhaltungen in den völlig überfüllten Zellen des Krasnojarsker Gefängnisses ging es dann endlich auf Etappe. Bei 58 Grad Frost mußten wir in einen Autobus einsteigen, der uns in den Jenissejsker Kreis brachte, zur Waldwirtschaft. Unterwegs blieb der Bus in Schneewehen stecken, und die ganze Nacht hindurch, bei schrecklichem Frost, ohne warme Kleidung und Filzstiefel, mußten wir das Fahrzeug aus den Schneehaufen herausschieben. Endlich, gegen Morgen, kamen wir in Jenissejsk an, und von dort ging es weiter mit Schlitten über den zugefrorenen Jenissej zum rechten Ufer hinüber, nach Syrjanka. Von da aus schickte man mich und noch ein paar Frauen ins sogenannte mittlere Revier. Dort standen insgesamt zwei Baracken - eine für Männer, die andere für Frauen. Es gab dort keinen einzigen Polen. Aber ich freundete mich mit einem Jakuten-Mädchen an - Motja Pawlowa. Dieses einfache, aber aufrichtige und ordentliche Mädchen, faßte große Zuneigung zu mir. Jeden Tag gingen wir zur Arbeit in den Wald: Äste von gefällten Bäumen abschlagen, die Äste aufsammeln und verbrennen, den Schnee von den Bäumen wegschippen, so daß man sie mit der Benzinsäge bearbeiten konnte.

Sieben Kilometer mußten wir bis zur Arbeit laufen und nach der Arbeit dieselbe Strecke wieder zurück; dabei hatten wir -30 bis -40 Grad Frost. Das Gehen viel sehr schwer – bis zu den Knien steckten wir im Schnee. Irgendeiner ging vorneweg, und die anderen versuchten in seine Fußstapfen zu treten. Später stellte ich mir so etwas ähnliches wie Skier her, aus einfachen, 15 cm breiten Brettchen, die ich mit einem Bindfaden an den Filzstiefeln festband. Wir marschierten noch bei Dunkelheit zur Arbeit aus, und wenn wir wieder zurückkamen war es auch schon finster. Das Mittagessen wurde uns gebracht, aber wir schlürften nur die Suppe: unsere Löhne reichten nicht für ein zweites Gericht (das war üblicherweise ein Auflauf oder ein Stückchen Wurst). Wenn man von der Arbeit zurückgekommen war, mußte man schnell irgend etwas kochen.

Ich tat mich an Kartoffeln gütlich, die ich neun Jahre lang nicht mehr gegessen hatte. Wir konnten sie bei einer alten Litauerin kaufen, die schon mehrere Jahre im „mittleren“ Revier lebte.

An Sonntagen kam vom Hauptrevier der Ladenleiter mit dem Schlitten angefahren. Bei ihm konnten wir Brot, Fett, Graupen, Pflanzenöl und manchmal sogar „pilimeni“ (kleine mit Fleisch gefüllte Teigtaschen) kaufen.

Die schwierigste Prüfung aber war die Einsamkeit. Die Polen hielten im Lager immer zusammen, aber hier war ich ganz allein. Während ich morgens zur Arbeit ging, wiederholte ich den ganzen Weg über Gedichte, die ich im Gedächtnis behalten hatte. Es waren Auszüge aus „Pan Tadeusz“, „Gott, ich bin traurig“, „Ode an die Jugend“, „Die Verdammten“ von Ujejskij und viele andere. Außerdem kannte ich „Die Messe“ von Graschina Lipinskaja auswendig, die sie 1941 in Minsk gedichtet hatte, als sie nach der ersten Verhaftung ihre Haftstrafe absaß. Diese Messe hatte sie uns nach Tschukscha geschickt, als sie in der Glimmerfabrik bei Bratsk gearbeitet hatte.

„Ein Sonntagmorgen im Mai...
Lauscht auf, Schwestern, schweigt...
Ein Klang breitet sich über dem himmelblauen Fluß aus,
Über Wisla, Warthe, Nerman, Wilija und Bug,
Aus der Ferne klingt es in unserer Brust...“

Briefe nach Polen schickte ich via Lwow, über Sophia Lechowitsch. Meine Verwandten wußten, daß ich lebte und wo ich war. Nachdem ich drei Monate im „mittleren“ Revier verbracht hatte, erfuhr ich, daß sich 19 km von mir entfernt, in der Tagia, in Okunjowo, am rechten Ufer des Jenissej, ein „Maschinenpark“ befand und daß es dort eine ganze Gruppe von Polen gab. Unter ihnen waren auch die mir bekannte Galina Lemberg und ihre Mutter. Mit Galina hatte ich in den Lagern von Tajschet Kolonnenarbeiten verrichtet.

Ich bat einen der litauischen Taktoristen mich nach Okunjowo zu bringen. Tatsächlich fand sich dort eine große Gruppe Polen: Frau Lemberg und ihre Tochter Galina, die mit Sdsislaw Wlad aus Lwow verheiratet war, Kasimesch Slobodsjanek (2*) aus Lwow und Kasimesch Charassimowitsch aus Baranowitschi, Jan Kowalewskij aus der Umgebung von Oschmjany, Boleslaw Maksimowitsch aus Grodno, der Doktor der Rechtswissenschaften Josef Lustgarten aus Krakow und einige Ukrainer und Ukrainerinnen aus unserer Heimat. Unter ihnen war auch Prokop Matwejtschuk aus Ljublin – er arbeitete mit meiner Schwester und ihrem Mann Konrad Wolosjuk bei der Post.

Der Litauer sagte mir, daß die Polen gewöhnlich in dem Häuschen von Kasimesch Slobodsjanek zusammenkommen würden, welches er für sich selbst am hochgelegenen Ufer des Flüßchens Syrjanka, einem Nebenfluß des Jenissej, gebaut hatte. Ich betrat die geheizte Küche mit wattierten Hosen und Matrosenjacke und eingehüllt in ein Wolltuch. Unsere Augen trafen sich und füllten sich mit Wärme. Ein ganzer Strom dieser Wärme ging durch mich hindurch, erstes Anzeichen eines tiefen Gefühls. Von dort ging ich zu Wlad; er und Galina wohnten in dem Holzhäuschen nebenan. Wie angenehm war es doch, die eigene Muttersprache zu hören! Dorthin kam auch Herr Matbejtschuk, und gemeinsam kehrten wir unter die gastfreundliche Obhut Slobodsjaneks zurück. Auf dem Tisch tauchten sogleich Essen und Getränke auf (er verstand es immer, alles, was nötig war, aus dem Nichts heraus zu zaubern) und „Schnäpschen“, verdünnt mit irgendeinem Saft. Das Erzählen nahm und nahm kein Ende.

Zum Schluß fragte Kasik, ob ich nicht nach Okunjowo umziehen wollte. Natürlich, das stand ganz mit meinen Wünschen im Einklang. Nach ein paar Tagen saß Kasik mit dem Bauleiter der Waldwirtschaft Babin und dem Leiter des Maschinenparks Nowikow bei einer Flasche im Gespräch zusammen, und eine Woche später holte er mich mit einem Leiterwagen ab. Ausgerechnet jetzt war meine frisch gewaschene Wäsche am Trocknen. Nasse und bereits trockene Sachen warf ich schnell zusammen in einen Sperrholz-Koffer (den man noch im Lager für mich angefertigt hatte). Es war eine helle Mondnacht; wir machten uns auf den Weg – zwanzig Kilometer durch die zugeschneite Taiga.

Ohne Abenteuer ging es nicht ab. Zuerst gerieten wir in eine große Kuhle, die mit einer meterhohen Schneeschicht gefüllt war. Wir mußten das Pferd ausspannen, es herausziehen, und anschließend auch den Leiterwagen. Kaum waren wir herausgekommen – wieder eine Grube. Kasik flog über das Pferd hinweg und verschwand in einer Schneewehe, nur ein Bein ragte noch heraus. Nur mit Mühe gelang es ihm sich zu befreien. Und ich konnte überhaupt nichts mehr machen – schallendes Gelächter hatte mich erfaßt. Gegen Ende der Reise kamen wir noch vom Weg ab, und als wir dann endlich Okunjowo erreichten hatten,wurde es bereits hell.

Ich kam in der Frauenbaracke unter und arbeitete bei der Reparaturstelle für Traktoren-Wege. Zusammen mit Olga Lwowa und Ljuba Denissowa (ich hatte die beiden im Tajscheter Durchgangslager kennnengelernt) legte ich die Wege mit Stangen aus und baute kleine Stege über die Bäche. Auf solchen Wegen wurden mit Traktoren „balany“ (von Ästen gesäuberte Kiefernbalken) aus der Taiga abtransportiert.

Nach der Arbeit kam Kasik mit seinem Freund Charassimowitsch. Dieser Freund, der mit mir gemeinsam zur Arbeit gegangen war, überzeugte mich davon meine Zweifel zu zerstreuen und mein Leben mit dem Kasiks zu verbinden, denn auf unser baldiges Wiedersehen mit dem Vaterland zu hoffen, lohnte sich nicht.

Nicht nur einmal begegneten wir Polen, die schon lange Zeit in Sibirien lebten. Hier einige Namen: Chodkewitsch, Strotzkij, Kucharskij, Ljubawskij, Kossinskij, Krassowskij und andere. Es waren größtenteils Nachfahren von Aufständischen. Ihre Muttersprache konnten sie bereits kaum noch erinnern Mit einem von ihnen unterhielt ich mich auf dem Basar. Er sagte: „Mein Großvater und meine Eltern glaubten, daß sie irgendwann einmal in die Heimat zurückkehren würden. Doch es kam anders. Sie mußten sich ihr Leben hier einrichten, in Sibirien. Aber ich kann mich noch daran erinnern, wie der Großvater Lieder über Polen sang und eine Mazurka tanzte“. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ich erwiderte scharf, daß wir nach Polen zurückgehen würden. Er wiegte seinen Kopf hin und her und meinte: „Das gebe Gott!“

Noch ein paar Worte über Kasik. Er wurde 1911 in Lwow geboren; sein Vater war Eisenbahner. Er war der älteste Sohn von insgesamt 11 Kindern, half der Mutter beim Großziehen der Brüderchen und Schwesterchen und wußte daher gut, wie man im Leben alles machte. In seiner Kindheit zeigte er eine glänzende Begabung zur Musik, aber der Vater klammerte sich an die Überzeugung, daß die „Kinder der Nachtigall auch wie Nachtigallen aufwachsen sollen, und die Kinder der Spatzen eben wie Spatzen“. Er hatte eine wunderschöne Stimme, aber der Vater ließ ihn nicht zum Chor-Unterricht gehen, wo man Kasik eine Sänger-Karriere vorausgesagt hatte. Der Vater erklärte: „Ist das etwa ein Beruf – Künstler?“

Kasik träumte davon, Geige zu spielen. Irgendwie konnte die Mutter den Vater einmal dazu bewegen, mit Kasik in eine Musikalienhandlung zu gehen und ihm die versprochene Geige zu kaufen. Als sie jedoch bei dem Geschäft angelangt waren, weigerte sich der Vater plötzlich: angeblich wäre es zu teuer, dafür wäre kein Geld da. Aber für Wodka in gemütlicher Gesellschaft reichte sein Geld immer. Nachdem sie das Geschäft verlassen hatten, verlor Kasik vor lauter Enttäuschung das Bewußtsein.

Nach Beendigung der allgemeinbildenden Schule ging er zur Gewerbeschule und arbeitete gleichzeitig in der Waffenfabrik. Anschließend absolvierte er Lehrgänge am Swark-Institut in Kattowitz und arbeitete als Instrukteur bei der Eisenbahn in Lwow. Der Verdienst war nicht schlecht. Er heiratete – auf Drängen des Vaters, wegen eines zu weit gegangenen Flirts. Aber das Familienleben verlief nicht einträchtig. Ohne seiner Frau oder seinen Eltern etwas zu sagen verließ Kasik Lwow. Seiner starken Natur war die trübe Alltäglichkeit zuwider geworden.

Er machte sich auf, um die Welt zu entdecken und trat der Fremdenlegion bei. Dort wurde er mit seiner Tapferkeit berühmt. Einmal wurde ihr Stützpunkt von Arabern belagert, und man mußte die benachbarten Stützpunkte zur Hilfe rufen; der Weg dorthin führte zig Kilometer durch reines Wüstengebiet.

In den 1930-er Jahren gab es in der Sahara keine Funkverbindungen. Irgendeiner mußte die Umzingelung im Schutze der Nacht durchbrechen. Kasik wurde herbeigerufen. Er kroch an den Wagenzug der Araber heran und schwang sich auf eine Stute. Die Stute begann zu wiehern, denn sie hatte den fremden Reiter gewittert, und die Araber jagten hinter ihm her. Kasik jagte über das karge Land dahin wie ein Wirbelwind, wehrte die Araber durch Schüsse ab und warf Granaten. Am Ende seiner Kräfte angelangt, schaffte er es mit Mühe zu den Seinen und machte sich, ohne Auszuruhen, sogleich mit der herbeigeholten Verstärkung auf den Rückweg. Die Hilfe war beinahe zu spät gekommen: an den Mauern ihrer Festung kletterte bereits ein Araber nach dem anderen, mit Dolchen und Gewehren bewaffnet, nach oben.

Nach Lwow schrieb er nicht. Dennoch gelang es dem Vater ihn ausfindig zu machen. Unmittelbar vor dem Krieg kehrte er aus der Legion nach Lwow zurück. Das viele Geld, das er in den Kämpfen verdient hatte, verpraßte er zusammen mit dem Vater.

Das Jahr 1939. Krieg. Kasik nahm an den schweren Kämpfen am Fluß Bsura teil. Er geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, konnte jedoch fliehen und kehrte nach Lwow zurück. Hier arbeitete er wieder bei der Eisenbahn und nahm in den Reihen der Armija Krajova (polnische Heimatarmee; Anm. d. Übers.) aktiv an Sabotage-Aktionen gegen die Okkupanten teil.

1944 wurde er verhaftet. Während des Untersuchungsverfahrens mußte er vieles ertragen. Danach hatte er für den Rest seines Lebens ständig Probleme mit dem Mastdarm, denn während der Verhöre hatte man ihn mit einer Flasche zum Krüppel gemacht. Seine 5-jährige Haftstrafe verbüße Kasik zuerst in einer Kohlengrube im Donbas, wo er einmal, zusammen mit anderen Häftlingen, 24 Stunden lang verschüttet war. Die Schachtanlagen im Donbas sind nicht tief, so daß es gelang sie freizuschaufeln. Anschließend wurde er auf Etappe in den Norden geschickt. Er wurde als sogenannter „Abkratzer“ anerkannt und lange Zeit im Lagerkrankenhaus in Kotlas behandelt. Als er wieder etwas zu Kräften gekommen war, gelangte er nach Workuta und fing an als Schweißer in der Mechaniker-Werkstatt zu arbeiten.

Er verstand es, seine Abenteuer sehr bildhaft zu beschreiben. Als man ihn gerade erst nach Workuta gebracht hatte, geriet er in eine Baracke, die von „blatnye“ (Berufsverbrecher; Anm.. d. Übers.) besiedelt war, bei denen es sich größtenteils um Wiederholungstäter handelte. Nachdem er den Sack mit seinen Sachen auf eine Pritsche gelegt hatte, ging er zu den anderen Baracken, um in Erfahrung zu bringen, ob es dort nicht vielleicht Polen gab. Nachdem er zurückgekehrt war, fand er seine Sachen nicht mehr vor und er fragte den Stubenältesten, wo sie hingekommen seien. Der Diensthabende, ebenfalls ein „blatnoj“ antwortete: „Na was denn, du Scheusal, soll ich dir etwa dein wertloses Zeug auch noch bewachen?“ Da begann Kasik selber zu suchen. Er trat an die Pritsche heran, die bei weitem anständiger als alle anderen aussah, hob die Matratze hoch und schaute darunter, ob dort nicht seine Sachen wären. Es handelte sich um die Pritsche des Diebesfürsten. Einer der Gewohnheitsverbrecher versetzte Kasik einen wuchtigen Schlag: „Was suchst du eigentlich hier, du Polen-Fratze?“, und der Fürst schubste ihn heftig. Aber Kasik, ein Lwower Straßenkind, verlor nicht den Kopf. Er rammte dem Diebesfürsten derart den Kopf in den Bauch, daß dieser auf die Pritsche flog. Die ganze Verbrecher-Gruppe warf sich nun auf Kasik und schrie: „Fleh um Gnade, du Lump, deine letztes Stündlein hat geschlagen!“ Und dann folgte noch eine ganze Kanonande von Schimpfworten. Kasik antwortete ihnen in derselben Weise auf Polnisch. Aber da rief ein Blatnoj aus Minsk: „Halt – das ist einer von uns!“ Und der Diebesfürst, der auf „Gastrolle“ in Lwow gewesen war, begann Kasik über die Lwower Banditenszene auszufragen. Kasik hatte von ihnen schon einmal etwas gehört und fing an sie aufzuzählen, als wenn es seine Freunde wären. Danach brachten die Diebe ihm Achtung entgegen und luden ihn sogar einmal zu ihrem „Bankett“ ein, wo es eine Fülle von Delikatessen gab: Speck, Knoblauch und sogar Alkohol in einer Teekanne. Für Kasik blieb es ein Rätsel, wie sie das alles beschafft hatten.

Damals begann er in der Mechaniker-Werkstatt zu arbeiten; man verlegte ihn in eine andere Baracke. Dort fand er neue Freunde. Er lebte nicht schlecht, nach allgemeinem Lagerver-ständnis sogar ausgezeichnet – besonders, nachdem ihm die Idee in den Kopf geschossen war, sich mit der Herstellung von Zahnprothesen zu befassen. Die Karriere als „Zahnarzt“ – das ist ein ganz separates Kapitel im Buch seines Lebens, äußerst farbenfroh und spannend. Er hantierte mit den gröbsten Werkzeugen herum, zog Zähne, plombierte, setzte Brücken und Kronen ein. Als Material dienten ihm kleine Tafeln von importierten Werkbänken, die vor allem aus Deutschland stammten. Außerdem machte er sogenannte Fixierungen für die Wachmannschaften des NKWD – denen gefiel es nämlich, beim Lächeln ihre goldenen Zähne zu zeigen (natürlich war dieses „Gold“ nicht echt). Für diese Arbeit bezahlten sie gewöhnlich mit Brot, Zucker, eingewecktem, geschmorten Fleisch oder Machorka (minderwertiger Tabak; Anm..d..Übers.). Als Instrumente dienten ein Meißel, eine Flachzange und eine Zange, mit der Kasik Zähne zog. Zur Desinfektion verwendete er Jod. Abdrücke wurden aus Stearin oder gewöhnlichem Lehm gefertigt. Als es keine fabrikmäßig produzierten Kronen gab, stellte Kasik sie aus den rostfreien Stahlplättchen von Motoren oder Werkbänken her. Auch Brücken machte er daraus. „Er war ein bemerkenswerter Zahnarzt!“.

Nach Verbüßung der Haftstrafe schickten sie ihn von Workuta zur „Ansiedlung auf Lebenszeit“ in die Region Krasnojarsk. Hier arbeitete er auch als Schweißer: zuerst in Okunjowo und dann in der Maschinenfabrik in Jenissejsk, wo er ein Wasserwerfer-Boot baute, das von ortsansässigen Ingenieuren konstruiert worden war. Einer der Konstrukteure dieses Kutters, der Ingenieur und Oberst J.A. Miller, lebte in Jenissejsk, genau gegenüber von uns, in der Straße der Union.

Ende April 1953 ließ ich mich mit Kasik unter einem gemeinsamen Dach nieder. Mit Brot und Salz begrüßte uns, wie es der Brauch ist, wenn man die Neuvermählten feiert, Janek Kowalewski. So begann das Leben so glücklich, wie es eben in Unfreiheit möglich war. Kasik war schrecklich aufgeregt, als er erfuhr, daß er der erste Mann in meinem Leben war. Nach einigen Jahren des Hungers war er nicht sehr überzeugt von seinen männlichen Fähigkeiten.

In meinem Leben hatte es ein paar tiefe, ernsthafte Verliebtheiten und viele Sympathien gegeben, aber all das hatte sich nur auf geistiger Ebene abgespielt.So war ich erzogen worden, und vielleicht war das auch eine Sache meines gemäßigten Temperaments. Die Männer, die das Lager durchliefen, besaßen meist von den Frauen nicht gerade die beste Meinung. Die Frauen waren tatsächlich verschieden, besonders gewöhnt an freie Liebe waren die Russinnen und Ukrainerinnen aus der sogenannten Großen Ukraine, aber wir, die Polinnen, benahmen uns in den Lagern sehr ehrenvoll. Möglicherweise gab es auch einmal eine Ausnahme, aber das geschah zweifellos sehr selten.

In Okunjowo, mitten in der Taiga, lebten wir ein ganzes Jahr lang. Unser Häuschen stand an einer wunderschönen Stelle, am hochgelegenen Ufer der Syrjanka, einem Nebenfluß des Jenissej. Das Flüßchen hatte eine sehr schnelle Strömung, sogar mitten im Sommer war das Wasser eisbedeckt, dafür im Winter stellenweise überhaupt nicht, nicht einmal dann, wenn strengster Frost herrschte. Ringsherum endlose Taiga. Die Umgebung von Jenissejsk ist nicht besonders reich an Baumarten: an Nadelbäumen gibt es Kiefern, Tannen, Zirbelkiefern und Lärchen, und an Laubbäumen – Birken Espen, Erlen und Faulbeerbäume. Aus den Beeren der Faulbeerbäume buken die Sibirer Kuchen.

Die Natur in der Taiga ist sehr wild; man kommt in ihr nur schwer voran und verirrt sich leicht. Die meisten Bäume wachsen in chaotischer Unordnung. Junge Bäumchen, Büsche, hohe Gräser bilden ein dichtes Unterholz. Die Taiga-Zone unterscheidet sich durch ihren Reichtum an Wasser – Bäche, Sümpfe und Seen, die ständig mit Gras bedeckt sind und sich mit der Zeit ebenfalls in Sumpfgebiet verwandeln.

Bis zu einem gewissen Grad war die Taiga unsere Amme. Im Sommer ging ich Heidelbeeren sammeln - mit einer Art Handschaufel und einem daran befindlichen Kamm -, die Kasik selbst gebastelt hatte. Wenn man in den Wald ging, mußte man sogar bei großer Hitze eine Hose, eine lange Jacke mit Ärmeln und einen Netzhut gegen die Insekten anziehen. Das Allerschlimmste in der Taiga sind die Kriebelmücken, Bremsen und Mücken. Ohne Netzhut darf man den Wald auf gar keinen Fall betreten. Wenn einige hundert Meter entfernt Traktoren aufheulen, dann werden sie übertönt vom Summen der stechenden und anderen Insekten.

Außerdem sammelte ich auch rote Johannisbeeren (die ortsansässigen Frauen nennen sie Sauerbeeren und sammeln sie niemals), Preiselbeeren und Moosbeeren. Auch Pilze gibt es in der Taiga im Überfluß, vor allem Steinpilze, die sehr schnell bis zur Größe einer Untertasse heranwachsen. Kleinen Pilzen bin ich fast nie begegnet (allerdings haben wir solche auch nicht gesucht). Aber diese Pilze haben nicht so einen Geruch wie unsere Steinpilze. Es gibt übrigens in Sibirien ein Sprichwort: Blumen ohne Duft, Frauen ohne Liebe, aber 100 Werst sind keine Entfernung. Tatsächlich gibt es sehr viele Blumen – und groß sind sie. Waldpäonien, Iris und Orchideen, Seeröschen, welche sich von Insekten ernähren, die in ihren Blütenkelch hineingeraten sind – all das erzeugt einen merkwürdigen und unheimlichen Eindruck. Um noch einmal auf die Pilze zurückzukommen: Steinpilze, Butterpilze und Rothäuptchen werden von den hier lebenden Menschen nicht gesammelt. Sie ziehen Lamellen-Pilze vor: Reizker, Grünlinge und Milchpilze. Diese Pilze weichen sie 24 Stunden in Wasser ein und salzen sie dann in Fässern ein. Aber Kasik und ich trockneten und marinierten diese Pilze. In der Tat gelang eine gute Marinade aus Baum-Essig nicht besonders. Deswegen trocknete ich den größten Teil der Pilze.

In der Taiga gibt es auch viele feuchte Stellen, dort, wo Moosbeeren wachsen. Wenn ich einsam auf der Suche nach Beeren und Pilzen herumstreifte, nahm ich nicht nur einmal den unheimlichen und verzaubernden Geruch der Taiga war. Die von Zeit zu Zeit leise knarrenden vertrockneten Bäume auf dem öden Land, auf denen Auerhähne und Birkhähne saßen, verbreiteten in mir eine merkwürdige Unruhe. Nicht ein einziges Mal traf ich einen Bären. Ich sah nur ein paar Bärenjunge, die bereits von Jägern gefangen worden waren. Aber in der Taiga sah ich nur Eichhörnchen und die ihnen ähnlichen Erdhörnchen.

Und noch etwas zu den sibirischen Jägern. In Okunjowo lebte ein kleines, unansehnliches Männchen, nicht größer als 150 cm und fast immer betrunken. Aber er hatte einen eigentümlichen, durchdringenden Blick. Außerdem hatte er noch zwei Hunde und eine Ehefrau, ebenfalls ständig betrunken. Er war ein hervorragender Jäger. Auf sein Konto ging ein halbes Hundert erlegter Bären und nicht weniger Elche. Er verkaufte häufig Fleisch – heimlich natürlich, ohne Wissen der Behörden. Wir kauften Elchfleisch, aber – niemals Bärenfleisch! Irgendwie hatte Kasik einmal bei ihm wegen Fleisch hereingeschaut und war erstarrt: auf dem Boden lag eine nackte, tote Frau, und alles war voller Blut. Auf seine Frage brach der Jäger in Lachen aus und sagte, daß es eine abgehäutete Bärin wäre. Aber Kasik kaufte weder Fleisch noch Fett, wenngleich Bärenfett eine gewisse Heilwirkung zugeschrieben wird. Jedenfalls war Matschko aus Bogdanjez (3*) dieser Meinung.

Aber Kasik hatte in der Taiga die Gelegenheit auf einen Bären zu stoßen. Er erledigte ständig irgendwelche Arbeiten für den Okunjowsker Kommandanten (mal baute er Kinderschlitten, mal lötete er Kochtöpfe oder tat sonst irgendetwas), und deswegen hat er zu dem Kommandanten eine „gute Beziehung“ (das ist sogar noch mehr, als bloße Protektion). In Rußland sagt man: „Beziehungen sind mehr wert als das Volkskommissariat!“ Irgendwie bat er den Kommandanten einmal um eine Schrotflinte und ging mit einem Freund auf die Jagd nach Auerhähnen. Als sie ziemlich tief in der Taiga herumstreiften, sahen sie einen kleinen See und beschlossen, dort ein wenig Wasser zu trinken, und das doppelläufige Gewehr stellten sie derweil unter einen Baum. Als sie sich zum Wasser hinabbeugten, bemerkten sie das Spiegelbild eines Bären, der in den Büschen herumschlich und sich an Himbeeren gütlich tat. Beim Anblick des Bären vergaßen sie vollkommen das Jagdgewehr und liefen weg so schnell sie konnten, wenn nur die Beine sie forttrugen. Aber das Gewehr mußte zurückgegeben werden. Am nächsten Tag ging Kasik zusammen mit dem Kommandanten an den Ort zurück. Die Flinte lag noch dort, aber mit verbogenem Schaft; sie war schon zu nichts mehr zu gebrauchen.

In der Taiga, in Flußnähe, pflanzten wir auf einem gerodeten Stück Land Kohl und Kartoffeln an. Der Boden ist dort sehr fruchtbar. Es reichte vollkommen aus, Kartoffelkeimlinge einzupflanzen, um dann im Herbst eine reiche Ernte einzubringen. Und dann hielten wir auch noch ein Ferkel und ein paar Hühner. So drohte uns kein Hunger. Später schlachteten wir das Ferkel, machten Wurst und Schinken daraus, und Kasik räucherte alles in der selbstgebauten Raücherkammer. Ich beschloß meinen Freundinnen aus dem Lager ein Paket zu schicken: Anjela Rybartschik und Basja Dumnizkaja. In das Paket mit den Räucherwaren für Frau Anjela legte ich auch ein Paar Filzstiefel, die ich bei einem Gelegenheitskauf erstanden hatte: sie arbeitete auf dem Lande als Postbotin und benötigte im Winter dringend Stiefel. Aber ein Postamt gab es nur in Jenissejsk, und das liegt 19 km von Okunjowo entfernt. Nina Ballakowa, Weißrussin ais Baranowitschi, erklärte sich bereit, mich zu begleiten. Auf dem Waldweg blieb der Schlitten mal im tiefen Schnee stecken, mal kippte er um. Schließlich ließen wir ihn am Wegesrand stehen und schleppten die Pakete mit den Händen weiter, wobei wir ständig in den Schneewehen versanken. Aber uns stand auch noch die Überfahrt über den Fluß bevor. Entlang unserer Uferseite lag der Fluß unter einer Eisschicht, während auf der anderen Seite das Wasser hervortrat. Es ging weder vor noch zurück, und zudem begann es auch noch in dicken Flocken zu schneien.

Wir bewegten uns am Ufer entlang und stießen zufällig auf einen hohen Stapel mit Nutzholz. Wir fingen an, die Holzklötze zur Uferseite hinabzuwerfen und sind dann auf ihnen hinübergegangen. Dabei weichten unsere Filzstiefel ganz durch und bedeckten sich von außen mit einer Eisschicht. Nachdem wir die Pakete abgeschickt hatten, betraten wir einen Laden und kauften ein paar rote Stoffetzen (im Verkauf war nur Stoff, den man für Fahnen verwendete). Mit diesen Stoffetzen umwickelten wir unsere Füße, wie Fußlappen.

In der Dämmerung machten wir uns auf den Rückweg. Gegen Abend setzte der Frost ein, und das Übersetzen über den Jenissej wurde einfacher, um so mehr, als wir jetzt nicht mehr so beladen waren. Aber auch der Rückweg war nicht leicht, aber dafür sah die Taiga in der klaren Sternennacht sehr romantisch aus.

Feiertage begingen wir stets in größtmöglichem Stil. Alle Polen kamen dann bei uns zusammen: Galina und Sdsislaw Wlad, Galinas Mutter – Frau Lemberg aus Wilna, Janek Kowalewski, Bolek Maximowitsch, Doktor Lustgarten (aus Krakau), Matwejtschuk (Ukrainer aus Ljublin), der Lette Julian Dowgjallo (Pole mütterlicherseits, sprach fließend Polnisch) und Konstantin Juchnitzki, eine interessante und geheimnisvolle Persönlichkeit. Er wollte nicht ins „rote“ Polen zurückkehren. Nach der Amnestie fuhr er nach Alma-Ata, zu einem ihm bekannten Polen, der mit einer Russin verheiratet war.

An Feiertagen kam auch immer ein Tscheche zu uns, der Ingenieur Bruner. Er war Pilot. Als die Deutschen in die Tschechoslowakei einfielen, flog er mit seinen Regimentskameraden in die UdSSR, um nicht den Feinden sein Flugzeug herausgeben zu müssen. Hier wurden alle sofort verhaftet und als Spione verurteilt. Nachdem er seine Haftstrafe verbüßt hatte, arbeitete er in Okunjowo als Ober-Ingenieur. Hier heiratete er eine verbannte Polin.

Im Frühjahr 1954 stand ich kurz vor der Geburt unseres Kindes, und ich begab mich ins Entbindungsheim in Jenissejsk. Man hatte mich etwas früher dorthin geschickt, damit ich noch vor dem Eisgang dort ankam: als das Eis sich in Bewegung setzte, war ich noch nicht in Jenissejsk angelangt. Trotz meiner vierzig Jahre war ich ziemlich unerfahren, und ich hatte im Entbindungsheim nicht viel Glück. Gerade hatten sie von dort einen guten Arzt und Gynäkologen entlassen: er war ein verbannter Deutscher, und an seine Stelle war eine russische Ärztin und Komsomolzin getreten. Die Kreißenden waren ihr völlig egal, um so mehr, wenn es sich um Verbannte handelte. Die gynäkologischen Instrumente waren verrostet und lagen hinter dem Schrank herum. Niemand war da, um einen Kaiserschnitt oder irgendwelche anderen Operationen durchzuführen. Alle Arbeiten wurden von den Krankenschwestern erledigt. Sie waren es gewohnt, bei den gesunden, ortsansässigen Frauen, die ihre Kinder im allgemeinen recht leicht bekamen, Geburtshilfe zu leisten.

Ich hatte Schmerzen immer gut ertragen können, und deswegen verlor ich auch nicht das Bewußtsein; ich wurde nur vom vielen Schreien heiser. Die Geburt zog sich mit schrecklichen Qualen über eine ganze Woche hin. Das Kind war erstickt. Mehrere Stunden preßten sie die Leibesfrucht aus mir heraus. Der Junge war groß, er wog beinahe 4 Kilogramm. Es hätte nicht mehr lange gedauert – und ich hätte mich selber auf den Weg ins Jenseits machen können. Mich rettete die Energie Kasiks (denn gerade in diesen Tagen hatte man ihm Arbeit und eine Wohnung in Jenissejsk gegeben, und er kam mit den Saschen hierher), der in das Entbindungsheim hineinstürmte, Blitz und Donner schimpfte und der Ärztin mit einer Klage bei der Staatsanwaltschaft drohte, falls mir etwas Schlimmes zustoßen würde. Danach lag ich noch ein paar Tage unter einer Sauerstoffmaske und bekam Penicillin-Spritzen, was zu der damaligen Zeit eine große Seltenheit war. Ich verließ das Entbindungsheim sehr geschwächt, aber mit der Zeit päppelte Kasik mich wieder auf.

Das Kind begruben wir auf dem Jenissejsker Friedhof. Wir hatten den Jungen Stas nennen wollen, zur Erinnerung an Professor Stanislaw Malkowski. Kasik stellte auf dem Grab ein Kreuz auf, und ich pflanzte anschließend Blumen. So war auf diesem Friedhof noch ein polnisches Grab hinzugekommen, und es gab nicht wenige davon – und das schon seit langer Zeit. Am Südrand von Jenissejsk, umgeben von Bäumen, stand ein schönes Denkmal aus schwarzem Marmor mit der Aufschrift „Maximillian Marx“ und Zeitangaben, die ich nicht mehr genau erinnern kann, aber es muß zeitlich nach dem Januar-Aufstand (4*) gewesen sein. Es muß wohl so gewesen sein, daß es dank des Nachnamens der Vernichtung entgangen ist ...

In Jenissejsk ließen wir uns in einem nagelneuen „finnischen“ Häuschen, in der Straße der Union nieder. Wir nahmen die vierte Partei in dem Haus ein: ein Zimmer und eine Küche – zusammen 25 Quadratmeter. Nebenan wohnten Galina und Sdsislaw Wlad. Die zweite Hälfte nahm eine ältere Tatarin mit ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und dem Enkel ein. Sie war eine Verbannte, die Witwe eines bedeutenden tatarischen Bolschewiken, der in den Lagern umgekommen war. Sie zeigte uns eine Uhr mit eingraviertem Namen – ein Geschenk, das ihr Ehemann von Lenin erhalten hatte. Jene, die ihn verhaftet hatten, schenkten ihr aus irgendeinem Grund keine Beachtung.

Später schickte sie einen Antrag auf Rehabilitation nach Moskau. Unter Malenkow gab es eine solche Periode, in der viele Verbannte rehabilitiert wurden und dann nach Moskau zurückgekehrten. Ich kann mich noch an einen Wasserfahrer erinnern, der einen jungen Bullen namens Kolja mit Wasser versorgte. In den städtischen Brunnen gab es sehr wenig Wasser, außerdem war es sehr hart und zum Wäschewaschen völlig ungeeignet. Um gutes Wasser zu bekommen, mußten wir mit Eimern mehr als einen Kilometer weit an den Jenissej gehen, oder wir kauften zwei, drei Eimer voll beim Wasserfahrer.

Also, dieser Wasserfahrer war einmal ein General (5*) gewesen, Leiter der Akademie der Luftstreitkräfte in Moskau. Er hatte 15 Jahre verbüßt und war dann hierher in die Verbannung geraten. Und er hatte gesagt, daß die Zeit, in der er Wasser ausgeliefert hatte, zu den glücklichsten seines Lebens zählte und der Jungbulle sein treuester und zuverlässigster Freund gewesen war. Nachdem er rehabilitiert worden war, bekannte er, daß er nicht überzeugt davon sei, ob er sich wieder an das Moskauer Leben gewöhnen könnte.

Uns gegenüber wohnte der Ingenieur und Oberst Miller. Seine Ehefrau und der Sohn waren selbst aus Moskau zu ihm in die Verbannung gefahren. Auch er hatte 15 Jahre gesessen und als Konstrukteur in irgendeinem Sonderlager gesessen. Er hatte das Polytechnische Institut in Petersburg noch vor der Revolution beendet.

Bevor sie unser Nachbarn wurden, hatten die Millers bei einer interessanten alten Frau gewohnt. Sie war völlig blind und sagte selbst, daß Gott ihr diese Strafe auferlegt hätte. Weil sie einer Ikone die Augen ausgekratzt hatte, als in Jenissejsk die Kirche zerstört worden war.

Vor der Revolution war Jenissejsk, wie es scheint, Regionsstadt mit 4 oder 5 Kirchen gewesen, aber zu unserer Zeit war nur noch eine in Betrieb. In einer anderen wurde eine Schlosserwerkstatt eingerichtet, in der dritten ein Kerosinlager; aus den anderen wurden Ruinen. In jene Kirche, die damals noch in Betrieb war, gingen größtenteils verbannte Ukrainer aus Polen. Innerhalb der Kirchenumzäunung wurde zu unserer Zeit der Bischof von Wolhynien beigesetzt. Damals kamen Ukrainer zu uns und baten Kasik um Hilfe bei den Beerdigungen.

Auf dem zentralen Platz in Jenissejsk, vor dem Kreis-Komitee der Partei, stand ein großes Denkmal Stalins, der zu Zarenzeiten nach Jenissejsk verbannt worden war. Und nach dem Sturz Berijas, dem Nachfolger Stalins, wurde seine Familie ebenfalls nach Jenissejsk verbannt, aber Not litten sie hier nicht.

Ich will von unserer Wohnung erzählen: sie war hell und sehr gemütlich. Im Sommer verputzten wir sie, und unter dem Häuschen, das auf Pfählen stand, baute Kasik einen geeigneten Keller, in dem wir im Sommer Hühner und Truthennen hielten, und im Winter – Kaninchen und Kartoffeln. Während des Winters hielten wir die Hühner und Truthennen in der Küche. Täglich mußten wir den Hühnerstall mit Hilfe von Sägespänen saubermachen, die ich aus der Holzfabrik mitbrachte. Die Hühner legten ganz gut Eier, und die stellten in Sibirien etwas sehr Wertvolles da. Außerdem hielten wir noch ein Ferkel namens Borka. Was die Kaninchen betraf, so gaben wir fast das gesamte Fleisch unserem Nachbarn Abakumow –dafür, daß er diese Kaninchen schlachtete (Kasik war absolut nicht fähig, das von uns selbst aufgezogene Kleinvieh zu töten). Dieser Abakumow, ein Leutnant, hatte selbst einen Hund aufgezogen und diesen dann getötet, um mit dem Hundetalg die Auszehrung zu behandeln. Die Kaninchenfelle gab ich zur „Pelztier-Station“ (dort hatte ich tausende Zobelfelle gesehen). Für die Kaninchenfelle bekam man hier Gutscheine, für die man Zucker und Mehl kaufen konnte.

Wer solche Gutscheine nicht besaß, erhielt zweimal im Jahr jeweils 2 kg Mehl: zum 1. Mai und zum „Oktober-Feiertag“ (aber auch das stand nur den Arbeitenden zu). Zucker konnte man im Laden erstehen (jeweils 1 kg pro Kopf), wo man sich in einer riesigen Schlange die Beine in den Leib stehen mußte. Auch für Brot mußte man sich nicht nur eine Stunde anstellen; es wurde jeweils in 2-kg-Leiben ausgegeben. Irgendwie war in dem Laden einmal ein solches Gedränge, daß die Knöpfe meiner Jacke aufgingen. Ich blickte darauf und sah – daß ich nur ein Hemd darunter anhatte! Mit Mühe gelang es mir, die Enden der Jacke aus der schiebenden und drängelnden Menge herauszuziehen.

Und da war noch so ein Fall - irgendein Tantchen kam zu uns gerannt und schrie: „Kasimir Kasimirowitsch, laufen sie schnell zum Laden, retten sie ihre Frau, sonst erstickt sie!“ Kasik kam angelaufen, brach durch die schreiende Menschenmenge und stellte sich neben mich.

Hellen, fast weißen Honig konnte man recht häufig und viel billiger als Zucker kaufen. So war er bestimmt nicht unecht.

Im Sommer, wenn wir zum Beerensammeln wollten, mußten wir den Jenissej mit einem Boot überqueren. Das ganze Ufer und das niedrigstehende Wasser waren voll mit Holzstämmen, die zum Abflößen nach Dudinka vorbereitet worden waren. Ihretwegen konnte das Boot nicht am Ufer anlegen, so daß man über die Stämme springen und dabei das Gleichgewicht halten mußte, um nicht ins Wasser zu stürzen. Halb so schlimm, wenn man das mit leeren Körben tun mußte. Aber auf dem Rückweg, mit schweren, vollen Körben, mußte man ein wahres Wunderwerk von Geschicklichkeit an den Tag legen, wenn man über die unter den Füßen weggleitenden Balken sprang. In Okunjowo war ich zusammen mit Kasik in die Taiga gegangen, aber aus Jenissejsk mußte ich gewöhnlich allein ans rechte Flußufer gelangen. Erst abends kam Kasik zum Ufer und half mir die Beeren oder Pilze nach Hause zu tragen. Diese Gaben der Natur stellten einen wichtigen Teil unserer Lebensmittel-Ration dar.

Oft schauten bei uns in Jenissejsk Landsleute zu Besuch herein. Alle, die aus den umliegenden Siedlungen zum Einkaufen oder wegen der Erledigung anderer Dinge in die Stadt gekommen waren, machten immer bei uns Halt.

Im Oktober 1954 begleiteten wir einen Lehrer aus Baranowitschi (ich glaube er hieß Kobylinski) und dessen Frau zum Maklakowsker Autobus. Unterwegs schwatzten wir ziemlich laut miteinander. Ein betagter Mann kam auf uns zu und sagte, daß er ebenfalls Pole wäre. Wir luden ihn zu uns ein. Es handelte sich um den Ingenieur Mikolaj Schiller aus Drogobytsch. Vor dem Krieg hatte er als Direktor in der Filiale der NobelewskerErdölge-sellschaft gearbeitet. 1939 wurde er verhaftet, als er versuchte nach Rumänien überzulaufen. Nach der Unterzeichnung des Paktes zwischen Sikorskij und Stalin wurde Schiller einer der Organisatoren unserer Armee, die aus der UdSSR evakuiert wurde. Als es bereits so schien, daß er mit einem Bein an der Westfront stand, wurde er - wie viele andere Organisatoren – erneut verhaftet und erhielt eine neue Haftstrafe. Nach seiner Freilassung aus dem Sonderlager arbeitete er in einer geologischen Gruppe in Nord-Jenissejsk. Er erzählte uns, auf welche Art und Weise die Geologen ihre Station flußaufwärts verlegt hatten: Menschen wurden vor die Boote gespannt und mußten diese dann gegen die Strömung vorwärtsziehen. Als ihnen die Überführung nach Jenissejsk gelungen war, konnte er keine andere Behausung für sich finden, als bei einem Tataren auf dem Dachboden. Von diesem löcherigen Dachboden nahm Kasik den Herrn Schiller mit zu uns und brachte ihn in der Küche unter.

Im Winter 1955 kam meine Kusine, Marianna Kschetschkowska (Isabella Jassinska-Stankewitschowa) aus dem Lager zu mir, mit der wir uns in den Lagern von Taischet angefreundet hatten. Bald bekamen sowohl Marianna als auch Mikolaj Arbeit in Maklakowo. Sie wurde als Krankenschwester im Haus der Invaliden eingestellt, er in der Holzfabrik. Aber dort konnte er es nicht lange aushalten und kehrte nach Jenissejsk zurück. Kasik fand für ihn eine Arbeit als Wächter im Hafen, wo die Dampfer festmachten.

Jenissejsk war ein Seehafen. Hierher kamen Schiffe aus dem Eismeer, aus Dudinka, Igarka und Norilsk. Einmal fingen Fischer aus Jenissejsk einen Wal, der in den Jenissej hineingeschwommen war.

Der Jenissej – einer der größten sibirischen Flüsse. In der tungusischen Sprache bedeutet sein Name soviel wie „großes Wasser“. Er bahnt sich seinen Weg durch große Stromschnellen und ist, von Jenissejsk an, mit der Strömung flußabwärts, für große Ozeandampfer schiffbar. Im Sommer kann der Jenissej bis zu 2 km breit sein. Im Frühjahr fließt er oft in einer Breite von bis zu 5 km dahin, und vor seiner Einmündung ins Meer sogar bis zu 60 km. Einer der größten Nebenflüsse des Jenissej ist die Angara, auch Obere Tunguska genannt. Es ist ein mächtiger, wasserreicher Fluß. Sie entspringt aus dem Baikalsee, aber ihr tatsächlicher Ursprung soll im Fluß Selenga liegen, der seinen Anfang in der Mongolei nimmt. Die Angara unterscheidet sich von anderen durch ihre ungewöhnlich schnelle Strömung. Eben an diesem Fluß, in Bratsk, errichteten Strafgefangene ein mächtiges Wasserkraftwerk. Bratsk liegt an der Angara, nordöstlich von Tajschet, einige zig Kilometer von der Station Tschukscha entfernt, wo ich als Laborantin im Lager-Krankenhaus tätig war.

Einmal, im Frühjahr 1955, überbrachte Pan Schiller uns die Neuigkeit, daß eine große Etappe nach Nord-Jenissejsk kommen sollte, in der auch viele Polen wären. Kasik und ich nahmen ein paar Wurstringe, Speck (zu Ostern hatten wir das Ferkel geschlachtet), Brot und machten uns auf den Weg, um sie zu besuchen. Pan Schiller und ich lenkten unsere Aufmerksamkeit auf einen jungen Burschen, Tscheslaw Pawlowskij (Malinowskij), der bei Partisanenkämpfen in der Vilensker Gegend einen Arm verloren hatte. Und ihm gefiel Frau Marysja (ihren Familiennamen weiß ich nicht mehr) (6*) aus Scheludok in der Umgebung von Vilensk). Pan Mikolaj und Kasik beschlossen, den Kommandanten dazu zu überreden, die beiden in Jenissejsk zu lassen. Nach langen Verhandlungen bezahlten sie etwa 2000 Rubel (für den Transport), und das junge Paar wurde auf Etappe mitgenommen. Auch sie quartierten sich anfangs bei uns ein. Wir ließen unsere Gäste immer auf dem großen, prächtigen Bärenfell schlafen. Später half Kasik Herrn Tscheslaw eine Arbeit in der Holzfabrik zu bekommen, und er und Marysja nahmen sich ein Zimmer in der Stadt.

Am 26. April 1955 wurde unser Sohn Tadeusz geboren. Die Geburt erwies sich wieder als schwierig, aber dieses Mal hatte ich schon Erfahrung und alles ging gut aus. Kasik kaufte für 550 Rubel einen Kinderwagen und baute ein schönes Bettchen. Sophia Lechowitsch, die Mutter von Sosja (Stefanija Lechowitsch-Wischnjowskaja), meiner Freundin, die ich unterrichtet und im Labor in Tschukscha untergebracht hatte, schickte aus Lwow die Babyausstattung.

Tadik gedieh prächtig. Von Marianna bekam er ein kleines Kreuzchen, das im Lager aus einem Ringlein angefertigt worden war. Ich schickte es nach Lwow, wo es geweiht wurde. Tadik wurde nicht krank, aber er war unruhig. Ich hatte den Verdacht, daß er nicht genügend Milch bekam: ich nährte ihn fast immer nur aus einer Brust. Bei der anderen konnte er die Brustwarze nicht fassen. Bereits von klein auf mochte er sich nie um etwas bemühen. Auch einen Schnuller nahm er überhaupt nicht an. Einer seiner ersten unbewußt geäußerten Laute war „A-Ka“. Das veranlaßte Herrn Mikolaj zum Lachen: „Er versucht euch zu sagen, daß ihr keine Angehörigen der AK (7*) seid!“

Morgens ging Kasik zur Arbeit, und ich ging los, um nach Brot und anderen Lebensmitteln anzustehen, die es gerade zu kaufen gab. Gut, daß Pan Mikolaj nachts als Wächter arbeitete: so konnte er tagsüber auf Tadik aufpassen. Er fuhr ihn häufig im Kinderwagen spazieren und versuchte ihn in den Schlaf zu wiegen, indem er auswendig den „Pan Tadeusz“ deklamierte, den er fast vollständig im Gedächtnis hatte. Tadik lag ganz still und lauschte, aber er schlief nicht ein. Pan Mikolaj war erstaunt: „Ich schlafe schon selber bald ein, und er macht keinerlei Anstalten!“

Der heiße Sommer des Jahres 1955 ging seinem Ende zu, der Herbst kam. Wir gruben Kartoffeln aus und bereiteten uns auf den Winter vor. Kasik schickte sich an eine Kuh zu kaufen, er hatte schon eine Anzahlung geleistet und Heu herangeschafft. Es wurde November.

Pan Schiller machte sich auf den Weg zur Arbeit, kehrte jedoch bald zurück und sagte: „Wir fahren nach Polen!“ Darauf Kasik: „Sie sind wohl mal wieder zum Scherzen aufgelegt!“ Aber Pan Mikolaj meinte nach Lwowsker Art: „Verflucht sei Gott – das ist die reine Wahrheit!“ Am nächsten Morgen rannte Kasik eilig zum Kommandanten, der alles bestätigte.

Wir begannen uns hastig auf die Abreise vorzubereiten. Kasik zählte in der Fabrik zu den hochgeschätzten Arbeitskräften; man war dort keineswegs damit einverstanden, ihn gehen zu lassen. Er mußte sich an den Kommandanten wenden, und der legte Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein, und erst dann erhielt Kasik seine Entlassungspapiere. Wir fingen damit an, unsere Möbel (die Kasik hauptsächlich selbst angefertigt hatte), die Hühner, das Heu, Geschirr und andere Sachen zu verkaufen. Ein paar Hühner, Truthennen, persönliche Kleidung, das Bärenfell (wie schade, daß wir es nicht mit nach Polen genommen haben!) und andere Sachen ließen wir bei den Wlads, die später einen Teil davon verkauften und das Geld nach Lwow schickten, an Frau Lechowitsch, die uns so viel geholfen hatte. Ein paar von den Truthennen brieten wir unterwegs.

Wegen der ständig offenen Türen (zu uns kamen laufend Käufer, und im November herrscht in Sibirien schon Frost) bekam Kasik eine Erkältung. Das Fieber stieg. Aber wir beschlossen, die Abfahrt nicht zu verschieben. Erstens war nicht bekannt, ob es eine zweite Etappe geben würde; zweitens war man in diesem Lande zu keinem Zeitpunkt vor irgendetwas sicher. Man muß das Eisen schmieden, so lange es heiß ist. Der Kommandant hatte uns einen Lastwagen bestellt, der uns bis Maklakowo bringen sollte, wo sich viele Polen versammelt hatten. Gleichzeitig bat er uns, seine Obligationen umzutauschen. In der UdSSR zwingt man alle, sich „freiwillig“ und schriftlich zu Staatsanleihen zu verpflichten (nicht weniger als 1% vom Lohn); dann nehmen sie das Geld und geben dafür Obligationen aus, die angeblich Gewinne bringen. Die Papiere besitzen keinerlei Wert, aber es ist verboten, sie aus der UdSSR auszuführen. Man hat uns diese Obligatuionen umgetauscht, und Kasik erhielt dafür dreitausend Rubel – unser Kapital für die Zukunft. Der Kommandant nutzte die Gelegenheit, seine Anleihen ebenfalls zurückzutauschen. Kasik tauschte sie zusammen mit unseren ein.

Wir waren beunruhigt, ob er uns wirklich den versprochenen LKW zur Verfügung stellen würde. Er hielt sein Wort und kam zum Abschied mit einer Flasche Sekt. Er bedauerte, daß wir fortfuhren und sagte: „Warum fahrt ihr von hier weg? Polen ist doch auch rot“. Und Kasik erwiderte: „Und wenn es schwarz wäre! Aber es ist trotzdem Polen!“ Und da kam der langersehnte LKW. Wir luden die Sachen auf, und obwohl auf dem Kinderwagen, in dem Tadik schlief, Schnee lag, waren wir glücklich, daß wir nun abfuhren – endlich, wir allein, ohne Begleitsoldaten. Nur der arme Burek jagte noch lange, lange Zeit mit kläglichem Gebell hinter uns her ... Und schließlich lief er nach Hause zurück. Wlad und Galina nahmen ihn zu sich. Aber ihn erwartete ein tragisches Ende – er wurde von Raufbolden umgebracht.

Ich nähte Tadik aus Fell einen Schlafsack, um ihn vor dem Frost zu schützen. Aber er schluckte zu viel kalte Luft, und sein Fieber stieg wieder an. Mit dem Lastwagen fuhren wir bis nach Maklakowo, wo sich der Sammelpunkt befand. Dort ließ man alle in einen kalten Autobus umsteigen und brachte uns damit direkt ins 600 km entfernte Krasnojarsk. Ich fütterte Tadik mit Tee und eingeweichten Pfefferkuchen, den ich an meiner Brust erwärmt hatte (zwei Wochen vor der Abreise hatte ich aufgehört das Kind zu stillen). Unterwegs bekam er Durchfall. Als wir im Krasnojarsker Bahnhof einen warmen Waggon bestiegen, schien es uns, als wären wir im Paradies. Es war ein normaler Schnellzug, dessen Waggons in der Zegelskij-Fabrik in Posen gebaut worden waren. Das entdeckte Kasik, nachdem er die sowjetische Aufschrift von den kleinen übermalten polnischen Täfelchen abgekratzt hatte.

In Krasnojarsk hielten wir uns noch ein paar Tage auf, so lange, bis der Zug vollständig zusammengestellt war. Ich nutzte die Reiseunterbrechung und reinigte Tadiks Decke, 3 von 4 Windeln und seinen Krabbelanzug, und Kasik hängte sie zum Trocknen in irgendeinem Kesselhaus auf. Leider hat sie wohl irgendjemand dringend gebraucht.

Dank der Wärme und der warmen Nahrung begann Tadik zu genesen. Ich kochte ihm Brei auf einer „Petroleumfunzel“ und gab ihm dünnflüssige Kohlsuppe aus den Portionen, die man uns, während wir unterwegs waren, brachte. Man muß sagen, daß wir nicht schlecht mit Essen versorgt wurden, verglichen mit dem, was wir auf dem Weg nach Ostaschkow oder Tajschet bekommen hatten. Während der Reise vollendete Tadik seine ersten sechs Lebensmonate, die Zähne fingen an durchzubrechen. Aber er war sehr fröhlich, hüpfte auf seinen dünnen Beinchen herum und freute sich mit uns über die Rückkehr aus der Unfreiheit. Um ihn kümmerten sich auch Marianna, Pan Mikolaj und Jan Sankjewitsch, Mariannas zukünftiger Ehemann. Für Kasik gab es viel zu erledigen: er wurde Kommandant des Waggons. Die Versorgung mit Lebensmitteln war ausreichend, aber sie wurde unregelmäßig herangebracht. Es kam vor, daß wir gleichzeitig mit dem Frühstück auch unser Mittagessen und Abendbrot erhielten. Üblicherweise bekamen wir die Mittagsmahlzeiten an den größeren Bahn-Stationenen. An einige von uns wurden sogar Anzüge ausgegeben, damit sie bei der Einreise nach Polen auch „anständig“ aussahen. Man brachte uns über Moskau und Lwow, jedoch ließ man uns in Lwow nicht aussteigen. Kasik nahm es sich sehr schwer zu Herzen, daß er seine geliebte Stadt nicht zu sehen bekam.

Am 1. Dezember überquerten wir die Grenze in Medyka. Ein paar Leute stiegen aus dem Waggon aus, um die Heimaterde zu küssen. Wir wurden zur Repatriierungsstelle in Nowy Sontsch gefahren; dort händigte man jedem von uns 1000 Zloty und einen Heimkehrer-Ausweis mit Foto aus. Aus diesem Grunde hatten wir eilig Fotos machen lassen.

Am frühen Morgen rannte ich mit Marianna und Anelka Dsewulska in die katholische Kirche und dankte der Heiligen Maria unter Tränen für unser Glück, dafür, daß sie uns in den Schoß der Heimat zurückgebracht hatte .

 

Anmerkungen

(1) Wurde 1914 in Bialystok geboren. Verhaftet („festgehalten“) am 01.11.1944 in Bialystok, wo sie die Untergrund-Zeitung „Bialystoker Bote“ herausgegeben hatte. Zusammen mit Bruder Alexander und Schwester Sophia saß sie im Ostaschkowsker Lager (Region Twer), wo sie am 16.06.1945 verhaftet und am 27.03.1946 von einem Sonder-Kollegium des Ministeriums für Staatssicherheit nach § 58-2, 11 verurteilt wurde. Haftstrafe 8 Jahre. Am 05.01.1953 aus dem OserLag, am 14.11.1955 aus der Verbannung freigelassen. Kehrte nach Bialystok zurück. Am 10.09.1997 von der Staatsanwaltschaft der Region Twer (Akten Zeichen Nr. 25822-S) rehabilitiert.

(2) Geboren 1911 in Lwow. Verhaftet in Lwow am 11.01.1945. Von einem Sonder-Kollegium des Ministeriums für Staatssicherheit am 18.12.1945 nach § 54-1 „a“ verurteilt; Haftstrafe 5 Jahre. Am 11.01.1950 aus dem RetschLag freigelassen. Am 28.05.1954 (als „Kurzzeit-Häftling“) aus der Verbannung freigelassen. 1955 fuhr er mit seiner Ehefrau nach Bialystok. Rehabilitiert von der Staatsanwaltschaft der Region Lwow am 13.03.1995.

(3) Person aus dem Roman „Die Kreuzträger“ von G. Senkewitsch.

(4) Aufstand des Jahres 1863.

(5) General-Leutnant A.I. Todorskij. Ab 1934 Leiter der „Schukowskij“-Akademie der Luftstreitkräfte, ab 1936 Leiter der Verwaltung für Militär-Hochschulen.

(6) Maria Kwatsch-Buklis (s. auch Verbannungs-/Lagerhaft-Bericht von Tamara Jefimowna Slobodschikowa.

(7) Armija Krajowa – jener Truppenteil der polnischen Armee, welche Kampfhandlungen gegen die Okkupanten auf ihren Staatsgebieten führte.


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