Der 20. JUNI 1937 ging als schwarzer Tag in mein Leben ein. Es war bereits fast ein Monat vergangen, seit man mich aus den Reihen der Roten Armee mit der Begründung entlassen hatte, daß ich politisch unzuverlässig sei, aber ich konnte immer noch nicht fassen, konnte nicht verstehen, wessen man mich eigentlich beschuldigte.
Mein ganzes Leben verlief bis zum Eintritt in die Armee unter ständigen Hungerqualen, in Armut und Erniedrigung. Not und Entbehrungen zwangen mich im Alter von 12 Jahren die Schule zu verlassen und ein schweres Arbeitsleben zu beginnen.
Die heiligen Ideen des Kommunismus fesselten meine Aufmerksamkeit, als ich noch ein Knabe war, und ich versuchte, soweit meine bescheidenen Kräfte es zuließen, habe ich versucht, diese schöne Zeit näher zu bringen und ihr Herannahen zu beschleunigen.
In den ersten Tagen des Großen Oktober traf ich unwiderruflich meine Wahl und teilte mein Schicksal mit denen, die sich als allererste in der Geschichte daran machten, auf den Trüm-mern des russischen Imperiums, unter schwierigsten Bedingungen, eine neue sozialistische Gesellschaft zu errichten, eine Gesellschaft des Lichts, der Wärme und der Gerechtigkeit.
Natürlich kam die Entlassung für mich nicht unerwartet. Bereits im Laufe der beiden letzten Jahre änderte sich mir gegenüber jäh die Haltung des Kommandostabes und der Sonderab-teilung. Mir wurden keine geheimen Aufgaben anvertraut. Der Kommissar des Truppenteils sowie der Bevollmächtigte der Sonderabteilung bekundeten demonstrativ ihre Feindseligkeit. Zweimal versetzten sich mich von einer Einheit in eine andere.
Es gab verschiedene Mutmaßungen. Ein Grund, so dachte ich, könnte eine auf Lügen gegrün-dete Denunziation sein, und dann auch der deutsche Faschismus, der den Verdacht auf die gesamte Nation hervorgerufen hatte.
Aber kehren wir zum 20. Juni 1937 zurück. Um 12 Uhr nachts tauchten bei mir in der Woh-nung zwei Mitarbeiter des Woronescher Gebiets-NKWD auf. Sie zeigten den Befehl zu meiner Verhaftung vor, auf dem auch der Grund angegeben war – Spionage. Es wurde eine sorgfältige Durchsuchung vorgenommen.
Man steckte mich ins Woronescher Gebietsgefängnis und brachte mich in einer Zelle für Militärpersonen unter. Es war eine Zehner-Zelle, ziemlich geräumig, in der sich 11 Personen befanden. Der Boden war aus Zement; Pritschen standen dort und ein Latrinen.Kübel. Hoch oben, direkt unter der Decke, ein kleines vergittertes Fenster. Die Luft war stickig, übelrie-chend von menschlichen Exkrementen.
Mein nächtliches Erscheinen weckte alle. Man begann Fragen zu stellen: wer ich sei, woher ich komme und weswegen.
Ich antwortete:
„Weshalb, das weiß ich nicht“.
„Am Morgen werden sie dich ins innere Gefängnis des NKWD zum Verhör bringen“, bemerkte einer der Häftlinge.
Er hatte bereits Höllenqualen durchgemacht.
„Na, wie ist es dort?“ fragte ich.
„Fahr erstmal hin, dann wirst du es erfahren. Es ist kein Zuckerlecken“, antwortete er mir.
Tatsächlich, um 10 Uhr morgens schrie der Aufseher:
„Paul, mit den Sachen zum Ausgang!“
Das innere Gefängnis des Woronescher NKWD lag im unterirdischen Teil des NKWD-Gebäudes. Das vergitterte Fenster ganz oben in der Zelle befand sich auf der gleichen Höhe wie der Boden des Hofes draußen.
Ein langer Korridor, dessen Fußboden mit weichen Läufern ausgelegt ist, die den Lärm der Schritte der diensthabenden Aufseher dämpfen. Die Zellen sind für jeweils drei Häftlinge berechnet. Betten mit sauberem Bettzeug. An der Wand hängt ein Spiegel, auf dem Boden liegen Läufer. Ein Tisch, Stühle. Eine geschlossene Toilette. Trocken. Sauber.
In der Zelle, in der sie mich unterbrachten, befanden sich zwei Männer. Einer von ihnen war ehemaliger Ingenieur für Sicherheitstechnik in der Woronescher SK-Fabrik, in der sich einige Tage vor den hier beschriebenen Ereignissen eine große Detonation ereignet hatte, bei der Menschen ums Leben gekommen waren.
Der zweite war ehemaliger Leiter der Kriegsverpflegungsabteilung bei irgendeiner Fernost-Division. Er war gerade erst nach Woronesch gekommen, und hier verhafteten sie ihn wegen des Verdachts der Spionage zugunsten Japans.
An ihre Familiennamen kann ich mich nicht erinnern, und weil alles schon so weit zurück-liegt, habe ich auch die Nachnamen der Menschen vergessen, die mir damals ganz unfrei-willig über den Weg liefen.
Der Ingenieur erzählte, daß das Verhör sehr anstrengend sei; man hatte ihn der vorsätzlichen Sprengung im SK-Werk beschuldigt. Er hält sich für unschuldig, denn der Grund für die Explosion resultiert seiner Meinung nach aus der schlechten Isolierung defekter Rohre.
„Ich“, so sagte er, „habe darüber mehrmals die Werksdirektion benachrichtigt, warnte vor der Gefahr, aber man ergriff keinerlei Maßnahmen, da qualitativ gute Rohre sowie geeignetes Isolationsmaterial fehlten, und ein Weiterlaufen der Produktion für unabdingbar gehalten wurde.
„Schenkt den niemand dieser Sache Aufmerksamkeit?“, fragte ich naiv.
„Offensichtlich nicht. Sie wollen davon nichts wissen. Sie sagen, daß ich der Sicherheits-ingenieur bin und für die Explosion die Verantwortung trage. Das ist doch absurd. Daraus folgt, daß ich sowohl die Verantwortung für die schlechten Rohre als auch das Fehlen von Isolationsmaterial und die Nichtergreifung von Maßnahmen durch die Direktion übernehmen soll. Schuld sind sie, und mich haben sie als Opfer ausgesucht. Mein Leben ist zuende“, fügte er seufzend hinzu.
Ferner erzählte er, daß er russischer Jude sei. Im Jahre 1905 hatte er sich vor einem Juden-pogrom gerettet, das von Erzreaktionären verübt wurde; er emigrierte nach Frankreich, wo er bis 1925 lebte. Dann kehrte er in die Heimat zurück.
„Mein einziger Wunsch ist“, sagte er mit Tränen in den Augen, „daß sie mich vor meinem Tode wenigstens für einen Tag zu meiner Familie lassen, damit ich mich von allen verab-schieden und ihnen versichern kann, daß ich an der mir zugeschriebenen furchtbaren Anschuldigung der Diversion keine Schuld trage“.
Ich versuchte ihn zu beruhigen.
„Wozu wirfst du einen Schatten vor dich“, sagte ich ihm. „Warum sich solche düsteren Gedanken auf die Seele binden, vielleicht kommt doch noch alles in Ordnung. Schließlich leben wir doch im Sowjetlande“.
„Ja, das ist alles so, aber...“, er hielt die Tränen zurück und machte eine Handbewegung.
Nach dem Mittagessen rief man mich zum Verhör.
Ich muß anmerken, daß wir hier gut verpflegt wurden – drei Mahlzeiten am Tag, wie in einer guten Kantine, nicht so wie in einem Stadtgefängnis, wo man großen Hunger litt, wo es täglich die wässrige Balanda und das sogenannte „Schrapnell“ gab.
Der Aufseher am Fahrstuhl brachte mich ins Zimmer des Untersuchungsrichters. Ein hagerer Mann, etwas mehr als mittelgroß, etwa vierzig Jahre alt, mit ergrauten Schläfen. Er begann mit einer allgemeinen Vorstellung. Nachdem die Fragen aus dem Fragebogen abgehandelt waren, fügte er hinzu:
„Du bezichtigst dich der Spionage. Du mußt wissen, daß ein volles Geständnis und rückhaltlose Reue dich am Leben halten, aber hartnäckiges Leugnen wird zu deinem Untergang führen“.
„Natürlich“, sagte er weiter, „sind wir im Besitz aller Angaben über deine verbrecherischen Tätigkeiten, aber unter Berücksichtigung deiner vorausgegangenen Verdienste und wenn du selbst alles zugibst, werden wir uns human erweisen. Geh jetzt hinaus in den Flur; dort wollen unsere Mitarbeiter dich kennenlernen.
Im Korridor befanden sich 10-12 Leute. Sie umringten mich und überhäuften mich mit groben Beschimpfungen. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich derart beleidigt und erniedrigt. Sie nannten mich Faschist, Bandit, Verbrecher, Verräter, Spion, Mistvieh, Hund...
Unflätiges Schimpfen, Fluchen, Wortgespeihe und Drohungen mich sofort zur Strecke zu bringen ergossen sich über mich, es hagelte Vorwürfe. Einige warfen sich mir mit drohend erhobenen Fäusten entgegen.
Schweigend stand ich vor diesen Leuten, fassungslos und verwirrt, wie betäubt, gedemütigt und bespuckt, und wußte nicht, was ich tun sollte.
Endlich rief mich der Untersuchungsrichter zu sich ins Arbeitszimmer.
„Da hast du’s nun gesehen; wenn du nicht gestehst, dann werden sie dir das nächste Mal möglicherweise den Rest geben. Geh jetzt in die Zelle und laß dir alles gut durch den Kopf gehen, ich werde dich später wieder herrufen“.
Am Abend wurde ich erneut dorthin bestellt. Der Untersuchungsrichter ließ mich auf einem Stuhl Platz nehmen, legte ein sauberes Stück Papier vor mich und sagte:“Schreib“.
„Was soll ich schreiben“? fragte ich
„Über deine verbrecherischen Tätigkeiten“.
„Aber es gab keine“.
„Ach so. Na gut. Geh und stell dich neben den Ofen, mit dem Gesicht zur Wand – und da bleib stehen.“
Ich stand. Nach einer Stunde begannen die Knie einzuknicken, und augenblicklich ertönte der drohende Ruf:
„Nicht bewegen. Bleib da ja still stehen.“
Flüche, Drohungen ... Wie lange ich stand, weiß ich nicht mehr. Aber in meinem Kopf fing es plötzlich an zu rauschen, es wurde dunkel um mich und ich stürzte zu Boden. Mit Fußtritten brachten sie mich wieder auf die Beine. So ging das viele Male. Gegen Mittag war ich schon nicht mehr in der Lage aufzustehen. Dann setzten sie mich auf einen Stuhl und der Untersu-chungsrichter fragte:
„Nun? Bist du zu einem Entschluß gekommen?“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin überhaupt nicht schuldig.“
„Na dann bleib sitzen“.
Ich wollte so gern schlafen. Die Augen fielen mir vor Müdigkeit zu. Aber sogleich schrie der Untersuchungsführer:
„Nicht schlafen! Still sitzen und nicht bewegen – und die Augen auflassen! Oder ich werde dich...“
Um 9.00 Uhr morgens wurde der Untersuchungsrichter abgelöst und, wie ich verstand, kam ein Direktoren-Praktikant aus irgendeinem Unternehmen der Stadt Woronesch, der lediglich darauf aufpaßte, daß ich nicht einschlief und mich nicht von der Stelle rührte.
Drei Stunden später kam wieder der vorherige Untersuchungsrichter. Er redete auf mich ein, daß ich gestehen sollte, sagte, daß ich dies früher oder später sowieso müßte, denn sie würden über alle nötigen Mittel verfügen, um einen Schuldigen zu einer Erklärung zu zwingen.
Am Abend wurde der Untersuchungsführer wieder gegen den Praktikanten ausgetauscht. Und ich sitze immer noch da, ohne Schlaf, reglos, ohne Essen. Einige Stunden sitzen wir so schweigend da. Endlich begann der Praktikant in friedlichem Tonfall auf mich einzureden.
„Weißt du was“, sagt er, „gesteh’ mir doch wenigstens irgendeine deiner verbrecherischen Tätigkeiten; dann gebe ich dir sofort etwas zu essen und schicke dich in die Zelle zum Schlafen. Sie zwingen dich sowieso zum Reden. Sie wenden solche Mittel an, die selbst einen Toten zum Sprechen bringen“.
Ich schweige. Und so vergeht die Nacht. Ich fühle bereits meinen Körper nicht mehr, es ist, als wäre er starr und unempfindlich. Die Augen fallen mir vor Müdigkeit zu. Das Schreien des Praktikanten und das Wachrufen lassen mich wieder zu mir kommen.
Am Morgen kommt erneut der Untersuchungsführer, und es wiederholen sich die Drohungen, das Wachrufen. Der zweite Tag und die zweite Nacht gehen zuende. Ich merke wie mir die Beine anschwellen. Ich fühle sie nicht mehr. Die mich umgebende Wirklichkeit verlor ihre Realität. Alles Geschehene erschien wie ein Alptraum. Ich merkte nicht einmal wie ich vom Stuhl fiel. Erst kaltes Wasser, das sie mir übergossen, ließ mich wieder zur Besinnung kommen. Viele Male fiel ich um, aber Fußtritte und Wasser taten ihre Wirkung. Am Abend des dritten Tages ließ der Untersuchungsführer einen Arzt kommen, der mich für drei Tage von den Verhören freistellte. Die Aufseher schleppten mich nach unten in die Zelle und warfen mich auf den Boden. Und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Am Morgen wurde ich gewaltsam wachgerüttelt. Mühsam kam ich auf die Beine.
Die bis zu den Knien angeschwollenen und aufgequollenen Beine fühlten sich an als wären sie aus Watte. Die Haut über den Fußsohlen war stark aufgeplatzt, aus breiten Rissen sickerte blutige Wundflüssigkeit. Essen mochte ich nichts, aber ich trank viel.
Der Ingenieur für Sicherheitstechnik war bereits nicht mehr in der Zelle. An seiner Stelle gab es einen Neuen – einen Mann von etwa 35 Jahren, etwas über mittelgroß, brünett, mit stark ausgeprägten armenischen Gesichtszügen.
„Wodurch sind Sie denn so zuschanden gekommen?“ fragte er.
„Von der Untersuchung, vom Verhör“.
„Nein. Ich frage, warum Sie so schrecklich aussehen“, wiederholte er.
Ich erzählte ihm alles.
„Das kann nicht sein. Sie lügen. Die Sowjetmacht und die kommunistische Partei wenden bei uns niemals Foltermethoden an“, rief er aus.
„Auch Sie werden sie zu sich rufen – dann werden Sie es erfahren“.
Um 10.00 Uhr morgens wurde ich erneut vor den Untersuchungsrichter geführt.
„Ich bin sehr krank. Der Arzt hat mir eine dreitägige Verschonung gewährt“, eröffnete ich ihm.
„Ich pfeife auf deine Krankheit und den Arzt“, antwortete der Untersuchungsführer und fluchte.
Erst am späten Abend kehrte ich in die Zelle zurück, totmüde, gepeinigt und verängstigt.
Heute sah ich in dem Arbeitszimmer, das an das Büro meines Untersuchungsrichters angrenzte, durch die geöffnete Tür den ehemaligen Leiter für Kriegsverpflegung, aus unserer Zelle.
Er lag nackt auf einem Tisch, auf dem Mütter Kinder gebären, und ein Mann, wahrscheinlich der Untersuchungsführer, klammerte sich an seinen Haaren fest, dreht sie um ihre eigene Achse und sprach vor sich hin, „du wirst mir anfangen zureden, du Mistvieh!“
Auch er kehrte nicht wieder in die Zelle zurück.
Drei Tage blieb ich in der Zelle allein. Zum Verhör wurde ich nicht gerufen. Sich tagsüber aufs Bett legen oder schlafen war strengstens verboten. Alle 5-6 Minuten spähte der dienst-habende Aufseher durch das „Guckloch“ in die Zelle und schrie: „Nicht hinlegen, nicht schlafen, sonst geht’s ab in den Karzer!“
Als vier Tage und vier Nächte verstrichen waren, stießen sie den Armenier in die Zelle.
Mein Gott, wie sah sein Gesicht furchtbar aus. Geschwollen und über und über mit aufgequol-lenen Stellen und dunkel-violetten Flecken übersät. Er war kaum imstande sich zu bewegen. Er setzte sich auf einen Stuhl und begann laut zu schluchzen.
Da schrie auch schon der Aufseher, „Ruhe jetzt, still sitzen, sonst geht’s in den Karzer!“
Der Armenier verstummte, aber die Tränen stürzten ihm aus den Augen und rannen als dunkle Tropfen über sein Gesicht.
Er tat mir so leid. Ich sie ihn an und begriff, daß sein Schicksal noch viel schwerer war als meins. Ich begann weder ihn zu trösten noch ihn auszufragen. In der gegebenen Situation schien mir dies nicht ratsam zu sein. Fast eine ganze Stunde verstrich in völligem Schweigen.
Dann begann er mit leiser Stimme:
„Nein, nein! Das darf nicht sein. Ich verstehe nicht, was sie wollen. Weshalb ich etwas auf mich nehmen soll, was ich nicht getan habe, was mir nicht einmal im Traum eingefallen wäre. Nein! Ich werde wahnsinnig. Das ist etwas Unglaubliches, Unfaßbares. Wissen Sie“, wandte er sich an mich, „sie haben eigenmächtig, ohne meine Mitwirkung oder mein Einverständnis ein Verhör-Protokoll angefertigt und wollen mich zwingen es zu unterschreiben. Und darin stehen so schreckliche Sachen, so entsetzliche Verbrechen, die ich angeblich begangen habe; sollen sie mich doch in Stücke reißen, aber das unterschreibe ich nicht“.
„Weshalb ist ihr Gesicht so entsetzlich zugerichtet?“ fragte ich ihn.
„Wozu diese Frage? Sie wissen doch schon warum. Aber darum geht es gar nicht. Ich halte das nicht aus. Aber gestern haben sie mich in den Hof hinausgeführt und mir am Fenster der Frauenzelle meine Frau gezeigt mit dem Kind auf dem Arm. Sie haben geweint und mir zugewinkt.
Der Untersuchungsrichter erklärte, daß sie wegen meines hartnäckigen Leugnens verhaftet worden seien, und daß, falls ich nicht das Verhör-Protokoll unterschreibe, mein Kind in Stücke hacken würden, und zwar vor meinen Augen. Das ist entsetzlich. So etwas ist mit dem Verstand nicht zu begreifen. Eine derartige Grausamkeit hat es in der Geschichte der Mensch-heit noch nicht gegeben! Und was sie mit der Frau machen werden, weißt du ja selbst“.
Er verfiel in Schweigen. Mit den Ellenbogen stützte er sich auf den Tisch, nahm den Kopf in die Hände und versank in tiefes Nachdenken.
Dann stand er auf, seufzte und sagte entschlossen:
„Sollen sie sie doch zerreißen, sollen sie sie vergewaltigen, aber ich werde niemals etwas unterschreiben, was nicht war und was nicht sein kann. Nie---mals!“
„Und das Gesicht haben sie mir verunstaltet“, fuhr er fort, „mit einer Schreibfeder. Sie tauchen die Feder ins Tintenfaß und stechen dir dann mit einem heftigen Stoß ins Gesicht. Sollen sie mich doch der schrecklichsten Folter aussetzen, mich zum Krüppel machen, mich aller körperlichen Kraft berauben, aber mein Geist, mein Wille wird unbeugsam bleiben.
Die ganze Zeit sprechen sie zu mir wiederholt von den Lehren unseres großen Führers Josef Wissarionowitsch Stalin über die Verschärfung des Klassenkampfes unter dem Sozialismus. Aber ich teile doch diese Lehre vollständig. Außerdem bin ich nicht Feind, sondern Verbreiter dieser Lehre. Weshalb wenden sie dann derartige Gewalt an, damit ich mich einverstanden erkläre ein Feind zu sein? Sie versuchen mich zu erniedrigen, zu beleidigen, in Schrecken zu versetzen und mich vollständig ihrem Willen zu unterwerfen, mich in weichen Lehm zu ver-wandeln, um aus mir eine für sie notwendige Figur zu modellieren. Ich verstehe, daß ich sterben muß, unabhängig davon, ob ich dieses unheilvolle Protokoll unterschreibe oder nicht.
Aber ich werde meine Unterschrift nicht daruntersetzen“.
„Sagen Sie mir, wenn Sie können, wo und als was Sie arbeiten“, fragte ich ihn.
Er interessierte mich. Ich sah, daß er kein dummer Mensch war, gebildet und anscheinend Parteimitarbeiter. Und ich irrte mich nicht.
Der Armenier schwieg lange Zeit. Es fiel ihm schwer zu sprechen, aber dennoch antwortete er auf meine Frage.
„Ich wollte nicht darüber sprechen“, sagte er, „aber gut, ich werde kurz erzählen. Nur bitte ich darum, falls es Ihnen gelingt, auf freien Fuß zu kommen, daß Sie dann meine Frau finden, denn ich werde sie nicht mehr sehen. Und erzählen Sie ihr, daß ich ein ehrlicher Mensch war und in meinem ganzen Leben keine Verbrechen begangen habe, sondern meine Pflichten als
Kommunist erfüllt habe und standhaft gestorben bin. Daß meine letzten Gedanken vor mei-nem Tode ihr und dem Kind galten.
Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „In den vergangenen Jahren habe ich in Moskau gelebt. Ich arbeite beim Zentralkomitee unserer Partei. Dort haben sie mich auch verhaftet, weil ich Kontakte zum ehemaligen Sekretär des Woronescher Gebietskomitees (der von ihnen zum Voksfeind erklärt worden war) hatte. Mit diesem Menschen hatte ich einige Jahre im Woronescher Gebietskomitee zusammengearbeitet; über sein Schicksal ist mir nichts bekannt.
Aber ich glaube, daß es noch bitterer ist als meines.“
***
In der Nacht wurde ich geweckt und in irgendein Arbeitszimmer geführt. Dort saßen drei Mann an einem Tisch. Einer von ihnen war offenbar der stellvertretende Leiter des Woro-nescher Gebiets-NKWD.
„Vor dir“, sagte dieser, „tagt die geschlossene Sitzung des Militärtribunals. Wenn du jetzt die Wahrheit über deine Spionagetätigkeit erzählst und deine Mittäter benennst, dann werden sie dich am Leben lassen. Du wirst mit einer langen Freiheitsstrafe davonkommen. Hartnäckiges Leugnen wird deinen Tod zur Folge haben“.
Lange dachte ich nach, nicht wissend, was ich antworten sollte. Diese schrecklichen Erfindungen auf mich nehmen und völlig unschuldige Menschen in diese Sache mit hineinreißen – das konnte ich natürlich nicht.
Schließlich antwortete ich: „Zu meinen im Untersuchungsverfahren gemachten Aussagen kann ich nichts hinzufügen. Ich bin in dem Bewußtsein durchs Leben gegangen, meine Pflicht gegenüber meinem sowjetischen Vaterland und der kommunistischen Partei erfüllt zu haben. Und diese schreckliche, völlig frei erfundene Beschuldigung der Spionage kann ich nicht auf mich nehmen. Lieber sterbe ich.“
Das Urteil wurde verkündet. Schuldig ... Höchststrafe - Tod durch Erschießen ...
Mir schwanden fast die Sinne. Das weitere ging wie im Traum an mir vorüber.
Undeutlich erinnere ich mich an irgendeinen leeren Raum ... dann ein Schuß ... und alles verschwand. Ich kam auf einem feuchten kalten Fußboden zu mir. Von meinem Kopf rann kaltes Wasser. Ich begriff – man übergoß mich mit kaltem Wasser, um mich ins Bewußtsein zurückzuholen. Der Aufseher schüttelt mich und sagt immer wieder:
„Steh auf. Schnell. Wir gehen in die Zelle“.
In der Zelle war niemand. Auch den Armenier sah ich nicht wieder, und über sein weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt.
Ein paar Tage ließen sie mich in Ruhe.
Beim nächsten Verhör verhielt sich der Untersuchungsrichter mir gegenüber menschlich.
„Ich habe dich überprüft“, sagte er, „und bin zu dem Schluß gekommen, daß dich keinerlei Schuld trifft. Wir haben positive Gutachten aus deinem Geburts- und Wohnort sowie aus allen Truppeneinheiten, in denen du gedient hast, erhalten, und alle loben dich. Kennst du Schewzow? Er hat dich verleumdet. Er wollte sich rächen wegen der Liebesintrigen mit seiner Frau. Und jetzt gehen wir zum Leiter des Gebiets-NKWD“.
Der Untersuchungsrichter war ehrlich und gerecht – ein Mensch mit Prinzipien. Ein echter Tschekist und Kommunist. Im Arbeitszimmer des Leiters des Woronescher Gebiets-NKWD:
Untersuchungsrichter: „Das ist der, von dem ich Ihnen erzählt habe“.
NKWD-Leiter (zu mir gewandt): „Fühlst du dich beleidigt?“
Ich: „Wenn man mich unverdient beleidigt, dann versuche ich meine Unschuld zu beweisen und Vergeltung zu üben“.
NKWD-Leiter (zum Untersuchungsrichter): „Wenn er unschuldig ist, dann hätte man ihn nicht verhaften brauchen. Er ist verhaftet worden – und damit schon ein Feind. Isolieren!“
In seinem Amtszimmer sagte der Untersuchungsrichter zu mir: „Ich schicke dich jetzt ins Stadtgefängnis. Begrabe nicht alle Hoffnungen. Alles kann sich noch ändern. Die Zeit wird es zeigen“.
Aber die Zeit brachte viel Grausames mit sich. Die Repressionen vertieften sich und weiteten sich aus.
Aber alles der Reihe nach. Und da bin ich wieder im städtischen Gefängnis.
Die Zelle für Soldaten ist überfüllt. Die Pritschen sind von den „Ureinwohnern“ besetzt. Auf dem Boden eine einzige Menschenmasse. Sie sitzen. Nirgends ist Platz, um sich hinzulegen. Nachts kriecht ein Teil der Menschen unter die Pritschen. Dort kann man noch liegen. Und es treffen immer noch mehr Verhaftete ein. Jetzt kann man schon nirgends mehr sitzen. Neben den Türen stehen Menschen. Sie warten, bis die Menschenmasse dichter zusammengerückt ist und man sich setzen kann. Sommer. Hitze. In der Zelle herrschen Schwüle und der entsetz-liche Gestank aus dem übervollen Latrineneimer, aus dem der Inhalt auf den Boden fließt, unter die dort dichtgedrängt Sitzenden. In der Zelle wird gemurrt. Ein paar Ungeduldige klop-fen an die Tür, verlangen den Gefängnisleiter. Die Tür wird geöffnet, anstelle des Gefängnis-leiters erscheint eine weitere Schar Verhafteter.
Die Zelle wird bis zum Äußersten mit Häftlingen vollgestopft, wie Heringe in einem Faß, als zwei bärenstarke Aufseher die Neuankömmlinge im Türdurchgang aufstellen und die schwere Gefängnistür mit aller Kraft zuschlagen. Unter die Menschen werden unter Stöhnen und Schreien in die bereits in der Zelle vorhandene Masse gedrückt. Die Zelle ist so voll, daß die Menschen darin abwechselnd stehen und sitzen.
Ich mache mich mit den Bewohnern bekannt. Es sind hauptsächlich Kriegskommandeure und Rotarmisten, aber auch Pädagogen, Ingenieure, Beschäftigte aus dem Handel und andere – und bei einem handelt es sich um den Kreis-Staatsanwalt.
Die Leute wenden sich an ihn mit der Bitte ihnen den Grund für die Massenverhaftungen von ganz unschuldigen Menschen zu erklären. Der Staatsanwalt ist offensichtlich nicht auf dem laufenden. Er redet von irgendwelchen Mißverständnissen, daß die Organe das angeblich bald in Ordnung bringen werden und die Unschuldigen nach Hause entlassen.
Erstaunlich, daß nicht ein einziger den tatsächlichen Grund dieses tragischen Phänomens weiß – von der falschen Theorie Stalins über die Verschärfung des Klassenkampfes unter dem Sozialismus hat noch keiner was gehört.
In der Zelle entstanden unerträgliche Bedingungen. Viele litten an Durchfall. Alle laufen zum übervollen Abortkübel.
Sie erlauben uns nur morgens und abends die Toilette aufzusuchen und den Eimer auszulee-ren. Aber hier sind ungefähr 70 Menschen – soviele habe ich gezählt.
Unaufhörlich wird an die Tür geklopft. Sie verlangen den Gefängnisleiter und den Staats-anwalt. Endlich erscheinen sie. Mit dem Gefängnisleiter der stellvertretende Gebietsstaats-anwalt.
Es hagelt Beschwerden: die entsetzliche Enge, unerträgliche Schwüle, Schmutz, der wider-wärtige Gestank. Der Abortkübel füllt sich innerhalb von 1-2 Stunden. Er läuft über und alles fließt auf den Boden, unter die dort sitzenden Menschen. Die karge Hungerverpflegung. Die Tür ist ständig verschlossen, und eine Vielzahl anderer Beschwerden.
Fast alle berufen sich auf die grundlosen, ausgedachten Anschuldigungen und das grausame Untersuchungsverfahren. „Ist das alles?“ fragt der stellvertretende Staatsanwalt.
„Nein, nicht alles“, erhebt sich die Mehrheit der Stimmen.
„Genug“, sagt er, „es ist klar, und ich verstehe alles. Was wollt ihr? Bedingungen wie in einem Kurort? Vergeßt nicht, daß ihr konterrevolutionärer Abschaum seid. Bedankt euch für diese Bedingungen“. Er wendet sich an den Gefängnisleiter und fährt fort: „So ist das: sie beschweren sich, daß vor den Türen ständig ein Schloß hängt; also hängt ab heute zwei Schlösser dort hin“. Er sagt das laut, damit alle es hören.
Sie gingen fort. In der Zelle herrschte absolute Stille, das lediglich von tiefen, hoffnungslosen Seufzern unterbrochen wurde. Lange hält das Schweigen an. Die Stimmung ist bei allen gedrückt. Kein Murren, keine Empörung in Form von groben Angriffen auf den stellver-tretenden Staatsanwalt, werden hörbar.
Haben sie sich wieder beruhigt? Ja, weil das Aufeinanderprallen von Egoismus, Grobheit und Grausamkeit, weil all das den Glauben an das Gute und die Gerechtigkeit von Seiten der sow-jetischen Machtorgane niedergerissen hat. In ihrem ausweglosen Unglück wurden die Menschen still und demütig wie Lämmer. Nach und nach beginnt jeder, sich mit seiner eigenen Sache zu befassen.
Aus irgendeinem Grunde sprechen sie untereinander im Flüsterton oder halblaut.
Irgendjemand ruft mit einem Seufzer aus: „Wo ist ihr Gewissen geblieben? Wir leben doch in einem kommunistischen Land“. – „Was denn für ein Gewissen?“ fragen andere – „Sie besitzen doch nicht den geringsten Anflug eines Gewissens“.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Wort von Ch. Dickens über das Gewissen:
„Unser Gewissen - etwas Biegsames und Elastisches – verfügt über die Fähigkeit sich auszudehnen und sich an dieverschiedenartigsten Verhältnisse anzupassen. Einige vernünftige Menschen befreien sich allmählich von ihrem Gewissen wie von überflüssiger Kleidung, wenn es warm wird, und am Ende sieht es dann so aus, daß sie ganz splitternackt dastehen.
Andere ziehen diese Kleidung, je nach Bedarf, an und aus, und eine solche Methode ist gerade als außergewöhnlich bequem und vorstellbar, als eine der größten Neuerungen unserer Tage, besonders in Mode.
Ja, ein schweres Los haben die Menschen, die unter Repressionsmaßnahmen geraten. Ihr Leben erfordert die Anstrengung aller seelischen Kräfte, großer Widerstandsfähigkeit und Tapferkeit. Es begann eine grausame Zeit, als die Menschheit mit Füßen getreten wurde und zugrunde ging, menschliche Gefühle durch Verrat verdorben wurden und Denunziation, Lüge, Verleumdung und niederträchtige Gewalt ihren Triumphzug hielten. Die Verhältnisse ändern sich. Die Seelen werden verunstaltet.
Die Herzen werden gefühllos. Und je weiter es geht, desto mehr. So dachte ich damals, als ich mich in der Zelle befand.
Drei Tage nach diesem Ereignis, nachts, als die Zelleninsassen in unruhigem Schlaf dalagen, öffnete plötzlich der Aufseher die Tür und stieß jemanden hinein. Und was glauben Sie - wen? Den stellvertretenden Gebietsstaatsanwalt, eben genau jenen, der so zynisch die Menschen in unserer Zelle beleidigt hatte, der sich den Normen der kommunistischen Moral so unverhüllt verächtlich gegenüber verhalten hatte.
Die Wachgewordenen erkannten ihn sofort und glaubten anfangs, daß es sich hier um seinen turnusmäßigen Dienstbesuch im Gefängnis handelte. Aber als dann die Zellentür zugeschla-gen wurde, das Schloß zuschnappte und der Staatsanwalt mit einem Bündel in den Armen an der Tür stehenblieb, da begriffen sie, daß das Schicksal ihm einen bösen Streich gespielt hatte. Es begann die Vergeltung für die kürzlich stattgefundene Verhöhnung.
Natürlich wurde er dafür nicht bestraft. Für solche Sachen können sie einen nur rühmen. Wahrscheinlich wurde er ebenfalls zum Opfer, wegen seiner Verbindung zum ehemaligen Sekretär des Gebietskomitees Warejkis, der in Ungnade gefallen war. Erstaunlich - nicht einer aus der Zelle erinnerte ihn an den kürzlichen Vorfall. Die Leute traten schweigend zurück und überließen ihm einen Platz. Auch am Morgen äußert niemand ein Wort des Vorwurfs. Sie betrachten ihn nur schweigend und mit Neugier, und er saß auf dem Boden, ließ den Kopf mit dem fahlen, hohlwangigen Gesicht hängen und versank in tiefes Nachdenken.
Was für ein prächtiger, lehrreicher Hohn des Schicksals!
Nach dem Mittagessen rief mich der Aufseher „mit Sachen“ in den Korridor hinaus und brachte mich in eine andere Zelle. Das Schicksal des Staatsanwaltes blieb mir unbekannt.
Zu meinem Erstaunen ging es in dieser Zelle freier zu, als in der für Militärpersonen. Alle hatten auf Pritschen Platz gefunden. Es waren 30 Leute. Der Boden war frei. Die Luft war reiner. Ich schaute mich um und vergewisserte mich, daß alle Zivilpersonen waren. Ich war der einzige Soldat unter ihnen. Hier saßen Ingenieure, Lehrer, Direktoren von Unternehmen, Ärzte, Sekretäre aus dem Kreis-Komitee... Der eine wurde wegen Schädlingstätigkeit beschuldigt, andere wegen Spionage, konterrevolutionärer Tätigkeiten oder antisowjetischer Agitation. Nicht einer von ihnen bekannte sich selbst als schuldig. Allen war eine Anklage „aufgezwungen worden“.
Einmal traf ich draußen am Badetag einen meiner ehemaligen Kollegen aus dem 43. Schüt-zen-Regiment, den Leiter des Bataillonsstabes Olikjewitsch, der polnischer Staatsbürger war. Er erzählte, daß man ihn der Spionage beschuldigte und deswegen verhaftet hatte.
„Ich bin lange und qualvoll verhört worden“, sagte er. „Aber ich bin unschuldig, und deswegen kann ich auch nichts aussagen“.
„Vorgestern“, fuhr er fort, „sagte der Untersuchungsführer mir, daß, falls ich das mir vorgelegte Verhörprotokoll unterschreiben würde, das völlig ohne mein Mitwirken verfaßt wurde und in dem schreckliche Lügen stehen, ich dann freigelassen würde und wieder in die Reihen der Roten Armee und meine Dienststellung zurückkehren könnte, und daß sie mich zur Wiederherstellung meiner Gesundheit in einen Kurort schicken würden. Dieses Protokoll wäre für irgend jemandes Akte von unerläßlicher Wichtigkeit, aus Gründen der Formalität, fügte er hinzu. Und wenn ich nicht unterschriebe, dann würde es ganz schlecht ausgehen. Und da habe ich dann unterschrieben“.
„Unterschrieben, daß du dich mit Spionage beschäftigt hast?“ schrie ich auf.
„Ja“, antwortete Olikjewitsch, „was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich besaß weder hinreichende moralische noch physische Kraft, um mich dem zu widersetzen.
„Mein Lieber, da haben sie dich ganz gemein hereingelegt. Es wird weder eine Freilassung noch einen Kurort geben. Erschießen werden sie dich. Es wird eine Gerichtsverhandlung geben; erzähle ihnen alles. Vielleicht kann dich das noch retten.“
Armer Olikjewitsch! Wegen seiner Leichtgläubigkeit bezahlte er mit dem Leben. Erneut berichteten angekommene Verhaftete, daß man ihm auf einer gesamtstädtischen Parteiver-sammlung sein „Geständnis“ vorgelesen und ihm erklärt habe, daß das Militärgericht ihn zur Höchststrafe verurteilt hätte, zum Tod durch Erschießen – und daß das Urteil vollstreckt worden sei.
In der Zelle, in der ich mich befand, wechselten die Leute häufig. Die einen wurden vom NKWD zum Verhör gerufen und kehrten nicht mehr zurück, andere wurden nach ihrer Gerichtsverhandlung mit einem Freiheitsentzug von 10-20 Jahren ins Lager geschickt.
Viele wurden von der Trojka verurteilt. Genauer gesagt verurteilte die Trojka nicht; sie bestand aus drei Männern, Vertreter des NKWD, des Gebietskomitees und der Staatsan-waltschaft, verfügte über zahlreiche Vollmachten und konnte einen Menschen zu 10 Jahren Freiheitsentzug verurteilen.
Nachdem ich die im Lande vorgefallenen Ereignisse analysiert hatte, begriff ich, daß das Politbüro mit Stalin an der Spitze auf dessen falscher Theorie über die Verschärfung des Klassenkampfes unter dem Sozialismus beruhte, und daß man Kurs auf die physische Vernichtung der „realen“ Gegner und die Isolation der „Potentiellen“ nahm. In die letzte Kategorie geriet eine große Anzahl völlig unschuldiger Menschen. Ich denke auch, daß es nur sehr wenige reale Gegner gegeben hat.
Für gewöhnlich wurden in den Gebiets-NKWDs Listen mit Verdächtigen erstellt, die der unterschiedlichsten Verbrechen bezichtigt wurden, gegen die jedoch keinerlei kompromit-tierendes Material vorlag, außer Denunziationen von Informanten, und diese, denunzierten in großer Anzahl unschuldige Menschen, um ihren Eifer und ihre „Ergebenheit“ zu bezeugen, in der Hoffnung, irgendeinen Vorteil zu erzielen.
Die Trojka unterschrieb die Listen, und damit war das Schicksal der Leute entschieden. Wieder erzählten neuangekommene Verhaftete, daß viele Menschen verhaftet würden, ganz besonders aus den Reihen des oberen und älteren Kommandostabes der Roten Armee sowie führende politische Mitarbeiter.
Die Zeit verging, und man ließ mich in Ruhe, als ob man mich vergessen hätte. Einige Monate waren bereits vergangen. Aber es kam der Tag, an dem sie sich an mich erinnerten.
Anfang Dezember 1937 wurde ich vor den Untersuchungsrichter des Gebiets-NKWD bestellt. Hier befand sich auch noch ein anderer Untersuchungsführer.
Ich kannte ihn gut. Er war früher Sonderbevollmächtigter des Truppenteils gewesen, in dem ich vor meiner Verhaftung gedient hatte. Er war ein junger, äußerst jähzorniger, egoistischer und bis zur Flegelhaftigkeit grober Mensch. In dem Arbeitszimmer befand sich ebenfalls der stellvertretende Leiter des Gebiets-NKWD.
Der Untersuchungsführer empfing mich mit unflätigem Geschimpfe. Es ergoß sich ein Strom von schmutzigen Schimpfwörtern und er schrie: „Was sitzt du da herum und schweigst. Meinst du, du könntest da in Sicherheit abwarten? Daraus wird nichts! Wir haben hier für dich keine Zeit gehabt, schließlich gibt es größeres Wild als du es bist, und du - du hast dich versteckt, du ...“
„Denk daran“, fügte der stellvertretende Leiter des NKWD hinzu, „wir urteilen jetzt nicht bloß über die verübten Verbrechen, sondern auch darüber, was der Mensch selbst in seinem Zustand und seiner Lage hätte tun können. Wir führen eine Vorsorgemaßnahme durch. Wir isolieren all jene verborgenen Kräfte, die der Feind sich für seine eigennützigen Ziele zunutze machen könnte. Wir säubern unser gesamtes Land von konterrevolutionärem Unrat. Jetzt geben wir die dein Verhör-Protokoll, das nach dem uns vorliegenden Anklagematerial erstellt wurde. Du wirst das jetzt unterschrieben - und die Sache ist erledigt. Natürlich werden sie dich verurteilen, das verheimliche ich nicht, und dich ins Lager schicken. Aber dort ist es besser als im Gefängnis. Unterschreibst du nicht – verschwindest du im Gefängnis. Wenn du kein Dummkopf bist, dann solltest du verstehen, daß wir dich jetzt nicht entlassen können. Es ist nicht die rechte Zeit ist dafür.
„Fünf Minuten zum Nachdenken,“ sagte der Untersuchungsrichter.
„Geben Sie mir das Protokoll zum Durchlesen“, bat ich.
Sie gaben es mir. Ich las es. Mir wurde Angst. Dort stand ein solches Durcheinander – niemals hätte man an so etwas auch nur denken können.
Stalin war für mich immer der ideale Kommunist gewesen, ein kluger, willensstarker Staatsmann. Ich war begeistert von seinem Verstand, seinem Weitblick und seinen kühnen Taten zur Umgestaltung des Landes. Trotz gewaltiger Schwierigkeiten führte er die Industrialisierung und Kollektivierung des Landes durch, deren Nichtvorhandensein die Vorwärtsbewegung zum Kommunismus gebremst hatte. Ich glaubte fest an den Sieg des Kommunismus und gab all meine Kräfte her für die Stärkung und den Schutz meiner sowjetischen Heimat. Und hier versuchten sie mich mit aller Kraft und allen Mitteln zu überzeugen, daß ich ein Konterrevolutionär sei, ein antisowjetischer Agitator, und nun bestehen sie darauf, daß ich das gestehe und diese Schmach auf mich nehme. Ich dachte, daß sie einen für diese Verbrechen erschießen. Der Spionage beschuldigte man mich schon gar nicht mehr.
Der Untersuchungsführer warf ein wachsames Auge auf mich; anscheinend bemerkte er, wie mein Gesichtsausdruck sich veränderte.
„Du brauchst keine Angst haben“, sagt er, „du unterschreibst und bewahrst dein Leben. Nun, sie geben dir 8 Jahre. Aber wenn du nicht unterschreibst – dann hast du selber schuld. Paß auf, nachher ist es zu spät. Du wirst sterben. Jetzt können wir dich nicht freilassen".
„Nein, ich werde nicht unterschreiben“, erklärte ich standhaft, „das ist doch hier alles nur Lüge“.
Der Untersuchungsführer geriet aus der Fassung. Es prasselten Beleidigungen hernieder, Drohungen im Hinblick auf körperliche Gewaltanwendung und ein ganzer Hagel von Wort-gespeihe.
„Du, was bist du denn für einer. Ich werde dich … Wegen deiner dummen Hartnäckigkeit werde ich nicht fünfundzwanzig Rubel einbüßen”, schrie der Untersuchungsführer.
An dieser Stelle muß ich unbedingt erläutern, daß die Untersuchungsführer, die ein „volles Geständnis“ von ihren Untersuchungsgefangenen erwirkt hatten, für jeden von ihnen fünfundzwanzig Rubel zusätzlich zum Gehalt erhielten.
Um dieses Geld nicht zu verlieren, gaben sich die Untersuchungsleiter die allergrößte Mühe, die Verhafteteten zur Unterschrift des „Geständnisses“ zu zwingen, in dem sie in der Regel zum Erreichen dieses Ziels unerlaubte Mittel einsetzten.
„Stell dich in die Ecke, Gesicht zur Wand!“ schrie der Untersuchungsführer, „und sei dir darüber im klaren, daß wir alle Mittel zur Verfügung haben, um Widerspenstige gefügig zu machen. Du kanntest wahrscheinlich Muralow, der das Kommando über den Ural-Wehrkreis führte? Er war ein kräftiger Mann. Nun, bei der Festnahme sträubte er sich und leugnete alles, aber als sie bei ihm ihre „Hilfsmittel“ anwandten, da machte er ganz lieb seine Aussagen und gestand alles. Und auch unsere hohen Tiere, wie sehr sie auch versucht haben, sich herauszureden, gestanden haben sie schließlich doch. (Die hohen Tiere – das sind der Kom-mandant der Einheit, der Division, der Oberst, usw.). Und du hier, kleiner Mann, wirst es genauso machen. Ich habe keine Zeit, mich mit dir groß abzumühen, sonst werde ich dich in einer Minute windelweich schlagen. Ich werde jetzt gehen und Mittag essen, und du bleibst hier stehen und denkst nach. Paß auf und sei kein Idiot".
Was soll ich tun? - dachte ich. Daß sie Foltern anwenden, das wußte ich und davor fürchtete ich mich sehr. Sie können mich für den Rest des Lebens zum Krüppel machen. Und dieser Untersuchungsrichter ist zu allem fähig, um bloß nicht seine fünfundzwanzig Rubel zu verlieren.
Nach langem Überlegen faßte ich einen Entschluß, nämlich aus zwei Übeln das kleinere auszuwählen: ich unterschreibe das Verhör-Protokoll, und bei der Gerichtsverhandlung werde ich dann alles erzählen. Wohl war ich nicht davon überzeugt, daß dies helfen würde. In meiner Erinnerung lag die traurige Geschichte mit Olischkjewitsch. Aber ich war in dieser Zeit so naiv, wie es nur ein Kind sein kann. Immer noch verherrlichte ich die Gerichtsorgane, in der Annahme, daß die sowjetische Femida (Göttin der Gerechtigkeit) streng, aber gerecht, sei.
Nachdem ich meine Unterschrift unter das Verhör-Protokoll gesetzt hatte, warnte mich der Untersuchungsrichter:
„Gott bewahre, daß du bei der Gerichtsverhandlung auch nur das Geringste von dem erzählst, was hier vorgefallen ist, sonst wird die Akte zur Überprüfung weitergeleitet, und dann kommst du hier nicht mehr lebend heraus.“
Am 13. Dezember 1937 stand ich dann vor dem Militärtribunal.
Ich bat darum, die Zeugen der Anklage aufzurufen. Schewzow – den Urheber der Lügen-Denunziation. Das Gericht lehnte ab. Dann versuchte ich alles so zu erzählen, wie es wirklich gewesen war, das heißt die ganze Wahrheit. Der Richter unterbrach mich, erklärte, daß ich hier ehrbare sowjetische Menschen sowie die Organe für Staatssicherheit verleumden würde, und daß er diesem Tatbestand im Urteil Rechnung tragen wolle.
Nach fünf Minuten war die Entscheidung über mein Schicksal gefallen: 8 Jahre Freiheitsentzug und 5 Jahre Aberkennung der Wahlrechte. Ich wollte gegen das Urteil Berufung einlegen, man gab mir jedoch weder Papier noch Tinte.
Was soll man bloß machen? - dachte ich, wir verfolgen ein edles Ziel – den Kommunismus, aber ...
Im Januar kam ich mit einem Gefangenentransport aus dem Woronescher Gefängnis in dem kürzlich errichteten Unschensker Arbeitsbesserungslager im Gorkowsker Gebiet an, das in einem dichten Urwald gelegen war. Wir wurden in Baracken untergebracht. Doppelstöckige Pritschen. Es gab kein Bettzeug. Es war kalt. Wir froren, vor allem nachts. Es gab keine Kleidung. Jeder trug das, was er gerade auf dem Leib hatte. Wir trugen die Sachen, in den wir auch schon verhaftet worden waren.
Uns stand ein neues Leben bevor, neue, ungewohnte, schwere Arbeit bei der Holzbeschaf-fung.
Zu jener Zeit gab es noch keinerlei Mechanisierung, alles wurde mit der Hand, mit Muskel-energie, gemacht. Die Bäume wurden gefällt und dann mit Handsägen bearbeitet. Die Verla-dung des Holzes erfolgte ebenfalls per Hand.
Ich erinnere mich noch an den ersten Gang zur Arbeit. Es wurden Brigaden gebildet. Viele waren in Sommerkleidung, trugen Schirmmützen und ausgetretene Halbschuhe. Und wir hatten Frost von –30 Grad. Man brachte Bastschuhe, aber keine Fußlappen. Sie zerreißen ihre Hemden, Unterhosen, Säcke, alles mögliche, und umwickeln damit ihre Beine.
Auf Beschwerden erwidert der Leiter des Lagerpunktes:
„Ihr müßt energischer arbeiten, dann wird euch auch wärmer. Ich habe nichts, und es ist auch nichts zu erwarten. Bei Fernbleiben von der Arbeit geht’s ab in den Isolator. Bei Nichterfül-lung der Norm werdet ihr auf Strafration gesetzt. Ihr seid hier nicht im Kurort; vergeßt nicht, was für welche ihr seid.“
Wir arbeiten. Im Wald liegt tiefer Schnee. Wir müssen den Arbeitsplatz erst freiräumen. Die Normen sind hoch angesetzt. Die meisten sind an diese schwere körperliche Arbeit nicht gewöhnt. Sie ermüden schnell. Die Brigadeführer sind nervös. Sie laufen, schreien: „Los, los, bewegt die Säge schneller, zum Ausruhen ist keine Zeit ...“
Sie wissen, daß der Brigadeführer bei Nichterfüllung der Brigadenormen im Isolator über-nachten muß. Und dort verbringt er dann auch den freien Tag.
Mich hat man schon lange auf Strafration gesetzt. Ich bin zu kraftlos, um die Norm zu erfüllen. Ich habe schrecklichen Hunger. In der Nacht habe ich furchtbar gefroren. Sägen kann ich bereits nicht mehr. Ich bin zu geschwächt. Ich habe den Mut verloren. Der Brigadier schimpft. Lärm, Schreie, jemand ist unter einen umstürzenden Baum geraten. Er ist auf der Stelle tot. Ich höre wie die Umstehenden sagen: „Gequält hat er sich, der arme Kerl. Nun ist er für immer frei.“
Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, weshalb ich mich nicht auf ebensolche Weise aus diesem Lebensalptraum befreien konnte. Acht Jahre halte ich nicht aus, und es ist unnötig, sich einem langsam, quälenden Tod auszusetzen. Ich traf meine Entscheidung. Neben mir wurde gerade ein Baum gefällt, eine weitverzweigte Fichte. Da erzitterte sie, begann zu schwanken, neigte sich zur Seite und begann knarrend und ächzend zu fallen. Augenblicklich warf ich mich darunter. Ich fühle einen schweren Schlag und verlor das Bewußtsein.
Ich erwachte in der Sanitätsabteilung des Lagerpunktes.
„Na, mein Junge“, sagt der Feldscher, „der tiefe, weiche Schnee hat dich gerettet. Die Zweige der Fichte haben dich in den tiefen Schnee hineingedrückt, und die Äste haben den Hieb des Baumstammes abgefangen. Du bleibst hier eine Woche liegen, und dann geht’s wieder an die Arbeit. Natürlich bist du ziemlich in Mitleidenschaft geraten, aber schwere innere Verletzun-gen hast du nicht davongetragen“.
Am nächsten Tag trugen sich mit einer Bahre in das Arbeitszimmer des Lagerpunkt-Leiters. Dort befand sich auch der Bevollmächtigte der Sonderabteilung.
„Du wolltest deinem Leben durch Selbstmord ein Ende setzten?“
„Ja“.
„Weshalb?“
„Die Arbeit geht über meine Kräfte. Und unter solchen schrecklichen Bedingungen will ich nicht leben. Das ist ein Alptraum“.
„Kannst du das unterschreiben?“
„Das kann ich“. – Ich schrieb.
„Und wenn ich dich wieder in den Wald schicke?“
„Dann werde ich das gleiche nochmal machen“.
Nach einer Woche war ich etwas zu Kräften gekommen. Ich wurde zum Leiter des Lagerpunktes gerufen. In seinem Arbeitszimmer befand sich der Leiter der 1. Abteilung der Verwaltung des UnscheLag des MWD. Er empfing mich mit Drohungen.
„Wir werden dich wegen des Selbstmordversuches verurteilen“, schrie er.
„Machen sie, was sie wollen. Ich fürchte sowieso schon nichts mehr“.
„Du wirst eine zweite Haftstrafe aufgebrummt kriegen und im Gefängnis verfaulen“.
„Na und wenn schon. Auch dort werde ich Möglichkeiten finden, aus dem Leben zu gehen“.
Sie schicken mich nicht zur Arbeit. Ich sitze in der Baracke und bekomme meine Strafration.
Ich harre aus.
Nach einer Woche werde ich in die Buchhaltung gerufen.
„Du bist mit buchhalterischen Arbeiten vertraut; willst du bei mir arbeiten?“ fragt der Haupt-buchhalter.
„Ja“, antwortete ich.
Die Arbeit in der Buchhaltung war nicht schwer, aber wir arbeiteten hier täglich 12-14 Stunden, und wenn die Bilanzen erstellten wurden, sogar bis zu 16 Stunden. Hier sind alle Häftlinge beschäftigt, die von Berufs wegen Buchhalter sind. Unter ihnen befanden sich auch einige ehemalige Offiziere der Weißen Garde. Sie haßten mich wegen meines langjährigen Dienstes in der Roten Armee und meiner Teilnahme am Bürgerkrieg. Dabei entstanden dann solche Dialoge:
„Er hat gegen uns gekämpft und ist trotzdem, genau wie wir, hierher geraten“, sagte Nikolaj Nikolajewitsch Ardeptow.
„All deine Gesinnungsgenossen prügeln sich dort oben um die Macht. Und das nennt sich nun Aufbau des Sozialismus, des Kommunismus“, meinte ein anderer.
„Die Opfer, die die Revolution fordert, sind sinnlos. Der gesellschaftliche Fortschritt bahnt sich selbst einen Weg, auch ohne Revolution“, bekräftigten sie.
„Der Kapitalismus“, parierte ich, „das ist Krieg, Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Analphabe-tentum, Isoliertheit, unmenschliches Arbeitstempo; er bedeutet auch Unterernährung, wirt-schaftliche und politische Ausbeutung, er bedeutet Unheil. Und er wird seine Position niemals
ohne Kampf durchsetzen. Zur Erreichung der Endziele ist ein heroischer Kampf des werktäti-gen Volkes unerläßlich, und dafür muß man seine eigenen alltäglichen Interessen opfern.
„Eure Partei“, bestätigten sie, „fürchtet die Öffentlichkeit wie das Feuer. Behüte Gott, falls jemand sich die Freiheit herausnimmt, besonders in Anwesenheit der Leitung oder wenn Informanden in der Nähe sind, offen über die wahre Lage der Dinge zu sprechen, über die
Unzulänglichkeiten; den wird man sofort am Kragen fassen, und dann hinein mit ihm ins
Gefängnis, so etwa für 10 Jahre. Eine derart grausame Haltung gegenüber den Menschen
bringt die Partei in Verruf. Ihr habt eine Todesfurcht vor Kritik und Wahrheit, ihr mögt doch nur Lobpreisungen. Ihr handelt nach dem alten Rezept der Jesuiten – der Zweck heiligt die Mittel, aber mündlich lehnt ihr das ab. Wo bleibt die Gerechtigkeit? Der Marxismus lehrt doch, daß ungerechte Mittel das Ziel verderben. Millionen Menschen haben sie in Lager gejagt. Wozu? Ihr sagt, daß es Opfer von Verleumdung und Gewalt gibt. Seid ihr etwa eine Ausnahme? Hier im Lagerpunkt befinden sich ungefähr zweitausend Menschen. Fragt sie doch, und auch alle anderen, die nach §58 in die Isolation gekommen sind werden das gleiche behaupten, und das sagt ja einiges aus".
Es fiel mir schwer, um Fakten zu ringen, weil ich selbst überzeugt war, daß etwas Ungesetz-liches geschah, aber trotzdem versuchte ich, die Maßnahmen der Staatsmacht zu rechtfertigen, die auf der Theorie Stalins über die Verschärfung des Klassenkampfes unter dem Sozialismus, über Schädlingstätigkeit, Spionage, usw. beruhten.
Häufig wurde solche Art von Streitgesprächen ausgetragen. Wegen meines kommunistischen Credos mochten sie mich nicht – und das ist noch milde ausgedrückt.
Das Lagerleben ist trübe, monoton, trostlos. Selten hörst du ein Lachen, Fröhlichkeit. Die Gesichter der Menschen sehen nachdenklich, traurig aus. Man unterhält sich über Zuhause, über Ehefrauen und Kinder, und stößt dabei vor Gram tiefe, Hoffnungslosigkeit ausdrückende Seufzer aus. Von der Arbeit kehren die Menschen völlig übermüdet und hungrig zurück. Ein Arbeitstag dauert nicht weniger als 10 Stunden, und die Verpflegung ist, gelinde gesagt, dürftig. Die Arbeit selbst ist sehr schwer. Die Arbeiter, die die Norm übererfüllen, erhalten als Prämie eine Sonderration, bestehend aus 100 g weißen Brötchen, und um sich die zu verdie-nen, muß man sich anstrengen. Aber die Unterernährung veranlaßte (zwang) die Menschen, diesen Brötchen nachzujagen. Viele, die alles daran setzten, wurden zu Invaliden, und einige kamen dabei auch ums Leben.
Um ein wenig Abwechslung ins Lagerleben zu bringen, organisierte ich kulturelle Veranstal-tungen. Ich gründete ein Streichorchester, einen Dramenzirkel, einen Chorkreis. An den freien Tagen fanden Theateraufführungen, Konzerte statt, und wir fuhren damit auch zu anderen Lagerpunkten. Von der Politabteilung des Lagers übersandte man mir Dankesworte. An dem Lagerpunkt, an dem ich mich befand, waren hauptsächlich nach §58 des Strafgesetzes Verur-teilte, aber bei etwa 10-15% handelte es sich um bytoviki (Alltagsverbrecher). Das waren Kriminelle: Räuber, Plünderer, Mörder, Rowdys, Diebe, Leute, die etwas unterschlagen hatten, und andere. Sie wurden blatnye (Berufsverbrecher)genannt – Diebe, die ihrem Beruf und dessen Gesetzen treu waren. Sie hatten eine privilegierte Stellung inne. Aus ihren Reihen wurde das Dienstpersonal des Lagers ernannt: Köche, Krankenpfleger, Pferdeführer, Fahrer, Bäcker, Lagerverwalter, für den Warenversand Zuständige, Feuerwehrleute, der Leiter des Isolators, die Beauftragten für die Arbeitseinsätze, Kommandanten und sogar die Leiter für den Klub sowie die Erzieher. Die übrigen wurden in Brigaden eingeteilt. Aber sie arbeiteten fast überhaupt oder gar nicht. Wieviel produziert werden sollte, wurde ihnen aber trotzdem vorgeschrieben, mit dem stillschweigenden Einverständnis der Lagerpunkt-Verwaltung, denn sie fürchteten sich vor diesen Kriminellen. Nicht selten kam es zu Prügeleien, Verkrüp-pelungen und sogar Morden an Brigadearbeitern und Forstmeistern, die Widerstand geleistet hatten. Im Sommer schliefen die Kriminellen den ganzen Arbeitstag über im Wald und rührten keinen Finger an den Sägen. Nachts spielten sie Karten. Im Winter saßen sie am Lagerfeuer. Und wenn es erlosch, dann schrien sie: „He, Konterrevolutionäre, legt Brennholz nach, ihr seht doch, daß das Feuer herunterbrennt. Sucht Holzscheite! Die Kriminellen frieren, und die Konterrevolutionäre sitzen da und scheren sich nicht darum.“ Sie bemühten sich nicht einmal, für sich selbst Brennholz zu beschaffen. Es waren Schmarotzer, Parasiten an den Körpern arbeitssamer Menschen. Aber sie waren der Halt der Lagerverwaltung und damit mußte man sich abfinden
Die Kriminellen klauten alles, was nur irgend möglich war. Morgens, nachdem die anderen Leute zur Arbeit gegangen waren, durchkämmten die Diebe, die aus den unterschiedlichsten Gründen in der Zone geblieben waren, alle Baracken und durchwühlten die Wäsche der Arbeiter. Alles, was ihnen geeignet schien, nahmen sie mit. Aber die Leute kannten das schon und versuchten daher möglichst alles anzuziehen. Sogar nachts, wenn die von der schweren Arbeit völlig Erschöpften in tiefem Schlaf lagen, zogen die Diebe unter ihren Köpfen die dort liegenden Sachen und Lebensmittel hervor (Reste aus Lebensmittelpaketen). In der Hauptsa-che waren dies Schuhe und andere Kleidungsstücke. Im Winter zogen sie mir nachts einmal ein Paar Stiefel von guter Qualität unter dem Kopf heraus, und ich mußte in Bastschuhen herumlaufen. Für die Fußlappen zerriß ich meine Unterwäsche, aber das half wenig: ich fror trotzdem an den Füßen ganz schrecklich.
Die Kriminellen befaßten sich auch mit Räubereien. Wenn einer der Arbeiter ein Paket erhalten hatte, lauerten sie ihm auf und nahmen es ihm weg. Im günstigsten Fall teilten sie den Inhalt in zwei Hälften. Die hatten Angst, sich über die Kriminellen zu beschweren, weil die Gefahr bestand, daß diese sie verprügelten oder sogar zum Krüppel machten. Außerdem war es sowieso nutzlos sich zu beschweren, denn es wurden keinerlei Maßnahmen gegen die Räuber ergriffen. Die Verwaltung nahm das alles mit Humor und sagte,daß auch die Krimi-nellen essen wollen.
Außer in getrennten Frauenlagern wurden weibliche Gefangene auch in Männerlagern gehalten. In dem Lagerpunkt, an dem ich mich befand, gab es etwa 30-40 Frauen. Sie arbeiteten im Dienstleistungsbereich: als Wäscherinnen, Krankenpflegerinnen, Bäckerinnen, Buchhalterinnen. Die Frauen wohnten in einer separaten Baracke, und der Zutritt war den Männern strengstens untersagt. Mit wenigen Ausnahmen wohnten die Frauen alle mit Männern zusammen, obwohl dies formell verboten war, aber Unterernährung, Mangel, Einsamkeit und Kummer, all das zwang die unglücklichen Frauen dazu, sich nach Hilfe, Schutz und Unterstützung beim starken Geschlecht umzusehen. Natürlcih spielte auch der kraftvolle Ruf der Natur in dieser Hinsicht nicht die allerletzte Rolle. Viele Frauen brachten Kinder zu Welt. Bis zum Alter von zwei Jahren blieben die Kleinen in Krankenhaus-Kindergärten (die Mütter fuhren zum Füttern dorthin), anschließend wurden sie in Kinderheime verschickt.
Am Lagerpunkt gab es eine ambulante Krankenstation sowie ein stationäres Krankenhaus mit 10 Bettstellen. Den Dienst versah dort ein zu den Gefangenen gehörender Feldscher, obwohl außer ihm auch ein festangestellter Arzt vorgesehen war. Viele Menschen kamen zur Abend-sprechstunde; der Feldscher war daher aus Zeitmangel gezwungen, die Untersuchung der Kranken nur oberflächlich durchzuführen. Von der Arbeit wurden nur diejenigen freigestellt, die eine Temperatur von mehr als 37,5 Grad hatten. Eine Unterbringung im Krankenhaus fand nur selten statt. Es gab kaum Medikamente, Aspirin und Mangan. Aber ungeachtet der ungün-stigen Bedingungen und der schweren körperlichen Arbeit, lag die Sterblichkeit zu jener Zeit nicht sehr hoch.
Sie sagten, daß in den Behörden, den Unternehmen und den Truppenteilen Partei- und allgemeine Versammlungen der Arbeiter und Angestellten abgehalten wurden, auf denen man „Vaterlandsverräter“ anprangerte und verschiedene Resolutionen zum „Tod der Volksfeinde“ erließ. Derartige Losungen hingen an allen öffentlichen Plätzen aus. In der Presse, im Radio wurden täglich Aufrufe gedruckt bzw. gesendet, „Volksfeinde“ zu entlarven, mit dem Hin-weis, daß der Feind ein falsches Spiel trieb und dabei, wie Stalin sagte, „heimlich und unbemerkt vorging“.
Als Beweis der Richtigkeit für Stalins Theorie über die Zuspitzung des Klassenkampfes unter dem Sozialismus wurden Fakten angeführt wie z.B. „die Geständnisse von Spionage, Schädlingstätigkeit sowie anderen Verbrechen“, welche viele Menschen ablegten, die in Wirklichkeit mit unerlaubten Mitteln dazu gezwungen worden waren. „Es wurden zahlreiche Diversanten-Gruppierungen aufgedeckt“. Aber die Menschen standen dem mit großem Miß-trauen gegenüber, denn fast vor aller Augen wurden Nahestehende und Bekannte verhaftet, die sich überhaupt nichts hatten zu schulden kommen lassen.
Man erzählte sich einen Fall, in dem der 13-jährige Wanja Wasser aufs Feld gebracht hatte.
Unterwegs ging das Pferd durch. Wanja versuchte es wieder einzuspannen, aber irgendwie bekam er das mit dem Krummholz nicht wieder richtig hin. Entweder war es schadhaft oder Wanja kannte sich nicht gut damit aus und wußte nicht, was er tun sollte; jedenfalls war er gekränkt und fing an zu weinen. Gerade in dem Augenblick fuhr ein Traktorist an ihm vorbei und fragte:
„Was ist los, Wanja? Du weinst ja!“
„Ach, das Krummholz ist unbrauchbar! Das müßte man Stalin über den Kopf ziehen". Der Traktorfahrer brach in Lachen aus und erzählte später irgend jemandem in der Siedlung davon. Abends wurde Wanja verhaftet, und der Untersuchungsführer, der ihm einfach das Alter eines 16-jährigen verlieh, sicherte ihm durch die Trojka einen Freiheitsentzug von 10 Jahren. Im Gefängnis weinte Wanja die ganze Zeit und bat darum seine Mutter zu rufen.
Die Mitarbeiter des NKWD, der Justiz (Untersuchungsführer, Richter, Staatsanwälte) halten sich für fortschrittliche, kluge, kulturelle Menschen. Dabei ist doch allen bekannt, daß, je klüger und kulturvoller ein Mensch ist, desto nachsichtiger, weicher und gütiger geht er auch mit den Leuten um. Aber sie, diese Mitarbeiter, glänzen mit Grausamkeit, Heuchelei und Betrug. Nur ein Ignorant und ein Mensch ohne Gewissen kann derart vorgehen und Maß-nahmen durchführen, die nicht unserer sozialistischen Moral entsprechen, die dem Wesen unserer Gesellschaft völlig fremd sind. Marx sagte: Ignoranz – das ist eine dämonische Kraft, und wir haben Angst, daß sie noch der Grund für viele Tragödien sein wird.
Mögen diese Leute der Stimme des Gewissens folgen, möge es ihr Leben lang an ihren Fersen hängen und ihnen keine Ruhe lassen.
So dachte ich als ich am Abend auf der harten und schmutzigen Lagerpritsche in einen unruhigen Schlaf fiel: „Was wird der nächste Tag uns bringen?“
22. Juni 1941 - 14.00 Uhr. Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare Molotow war im Radio zuhören und verkündete, daß das faschistische Deutschland, ohne Kriegserklärung, ver-räterisch in die Sowjetunion eingefallen sei. Die kommunistische Partei und die sowjetische Regierung riefen das Volk und die Armee zum Befreiungskrieg, zum Vaterländischen Völker- krieg auf.
„Krieg – das ist immer etwas ganz Schreckliches“, dachte ich. „Es gibt verschiedene Arten – Gerechtigkeits-, Befreiungs-, Eroberungskriege. Aber dieser Krieg, den das faschistische Deutschland entfacht hat, ist unmenschlich und grausam. Der Faschis-mus bringt für unser Land viel Kummer und Leiden mit sich. Er bringt Hunger, Kälte, Verfall, Elend, Krankheit, Tod. Die Faschisten vernichten nicht nur unsere Menschen, sondern zerstören auch die Kultur und die Errungenschaften der Kunst, die von den Menschen angesammelt worden ist. Dieser Krieg verschlingt viele Opfer.
Die Stimmung war düster. Am Abend lief die Probe zur bevorstehenden Theateraufführung.
Um 23 Uhr erschien auf der Bühne der Kommandeur des Militärzuges mit zwei Wachmän-nern und verhaftete mich. Nach der Durchsuchung, die natürlich ergebnislos verlief, schickten sie mich in den Isolator des Lagerpunktes, der vorher von den Arbeitsverweigerern geräumt worden war. Welche Ironie des Schicksals? Sie verhaftetetn einen Gefangenen und steckten ihn ins Gefängnis der Gefängnisse(!?). Ich konnte diese juristische Haarspalterei überhaupt nicht verstehen. Mir war doch schon wegen „antisowjetischer Agitation“ die Freiheit ent-zogen worden, wozu dann jetzt genau dasselbe „Verbrechen“ ins Quadrat erheben? Was ist das für eine Unsinnigkeit!? Ich kann mich doch auch so nicht verstecken, meine Lage nicht ändern. Offensichtlich mußten die Mitarbeiter des MWD mir soviele Leiden wie nur irgend möglich verursachen.
Im Isolator befand sich nur ein Mann. Es war ein alter, buckliger Invalide. Ich hatte ihn schon früher im Lagerpunkt gesehen, aber noch nie mit ihm gesprochen. Es stellt sich heraus, daß er vor vielen Jahren der Partei der Sozialrevolutionäre angehört hatte. 1920, nach Beendigung des Bürgerkrieges, war die Partei auseinandergefallen, und seit der Zeit war er parteilos.
„Ich habe schon ein paarmal im Gefängnis gesessen“, sagte er, „obwohl ich keinerlei Verbre-chen begangen habe, und 1937 verurteilte mich die Trojka zu 10 Jahren Freiheitsentzug, und zwar nur deswegen, weil ich damals, vor 17 Jahren, ein Sozialrevolutionär war. Und jetzt haben sich mich aus dem gleichen Grund verhaftet.
Ich greife ein wenig vor, wenn ich hier sage, daß sie ihn nach §58, Absatz 2, beschuldigt und ihn zum Tod durch Erschießen verurteilt hatten.
Am nächsten Tag, nach dem Mittagessen, wurde noch ein Mann gebracht. Es war ein junger, fröhlicher Bursche von 22 Jahren, Sajzew mit Nachnamen. Ich kannte ihn sehr gut; er war aktives Mitglied des Dramaturgie-Kreises, ehemaliger Ballettkünstler. Er bekam von der Trojka eine Strafe von 10 Jahren wegen Spionageverdacht aufgebrummt. Er bezeichnete sich als Polen und sagte, daß sein richtiger Familienname eigentlich Saens wäre.
„Weshalb hat man dich verhaftet“? fragte ich.
„Ich war mit dem Leiter des Lagerpunktes unterwegs gewesen, und auf dem Rückweg rannte ich in die Küche, denn ich hatte schrecklichen Hunger. Ich fragte den genossen, was es denn zum Mittag gäbe. Und er antwortete scherzhaft – Hundefleisch! In der Kantine befand sich zu diesem Zeitpunkt eine Brigade von Fuhrleuten, die auf ihr Essen warteten, und ich rief lachend: Kinder, zum Mittag gibt’s Hundefleisch! Na, macht nichts! Damit werden die schon klären.- Das war doch bloß ein Scherz gewesen.“
Armer Sajzew. Er war naiv wie ein Kind. Auch er erhielt den §58, Absatz 2, und würde ebenfalls zur Höchststrafe verurteilt. Der Koch leugnete bei der Verhandlung im Gerichtssaal das Wort „Hundefleisch“ ausgesprochen zu haben und erzählte, daß Sajzew nach der Urteils-verkündung bitterlich geweint hätte.
An diesem Tag wurden noch ein paar Männer gebracht. Sie alle waren irgendwann einmal, vor langer Zeit, entweder Menschewiken oder Sozialrevolutionäre gewesen oder hatten unvorsichtige Ansichten anläßlich des Krieges geäußert. Man brauchte z.B. nur sagen, daß Deutschland über eine mächtige Armee verfüge und der Kampf gegen sie schwierig sein würde, dann folgte darauf bereits die Verhaftung und im folgenden die Verurteilung zur Höchststrafe, ebenso wie bei Lobpreisung des Faschismus.
Ich erinnere mich noch an einen Mann, der irgendwie sagte, daß die klassische deutsche Musik auf einem der ersten Plätze weltweit rangiere, daß Beethoven, Bach, Mendelssohn und andere – großartige Komposnisten seien, und schon wurde er verhaftet, und man beschuldigte ihn, daß er faschistische Kultur angepriesen habe (!?).
Aber kehren wir zum 23. Juni 1938 zurück. Am Abend jenes Tages wurde eine Frau gtebracht, die mit mir ion der Buchhaltung gearbeitet hatte, mit Nachnamen Fajwischewitsch, ebenfalls aktives Mitglied des Dramaturgiekreises. Man brachte sie in der benachbarten Frauenzelle unter. Ich frage: „Weshalb?“ Und sie antwortet: „Ich weiß es nicht. Ich bin mir keiner Schuld bewußt“.
Fajwischewitsch kannte ich recht gut. Einige Jahre hatte ich mit ihr Seite an Seite in der Buchhaltung gearbeitet. Sie war eine Frau von 35 Jahren, intelligent, gebildet, klug, zurück-haltend in ihren Ansichten. Sie stammte aus Leningrad. Die Trojka verurteilte sie wegen antisowjetischer Agitation, mit der sie sich nach ihren eigenen Worten niemals befaßt hatte, zu 10 Jahren Freiheitsentzug. Der tatsächlich Grund war wohl, daß sie die Ehefrau eines ehemaligen Offiziers der Weißen Garde war.
Noch einmal greife ich vorweg, indem ich über ihr weiteres Schicksal berichte. Das hat sie mir selber erzählt, als ich sie einige Monate später im Straflagerpunkt wiedertraf.
„Als mich der Untersuchungsführer das erste Mal zu sich rufen ließ, sagte er, daß ich gemäß §58 des Strafgesetzes, Absatz 10, Abschnitt 1 und 2, beschuldigt würde, also antisowjetische Agitation in Friedens- und Kriegszeiten. Daß Zeugen vorhanden seien, die dies bestätigen könnten und daß mich darauf die Höchststrafe erwarten würde. Das entsprach nicht der Wahr-heit. Nach einigen Tagen, als das Untersuchungsverfahren abgeschlossen war, gestattete man mir, mich mit dem Untersuchungsmaterial vertraut zu machen. Zu meinem Schrecken sah ich, daß als Hauptzeugin der Anklage meine beste Freundin auftrat. Ich traute meinen Augen nicht, als ich die Aussagen einer ehrlichen, klugen, gebildeten Frau las, der ehemaligen Lehrerin Motorina, mit der ich in der Buchhaltung des Lagerpunktes etwa vier Jahre lang gearbeitet hatte.
Sie, eine ältere Frau mit höherer Bildung, war mir wie eine leibliche Mutter. Immer unter-stützten wir uns in schwierigen Minuten gegenseitig im moralischen Sinne, teilten sowohl Kummer als auch seltene Freuden miteinander, einer aß sogar ohne den anderen niemals ein Stück Brot. Wie hatte sie sich zu einer solchen Verleumdung herablassen können. Oft hatten wir mit ihr über diese Thematik gesprochen, daß Verleumder immer und überall auf Verach-tung stoßen. Denn es gibt keine armseligere, nichtigere Gestalt als jene, die einem anderen gegenüber falsche Beschuldigungen erhebt, in dem Bemühen, sich selbst zu bestärken und die Aufmerksamkeit der Leute auf die eigene Niederträchtigkeit zu ziehen. Verleumdung geht rasch vorüber. Ihr Leben ist nicht lang und schmachvoll, aber sie ist in der Lage, ernsthaften Schaden zuzufügen.
Eine andere Frau gab zu verstehen, daß sie angeblich von anderen Frauen über meine antisowjetische Haltung gehört hatte, von wem genau – daran erinnert sie sich nicht. Ich verlangte eine Gegenüberstellung mit der Motorina. Das wurde mir verweigert; sie sagten, daß ich ihre Aussagen bei der Gerichtsverhandlung selbst anhören könnte".
Ja, der Untersuchungsführer war ein unmoralischer Mensch. Und für den, der auf einer niederigen Stufe moralischer Entwicklung steht, ist Edelmut keine materielle Substanz, und deswegen kann man sich darüber hinwegsetzen. Seine Devise und sein Lebenscredo – wenn es ihm doch nur gut ginge!
Es kam die Stunde der Verhandlung. Die Motorina betrat den Gerichtssaal mit gesenktem Kopf, ohne mich anzusehen.
„Zeugin Motorina, erzählen Sie, was Sie über die antisowjetische Agitation der Gefangenen
Fajwischewitsch wissen“, sagte der Richter.
„Ich habe niemals irgendetwas Derartiges von ihm gehört“, antwortet Motorina.
Der Richter verlor den Kopf.
„Was reden Sie da für einen Unsinn; Sie haben doch bei der Untersuchung eine Aussage gemacht. Hier sind sie“, sagte er und verlas den Text.
„Die Aussagen stammen nicht von mir, nur die Unterschrift. Der Untersuchungsführer hat diese Aussagen selbst hingeschrieben und mich zum Unterschreiben gezwungen“, sagt die Zeugin ruhig und mit fester Stimme.
„Wie gezwungen?“
„Meine beiden geliebten Töchter waren zuhause. Ich liebe sie sehr. Sie sind mir das Teuerste im Leben. Und da hat der Untersuchungsführer zu mir gesagt, daß sie, wenn ich das Verhör-protokoll nicht unterschreibe, von ihrer Arbeitsstelle gejagt und verhungern würden; außer-dem würde man mich aus der Buchhaltung entfernen und in den Wald schicken, wo ich dann schwere Arbeiten verrichten sollte, und dort würde ich ebenfalls zugrunde gehen und meine geliebten Mädchen nie wieder sehen. Ich verlor meinen Mut, meinen Widerstandswillen und unterschrieb, was ich nun sehr bereue“.
Auch die zweite Zeugin sagte aus, daß der Untersuchungsführer sie zur Unterschrift des Verhör-Protokolls gezwungen hätte. Die Gerichtsverhandlung wurde geschlossen und die Angelegenheit zu den Akten gelegt. Die Motorina wurde nach diesem Vorfall tatsächlich aus der Buchhaltung herausgenommen, aber man schickte sie nicht in den Wald, sondern als Wäscherin in die Waschküche.
***
Und mich zerrten die Untersuchungsführer andauernd zum Verhör. Sie verlangten, daß ich von ihnen vorgefertigte Verhör-Protokolle unterschrieb, die meine „Geständnisse über anti-sowjetische Agitationen“ enthielten. Aber ich gab weder ihrem Zureden noch ihren Drohungen nach. Ich sagte ihnen die Wahrheit, daß ich mit Vertrauen und Wahrhaftigkeit der sowjetischen Regierung und der kommunistischen Partei diente, sogar grundlos Opfer von Repressionen geworden war, daß ich alle meine bescheidenen Kräfte dafür hergab, um die Leiden der Häftlinge ein wenig zu erleichtern, indem ich ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft einflößte, und sie tatkräftig zur Erfüllung der Produktionsauflagen schickte. Aber die Untersuchungsführter wollten auch davon nichts hören. Endlich wurde das Verfahren beendet und man machte mich mit meiner Akte bekannt. Wie ich auch angenommen hatte, erwiesen sich als Zeugen der Anklage die drei ehemaligen Offiziere der Weißen Garde, mit denen ich häufig gestritten hatte, und ein ehemaliger rückfälliger Dieb, der unlängst an einem Verkaufs-stand gearbeitet hatte; als ich diesen einmal kontrollierte, hatte ich erhebliche Fehlmengen festgestellt. Das Dieblein hatte mich gebeten, Stillschweigen über diese Verluste zu bewah-ren, aber nachdem ich ihm gesagt hatte, daß dies nicht möglich sei, drohte er mir mit großen Unannehmlichkeiten.
Der Untersuchungsführer suchte sich die Zeugen aus, die für mich kein gutes Wort einlegen würden. Der Hauptzeuge, ein ehemaliger Weißgardist und jetzt Gefangener, der fest ange-stellte Informant Nikolaj Nikolajewitsch Ardentow, sagte aus, daß er angeblich einmal an einem freien Tag, als er an der Baracke (in der Zone) vorüberging, einen Menschenauflauf von Inhaftierten gesehen hätte, und in der Mitte der Menge hätte ich gestanden und anti-sowjetische Agitation betrieben.
Die anderen beiden Zeugen sagten aus, daß sie keine direkten Angriffe gegen die Sowjet-macht gehört hätten, aber es wäre ihnen so vorgekommen, daß all meine Gespräche verbor-gene Sympathien mit dem deutschen Faschismus widergegeben hätten. Was der Dieb aus-sagte, daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. In die Akte schrieb ich: „Alles Lüge und Verleumdung. Kein einziges Wort entspricht der Wahrheit. Ich bitte den Staatsan-walt darum, mich zur Klarstellung des Falles zu sich zu rufen. Und dann unterschrieb ich. Aber eine Aufforderung des Staatsanwaltes habe ich auch tatsächlich nicht miterlebt.
Anfang August wurde ich zum Straflagerpunkt gebracht. An diesem Straflagerpunkt waren alle nach §58 angeklagten Untersuchungshäftlinge, alle Personen, die bereits zum 2. Mal nach §58 verurteilt worden waren, alle Polen und Deutschen sowie die gesamte Intelligenz konzen-triert: Ärzte, Ingenieure, Buchhalter und andere Personen, die als „potentiell“ unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig galten. Nach einiger Zeit schickten sie auch alle großen Kriminel-len als potentiell Gefährliche hierher: Räuber, Plünderer, Bärenjäger, Wiederholungsdiebe und andere „Spezialisten für Totschlag“. Unter diesem Gesindel gab es tatsächlich inter-nationale „Fachleute“, die in vielen Ländern der Welt „tätig waren“, hier jedoch für lange Zeit „seßhaft“ geworden waren.
Der Straflagerpunkt war ein düsterer Ort. Alte, schmutzige Baracken mit nackten doppel-stöckigen Pritschen, die von Wanzen wimmelten. Einfache Fensterrahmen mit zerbrochenem Glas. Kein Klub, keine kulturellen Veranstaltungen. In der Zone gibt es einen großen Zentral-Isolator, der von einem drei Meter hohen Zaun umgeben ist. Kommandant des Lagers war ein ehemaliger Räuber, ein gewisser Schilin. Das war ein kräftig gebauter Mann von dreißig Jahren, mittlerer Größe, aber grausam, grimmig und böse wie der Teufel selbst. Er schlug Häftlinge wegen irgendwelcher beliebigen Ordnungswidrigkeiten erbarmungslos halb tot.
Er hielt den gesamten Lagerpunkt mit äußerster Strenge zusammen. Viele Todesopfer, viele Krüppel hat er auf dem Gewissen. Aber der Lagerverwaltung schien er absolut geeignet zu sein und sie stand hinter im, wie der Teufel hinter der sündhaften Seele. Aber davon später. Folgen wir den Ereignissen der Reihe nach.
Natürlich wurden Brigaden organisiert, und die Arbeit nahm ihren vollen Gang. Die Disziplin war äußerst streng. Auf dem Weg zur Arbeit warnten die Begleitsoldaten: „... nur ein Schritt aus der Reihe – das gilt als Fluchtversuch, und wir werden von der Waffe Gebrauch machen“. Und das taten sie auch. Die Verpflegung verschlechterte sich zusehends. Selbst in Friedens-zeiten war sie dürftig, aber während des Krieges ganz schlecht. Etwa einen Monat lang ging ich zur Arbeit. Und dann, in Zusammenhang mit der Tatsache, daß man mir den §58 des Strafgesetzes, Absatz 10, Teil 2, zur Last legte, den man mit der Höchststrafe zu ahnden drohte, brachte man mich bis zur Verhandlung im Zentral-Isolator unter. Er war für 80-90 Personen berechnet und verfügte über 16 Zellen. Der Leiter des Isolationsgefängnisses war ebenfalls ein Häftling, man erzählte sich, daß er ein ehemaliger Plünderer sei. In der Zelle, in die ich gebracht wurde, befanden sich bereits zwei Leute: der polnische Professor Tscherno-gubskij und ein orthodoxer Priester, an dessen Nachnamen ich mich nicht mehr erinnern kann. Der Pole erzählte, daß man ihn wegen Patriotismus verhaftet hätte, dafür, daß er bereit sei, sein Vaterland bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Viele seiner Landsleute waren zur Untersuchung bestellt worden und nicht zurückgekehrt. Gott allein weiß, wo sie sich jetzt befinden. Er war Katholik und in seinem Glauben sehr fanatisch. Er war auch abergläubisch. Er überzeugte mich davon, daß er die Seelen von Toten herbeirufen könnte. Trotz seiner Bildung war er unwis-end. Er war nicht einverstanden mit den Lehren von Marx und Engels über das Aussterben des Staates bei Errichtung einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Er sagte: „Marx’ und Engels’ Annahme, daß es in einer kommunistischen Gesellschaftsordnung keine politi-sche Macht mehr gibt, basiert auf einem Mißverständnis, auf einer unklaren Vorstellung über die Natur und die Bedeutung juristischer und politischer Erscheinungsformen. Hier muß man sich die Frage nach einer Umgestaltung des bestehenden Staates stellen, und nicht die nach ihrer Abschaffung. Die Macht in sozialistischen Staaten wird viel stärker sein als in kapitalistischen und die Zwangsaktionen viel energischer, was die Ereignisse beweisen, die sich in eurem Staat zugetragen haben.“
Ansonsten war er ein ausgeprägter Antikommunist. Bald wurde er herausgerufen, freigelassen und zu den sich formierenden polnischen Truppenteilen geschickt.
Der orthodoxe Geistliche war ein ganz ruhiger, kluger und intelligenter Mensch.
„Bereits seit zwanzig Jahren erdulde ich Verfolgungen wegen meines orthodoxen Glaubens“, sagte er. „Mitunter komme ich zwar aus dem Gefängnis, aber nach kurzer Zeit verhaften sie mich wieder. Mehrmals empfahlen sie mir, mich von meinem Priesteramt loszusagen und antireligiöse Vorlesungen zu halten. Aber das werde ich niemals tun. Ich glaube fest an den ewigen, allmächtigen und allwissenden Gott. Die Kommunisten haben Gott verbannt, aber dafür haben sich nichts gegeben; es entstand eine Leere, die sich nun beharrlich mit durch und durch Bösem anfüllt. Sogar im Sinne der Moral ist Gott der beherrschende Anfang und wird dies auch immer sein. Der Mensch ist unvollkommen und schwach. Es bemächtigen sich seiner immer unanständige und bisweilen auch verbrecherische Gedanken, die sich bei Fehlen eines Zusammenhaltes in Taten verwandeln. Der Geistliche sagte viel über die menschliche Willlensfreiheit im religiösen Sinne. „Menschliche Freiheit existiert, aber nur in direkter und vollständiger Anhängigkeit vom gnädigen Willen Gottes. Wir sind frei, wenn und inwieweit Gott will, daß wir frei sind“, sagte er mit Pathos.
Bald brachten sie noch einen Mann, einen wolgadeutschen Kolonisten, der die russische Sprache und die russischen Sitten angenommen hatte, ein gläubiger Protestant, der später ebenfalls zur Höchststrafe verurteilt wurde.
Es entbrannte ein noch heftigerer Streit. Der Geistliche sowie der ihn unterstützende Pole kritisierten in aller Schärfe die protestantischen Ansichten von Spinoza, Leibnitz, Kant , Luther, Calvin und anderen, die die Freiheit des Willens im Menschen ablehnten; sie sagten, daß ihre Lehre ein bedingungsloser protestantischer Determinismus sei, der die Masse leichtgläubiger und schwacher Menschen im Jenseits ins Verderben führt. Der Protestant widersprach energisch.
„Die Willensfreiheit“, sagte er, „ist nach dem Sündenfall Adams ein leeres Hirngespinst. Gott erkennt auf rein gedankliche Weise alles logisch Mögliche, obwohl das niemals als klare Erscheinung vorhanden war oder sein wird. Er gibt acht auf alles, was ist, war und sein wird. Gott weiß niemals im voraus zufällig etwas, sondern zieht alles mit beständigem, ewigem und unfehlbarem Willen in Betracht, bestimmt es im voraus und vollzieht es. Gott erzeugt in uns sowohl Gutes als auch Böses. So wie er uns ohne unser Zutun rettet, so rettet er uns auch ohne unsere Schuld. Wir laufen ganz alleine, jedoch nur dorthin, wohin Gott uns lenkt. Gott selbst handelt in uns, wenn wir Gutes tun, und durch sein Werkzeug – den Satan, wenn wir Böses vorhaben. Alles ist definiert durch den Willen Gottes in der Kraft der moralischen Notwen-digkeit.“
„Na, und wie hat Marx die Freiheit verstanden?“ wandte sich der Geistliche an mich.
„Marx war Atheist. Er betrachtete die Frage nach der Freiheit des Menschen nicht im religi-ösen Sinne, und die Freiheit nach dem sozialem Verständnis in der kommunistischen Gesell-schaft verstand er als Verschmelzung der Person mit der Gesellschaft, als ununterbrochene Harmonie eines persönlichen und gesellschaftlichen Grundsatzes“.
„Ihr habt den Sozialismus, aber von einer Verschmelzung der persönlichen Interessen mit der Gesellschaft kann doch keine Rede sein. Was ist das für eine Freiheit, wenn man dazu gezwungen wird ein Papgei zu sein, weil sonst Unfreiheit droht? Das, was jetzt gerade bei euch geschieht, ist eine Verhöhnung des Menschen“, bemerkt der Pole.
„Sie zwingen einen nicht Papagei zu sein. Aber Freiheit ist eine anerkannte Notwendigkeit; sie kann nicht freie Ausbeutung und Beraubung der Werktätigen bedeuten“, erwiderte ich.
„Freiheit und Notwenigkeit sind zwei verschiedene Begriffe, die miteinander unvereinbar sind. Eure Staatsmacht bemüht sich, jedes Mitglied der Gesellschaft in einen kleinen, einge-schüchterten Menschen zu verwandeln, dem keine charakteristischen Eigenschaften zueigen sind, der sich damit begnügen würde, wenn man von ihm verlangt zu glauben, daß er sich nicht in die Angelegenheiten der Staatsführung des Landes einmischen soll“.
Es wurden Meinungen ausgetauscht und viel gestritten; man wollte in der Unterhaltung die bedrückende Stimmung ersticken, die Angst vor der Zukunft, die nichts Gutes verhieß.
Die Verpflegung wurde extrem schlecht. Alles wurde vermischt: Brot, Suppen, Brei. Den Suppen fügte man, außer Kleie, noch Birkenblätter hinzu. Die Menschen wollten diesen Mischmasch nicht essen. Das Brot bekamen sie noch mit Müh und Not herunter, aber Suppen und Brei blieben unberührt auf den Tischen stehen. Es begann eine heftige, qualvolle Hunger-zeit. Die Menschen litten an Schwäche und fingen an krank zu werden. Sie schafften die Arbeitsnormen nicht. Die Produktion ging stark zurück, und es drohte der vollständige Stillstand. Die Leitung geriet in große Aufregung, und nach einiger Zeit wurden die Misch- gerichte abgeschafft. Der Hunger verschwand natürlich nicht. Die Folge war Unterernährung, die Menschen erkrankten in großem Umfang an elementarer Dystrophie. Alle Krankenan-stalten des Lagers waren überfüllt. Am Lagerpunkt wurde, außer der Krankenabteilung, noch eine ganze Baracke mit doppelstöckigen Pritschen für die Kranken zur Verfügung gestellt. Zur Arbeit gingen nur noch ungefähr 10-15%. Die Menschen begannen vor Hunger zu ster-ben.
Ich befand mich immer noch im Isoliergefängnis, als einmal, an einem regnerischen Tag im Herbst, während ich schlief, wie aus weiter Ferne süße, zauberhafte Musikklänge an mein Ohr drangen. Es war die Melodie aus der „Aufforderung zum Tanz“ von Weber. Als ich aufwach-te, wußte ich überhaupt nicht, was los war, und konnte auch gar nicht glauben, daß das Wirk-lichkeit war. Ich sah, daß meine Zellengenossen (zu dieser Zeit befand sich in meiner Zelle ein junger Künstler namens Bogdaj und ein junger Poet – dessen Nachnamen ich vergessen habe), vor Verwunderung und stummer Begeisterung erstarrt waren. Die Musik kam durch die dünnen Wände der Nchbarzelle. Ich unterschied klar die schwache aber innige Stimme einer Geige, eines Violoncellos, einer Flöte, einer Klarinette und andere Musikinstrumente. Als die Klänge verstummt waren, klopfte ich leise an die Wand und fragte: „Wer seid ihr, Zauberer?“ Stille. Dann konnte man hören, wie sie untereinander flüsternd einige Worte wechselten, entweder auf Deutsch oder auf Jiddisch. Ich wiederholte meine Frage in deut-scher Sprache. Nach langem Schweigen antwortete endlich leise eine schwache Stimme auf Deutsch: „Wir sind unglückliche Juden, die durch die Macht des Schicksals hierhergeraten sind. Wir bitten um Verzeihung, wenn unsere Musik sie in Aufregung versetzt hat. Wenn euch das unangenehm ist, dann wird sich so etwas nicht wiederholen!“
„Großer Gott! Aber ihr seid wirklich Zauberer. Mit eurer wundervollen Musik habt ihr Freude und Ruhe in unsere Herzen gebracht. Wenn ihr den Wunsch habt zu musizieren, dann macht bitte weiter. Für uns sind diese Klänge - wie Sonnenstrahlen, die unsere erstarrten Seelen erleuchten und erwärmen.“
„Wir sind Musikanten des Wiener Operntheaters. Jeder von uns imitiert so gut es geht sein Instrument. Seid ihr Juden?“
„Nein. Aber wir sind keine Antisemiten. Wir achten die Juden wegen ihrer Kultur und ihrer Talente.“
„Danke für die freundschaftliche Einstellung. Wir werden weiterspielen. Das ist jetzt unsere einzige Zerstreuung, unser einziger Trost in dieser grausamen Welt,“ ertönte wieder jene leise Stimme hinter der Wand.
„Wenn ihr genug habt von unserer Musik, dann klopft an die Wand“.
Und sie fingen wieder an zu spielen. Dieses Mal das Präludium aus Bizets „Carmen“. Es war wundervoll.
Nach und nach entstand zwischen mir und den Musikanten gegenseitiges Vertrauen. Sie erzählten mir von ihrem unglückseligen Schicksal.
„Bis zur gewaltsamen Angliederung Österreichs ans faschistische Deutschland lebten wir, österreichische Juden, gut und waren keinerlei Diskriminierungen unterworfen. Aber ab März 1938, nach dem Einfall der Hitler-Truppen, begann die Judenverfolgung. Zuerst wurden alle Männer in Konzentrationslagern isoliert. Frauen. alte Leute und Kinder waren davon nicht betroffen. In der ersten Zeit ging es im Lager noch verhältnismäßig „frei“ zu. Man gestattete uns, Besuche von unseren Ehefrauen, Müttern und Kindern zu empfangen, die Pakete mitbringen durften. Wir benutzten sogar Fotoapparate und Rundfunkempfänger. Aber einmal transportierten uns die Faschisten illegal auf polnisches Territorium. Die Polen versuchten uns zurückzutreiben, aber die Grenzpolizisten waren auf der Hut und ließen uns nicht durch. Da wir den Polen auch ein Dorn im Auge waren, schoben sie uns auf sowjetisches Territorium ab. Hier atmeten wir endlich frei auf, aber es war traurig, daß unsere Familien dort, bei den Faschisten, geblieben waren, und über ihr Schicksal ist uns überhaupt nichts bekannt“.
Im Isolationsgefängnis blieben sie etwa 8-10 Tage. Während dieser Zeit spielten sie jeden Tag. Hauptsächlich waren das Ouvertüren aus Opern von Händel, Beethoven, Mozart, Gunot, Rossini, Verdi, Bizet und sogar Werke von Bach. Es war wunderschön.
Ach, mit was für einer gewaltigen emotionalen Kraft wirkt doch die Musik auf die Psyche des Menschen ein. Wir genossen diese zauberhaften Melodien, vergaßen unseren ganzen Kum-mer, unsere Leiden und sogar den quälenden Hunger.
„Wie seid ihr denn so plötzlich ins Lager geraten, und noch dazu in den Straflagerpunkt, ja sogar ins Isoliergefängnis“, fragte ich einmal Simeon, der offenbar die meiste Autorität unter ihnen besaß.
„Als das faschistische Deutschland in die Sowjetunion einfiel, da wurden wir verhaftet und der Spionage beschuldigt und sind dann durch die Macht des Schicksals hierher gelangt. Einige zig Leute von uns kamen am Lagerpunkt an, aber hier im Isoliergefängnis sind wir zusammen neun. Wo die anderen geblieben sind wissen wir nicht. All das ist so unsinnig, schrecklich. Wie kann man uns der Spionage verdächtigen, uns unglücklichen Juden, die von den Faschisten verfolgt, gefoltert und phsisch vernichtet werden“.
Als die Zelle einmal leer geworden war, wurden wir wieder von einer düsteren Stimmung ergriffen. Uns wurde schwer ums Herz, die Seele verödete, es verschwand die Sonne und unheilverkündende Finsternis brach über uns herein.
Wohin waren unsere Musikanten verschwunden? Ich greife vorweg und erzähle, daß ich von ihrem Schicksal hörte, als ich im Januar 1942 aus dem Isolationsgefängnis entlassen wurde.
Die Gruppe mit österreichischen Juden war am Ende des Sommers 1941 am Straflagerpunkt angekommen. Bekleidet waren sie mit ihren Sommersachen, entsprechend der städtischen Mode: mit Anzügen, Hüten, abgetragenen Halbschuhen und Sommerstrümpfen sowie Über-gangsmänteln. Im Herbst begann es zu regnen, es setzten kalte Morgenfröste ein, Nachtfrost, Schnee, starker Frost. Sie litten quälenden Hunger. Man trieb sie zu schweren Holzbeschaf-fungsarbeiten, aber niemals im Leben hatten sie sich körperlich betätigt. Für sie war diese Schwerstarbeit wie eine Folter. Die Arbeitsnormen wurden bei weitem nicht erfüllt, so daß sie deswegen auf Strafration gesetzt wurden. Es war ein jämmerlicher Anblick, wenn sie von der Arbeit nach Hause kamen: ausgemergelt, entkräftet, mit tief in den Höhlen liegenden Augen, stoppelbärtig, schmutzig, waren sie kaum in der Lage sich fortzubewegen und müßten sich gegenseitig stützen.
Die bedrückende und düstere Stimmung am Straflagerpunkt ging über ihre Kräfte und so begannen sie krank zu werden und zu sterben. Als ich im Januar 1942 aus dem Isolations-gefängnis kam, fand ich bereits keinen der österreichischen Juden mehr vor.
Am 13. Januar kam ich vor Gericht. Anwesend waren zwei zeugen, beide ehemalige Weiß-gardisten – Ardentow und noch einer, dessen Nachnamen ich nicht mehr erinnere. Er befand sich übrigens auch im Straflagerpunkt und war in seiner Eigenschaft als Informant zum Leiter der Kantine ernannt worden.
Während der Zeugenvernehmung schafften sie mich aus dem Gerichtssaal fort, so daß ich ihre Aussagen nicht hören konnte. Das war eine Gesetzesverletzung, aber zu jener Zeit wurde darauf keine Rücksicht genommen. Das letzte Wort wurde mir nicht gewährt, aus Zeitmangel, wie der Gerichtsvorsitzende sagte. Tatsächlich fragte mich der Vorsitzende, ob ich mich schuldige bekennen würde. Ich antwortete: „Nein“. Man verlas das Urteil: 10 Jahre Freiheits-entzug und fünf Jahre Aberkennung der Wahlrechte.
Als ich in die Zelle zurückkehrte, kam von der Nachbarzelle ein Klopfen und ich wurde gefragt, wie man während der Gerichtsverhandlung mit mir umgegangen war. Ich antwortete, daß sie sich mir gegenüber gut verhalten hätten. Das stimmte natürlich nicht. Aber ich sagte es absichtlich so, weil das Gericht nämlich unmittelbar neben unserer Zelle zusammentrat., und wenn ich die Wahrheit gesagt hätte, dann hätte man meine laute Stimme im Gerichtssaal hören können, und ich wollte das Gericht nicht kompromittieren. Ich konnte mich noch nicht einmal für kurze Zeit hinsetzen, denn der Gerichtsvorsitzende rief mich hinaus in den Korridor.
"Warum hast du gesagt, daß das Verhalten des Richters dir gegenüber gut war? Hast du vergessen, was wir gerade für eine Zeit haben? Denk mal daran, daß ich die Gerichtssitzung gleich wiederaufnehmen und dich zur Todesstrafe verurteilen kann. Die Zeugen sind noch hier, und ich brauche ihnen nur ein einziges Wort zu sagen, und dann werden sie zu ihren Aussagen noch etwas hinzufügen".
"Verzeihen Sie mir Dummkopf," sagte ich beschwichtigend. Ich wollte nicht sterben und war froh, daß ich mit zehn Jahren davongekommen war. Ich war dem Tod durch Erschießen nur deswegen entronnen, weil sie mich wegen antisowjetischer Agitation in friedlichen Zeiten
angeklagt hatten. Es hätte nur einer der Zeugen zu sagen brauchen, daß ich irgendetwas während des Krieges gesagt hatte, dann wäre ich der Todesstrafe nicht entgangen. Und wenn sie, daß heißt die Zeugen, dies trotz des unverhüllten Wunsches des Richtes nicht gesagt hatten, dann gab es dafür einen triftigen Grund; darüber werde ich gleich erzählen. Dazu müssen wir an jenen Lagerpunkt zurückkehren, an dem ich mich vor der Zeit im Straflager-punkt aufhielt.
Wie ich bereits sagte, arbeitete ich an diesem Lagerpunkt als Buchhalter der Versorgungsab-teilung und besaß großen Einfluß auf das Lebensmittellager und die Küche, was mir ein sattes Leben garantierte. Oft gab ich den hungernden Strafgefangenen zusätzlich etwas zu essen, darunter auch den Gewohnheitsverbrechern. Zwischen mir und einem ihrer Anführer bahnte sich eine Freundschaft an. Er war ein Wiederholungsdieb. Ein Bursche von fünfundzwanzig Jahren, konnte lesen und schreiben, war gebildet, klug, körperlich kräftig und mutig. In span-nender Weise erzählte er von seinen Abenteuern. Ich zog ihn mit in unseren Dramaturgiekreis hinein. Man nannte ihn Alexej Awdejew. Als potentiell gefährliches Element war er ebenfalls zu Beginn des Krieges in den Straflagerpunkt geraten. Hier bemerkte die Verwaltung seine positiven Eigenschaften und ernannte ihn zum Arbeitsanweiser. Der Arbeitsanweiser - das ist der Herr über die Zone des Lagerpunktes. Er ist zuständig für den Weckruf, führt die Kontrol-le durch, bringt die Leute zur Arbeit, macht die Buchführung über die Arbeitskräfte, befaßt sich mit den Arbeitsverweigerern, die aus den verschiedensten Gründen in der Zone zurück-bleiben und veranlaßt die Einweisungen ins Isoliergefängnis. Nach der Verhandlung, als man mich aus dem Isolator in die Zone entlassen hatte, versprach Awdeew mich für eine leichte Arbeit einzuteilen. Aber weil ich vom langen Hungern durch den Wind hin-und hergeschau-kelt wurde, ich war schwach und dünn wie ein Skelett, brachte mich der Leiter der Sanitätsabteilung in der Krankenstation unter. Er war ein sehr guter Mensch. Er kämpfte um das Leben eines jeden. Zu dieser Zeit gab es in der Sanitätsabteilung keinerlei Medikamente.
Man "heilte" alle der Reihe nach mit wässriger, mangansaurer Kalilösung von ihren Krank-heiten - auf jeden kamen 50 gr Lösung über einen Zeitraum von 24 Stunden. Die Leute erkrankten aufgrund ihres Hungerdaseins bei schwerster körperlicher Arbeit hauptsächlich an elementarer Dystrophie. Aber es gab auch andere Erkrankungen. Die beste Heilung wäre natürlich durch eine gute Ernährung eingetreten, aber die gab es nicht. Daher wurden alle Geschwächten zur Vermeidung eines Massensterbens in Heil-Einrichtungen zur Erholung untergebracht, und die Kalilösung war nichts weiter als eine Psychotherapie.
Einmal gab mir der Leiter eine Liste von Kranken, die ins Krankenhaus eingewiesen werden sollten, damit sie am Morgen beim Appell beiseite gerufen und zur Krankenstation gebracht wurden. Morgens rief ich sie zur Seite und stellte die Gruppe zusammen, aber es gelang nicht, sie zur Sanitätsabteilung zu schicken. Der Leiter des Lagerpunktes erschien, ein äußerst grausamer Mensch, Bevollmächtigter der Sonderabteilung und Leiter der URTsch, der Registrierungs- und Verteilungsstelle für Häftlinge, der, als er erfuhr, um was es ging, in Wut geriet, denn auf der Liste befanden sich 30 Leute, und zur Arbeit gingen auch so schon viel zu wenige.
"Arbeitsanweiser", schrie der zornige Lagerpunktleiter, "schick den ganzen Haufen hier zum Bäumefällen. Und den da schick als Brigadeführer". Er zeigte auf mich.
"Herr Leiter", bemerkte der Arbeitsanweiser, "sie sind krank und könnten dort sterben".
"Sollen sie doch krepieren".
Und meine "Brigade" schleppte sich vor Schwäche taumelnd in den Wald. Es war Winter, Januar. Wir hatten minus 30°. Sie arbeiteten schlecht. Die Begleitsoldaten schrieen und drohten mit den Waffen. Sie erlaubten es nicht ein Lagerfeuer zu entfachen. Vor Müdigkeit und Schwäche setzten sich die Leute hin und legten sich in den Schnee. Ich warnte die Begleitwache daß, falls sie keine Maßnahmen ergriffe, die gesamte Brigade bis zum Abend erfroren sei. Da gaben sie uns die Erlaubnis, ein Lagerfeuer anzumachen, neben dem sich dann auch die ganze Brigade niederließ.
Beim Rückmarsch in die Zone waren zehn Leute nicht mehr in der Lage sich selbständig fortzubewegen. Sie mußten geführt werden. Auf halbem Wege verließen auch die Führer die Kräfte, und sie setzten sich in den Schnee. Die Begleitwachen beschimpften uns, schossen in die Luft, aber nichts half. Man holte Schlitten herbei und fuhr sie in die Zone, wo sie in der Sanitätsstation untergebracht wurden. Viele dieser Menschen starben kurze Zeit später.
Ich kann mich nicht mehr gut dran erinnern, aber ich glaube es war im Februar, an einem freien Tag, als man alle Häftlinge in Reih und Glied antreten ließ und ihnen einen Befehl verlas, nach der alle Gefangenen, die ohne Grund die Arbeit verweigerten, ohne Untersu-chungsverfahren und ohne Gerichtsverhandlung an Ort und Stelle erschossen würden.
Am nächsten Tag, während des Appells, weigerten sich zwei ältere Frauen den Weg zur Arbeit anzutreten. Es waren ehemalige Nonnen aus der West-Ukraine. Sie hatten auch früher nicht gearbeitet,und dafür hatte man sie einfach ins Isoliergefängnis gesteckt.
"Warum wollt ihr nicht arbeiten?" fragte der Leiter des Lagerpunkts.
"Wir können und werden für Gegner des Christentums nicht arbeiten", antwortete eine von ihnen.
"Tretet aus der Reihe und stellt euch dort hin", befahl der Kommandeur der Wachmann-schaft.
Die Frauen stellten sich an die angewiesene Stelle.
"Werdet ihr zur Arbeit gehen?", fragte der Kommandeur.
"Nein", antworteten die Frauen.
Der Kommandeur der Wachtruppe wiederholte seine Frage noch zweimal. Die Antwort blieb dieselbe. Da befahl er den Begleitsoldaten das Gewehr in Bereitschaft zu nehmen.
"Im Namen des Gesetztes, erschießt die Volksfeinde!"
Aber es erfolgte kein Schuß; warum weiß ich nicht. Entweder weigerten sich die Begleitsoldaten zu schießen, oder das ganze war nur so inszeniert.
Danach drehten man die Frauen mit dem Rücken zur Formation der dort aufgestellten Häftlinge und der Kommandeur der Wachmannschaft erschoß sie nacheinander mit einem Revolver. Die Leute waren starr vor Schreck. Die Frauen schrieen hysterisch. Einige fielen in Ohnmacht. "So, das blüht jedem, der nicht zur Arbeit geht", brüllte der Leiter des Lagerpunktes, "jetzt Marsch, an die Arbeit. Die düster blickenden, zu Tode erschrockenen Menschen gingen schweigend an den beiden Leichen der ermordeten Frauen vorüber.
Am folgenden Tag, nachdem die Leute zur Arbeit gegangen waren, durchkämmte der Kommandeur der Wachtruppe selbst die Zone und entdeckte in den leeren Unterkünften einen Mann, der sich dort versteckt hatte.Es war ein unglückseliger Gewohnheitsdieb, der wegen Arbeitsverweigerung schon ewig im Straflagerpunkt saß. Ausgemergelt, schmutzig, stoppel-bärtig, in Lumpen gehüllt, konnte er vor Angst kein Wort herausbringen. Auf die Frage des Kommandeurs, weshalb er nicht zur Antwort ginge, schluchzte er nur auf und brach in ein dünnes, winselndes Weinen aus. Der Kommandeur schoß ihm in die Schläfe, und der Tote sank zu Boden.
Bei der Arbeit im Wald gab es Fälle, in denen die geschwächten, totmüden Leute ihre Sägen und Äxte fortwarfen und sich in den Schnee legten. Auf die warnenden Zurufe der Wachmannschaft reagierten sie nicht, und jene ermorderten sie durch Gewehrschüsse.
Die Arbeitsverweigerungen hörten auf, aber die Sterblichkeitsrate nahm stark zu. Anfangs raffte der Tod ältere Menschen dahin. Sie starben fast alle. Dann kamen auch die jungen an die Reihe.
Viele, die bei der Holzbeschaffung arbeiteten, waren so erschöpft, daß sie nicht in der Verfassung waren, aus eigener Kraft in die Zone zurückzukehren. Täglich schickte man ihretwegen ein paar Schlitten, um sie zurückzuholen.
Der Befehl zum Erschießen wegen Arbeitsverweigerung wurde bald darauf abgeschafft.
Einmal sagte mir der Arbeitsanweiser Awdeew, daß er die Entlassung des Kantinenleiters erreicht habe, meines verlogenen Zeugen, der zur Gerichtsverhandlung erschienen war.
"Als er in seiner Eigenschaft als Zeuge der Anklage in die Gerichtssitzung kam", sagte Awdeew, "da warnte ich ihn, daß man ihn hier im Straflagerpunkt in Stücke reißen würde, falls du, das möge Gott bewahren, zur Höchststrafe verurteilt würdest. Und er solle auch dem Haupt-Lügenzeugen Ardentow übermitteln, daß diesem Vergeltung zuteil werden würde, auch wenn der sich an einem ganz anderen Lagerpunkt befindet. Anscheinend hat diese Drohung auf die beiden gewirkt, den sie haben sich von den Überredungsversuchen des Gerichtsvorsitzenden nicht beeinflussen lassen. Das rettete mich vor der Erschießung.
"Zu welcher Arbeit schickst du ihn jetzt? Grausamkeit ist nicht nötig. Rache ist unmoralisch".
"Du bist ein Weichling, David. Was denn schon für eine Moral in dieser rauhen Zeit. Jetzt bin ich sein Richter. Für seine Niedertracht soll er sterben".
Ardejew bestimmte ihn für den Einsatz in einer Holzfäller-Brigade, in der ein Krimineller der Brigadeführer war, ein baumstarker Kerl mit äußerst grobem Charakter, und er warnte die Brigade vorsorglich, daß der ehemalige Kantinenleiter ein Informant und falscher Zeuge war. In der Brigade ging man mit ihm grausam um. Man nahm ihm das Brot weg, schlug ihn und zwang über seine Kräfte hinaus zu arbeiten. Schnell wurde er zum "Todeskandidaten", und einen Monat später starb er.
Der Hunger zwang die Menschen zum Raub. Für gewöhnlich organisierte sich aus irgendwelchen Brigaden eine Gruppe, die im Hinterhalt lauerte, wenn frühmorgens aus der Brotverteilungsstelle das Brot für die Patienten der Krankenstation geholt wurde. Ganz unerwartet fiel dann die Gruppe über die Träger her, brachte sie zu Fall und schleppten im Nu das ganze Brot, in Portionen von 100 bis zu mehr als 500 gr, fort. Sie überfielen die Brotver-teilungsstelle und die Brotbäckerei, welche sich zu jener Zeit in der Zone befand. Man mußte bewaffnete Wachen aufstellen. Es kam auch vor, daß eine organisierte Bande sich spätnachts in eine vorher geplante Baracke einschlich, das Licht ausdrehte und beim Schein eines Holz-spans der Reihe nach die Schlafenden abgraste und ihnen alles Eßbare und alles, was ihnen gefiel, entwendete.
Die Menschen zeigten keine Güte, keine Ehrlichkeit, kein Gewissen. Und das war ganz natürlich, denn sie kämpften um ihr Leben.
Pissarjew schrieb noch: "Jeder gesunde Mensch ist gut und ehrbar, solange all seine natürlichen Bedürfnisse in ausreichender Weise befriedigt werden. Wenn die organischen Bedürfnisse unerfüllt bleiben, wird im Mensch der Selbsterhaltungstrieb wachgerufen, der stets stärker ist und stärker sein muß als alle anerzogenen moralischen Erwägungen".
Zum Kommandanten des Straflagerpunktes wurde ein gewisser Häftling namens Schilin ernannt. Ich erwähnte ihn schon. Er war ein sehr grausamer Mann. Zu seinen Pflichten gehörte es darauf zu achten, daß alle Leute morgens rechtzeitig zum Appell antraten.
Die geschwächten und kranken Menschen standen morgens ungern auf. Und einige waren dazu auch gar nicht in der Lage. In den Baracken war es ihm Winter sehr kalt. Sie wurden schlecht beheizt. Die Fenster waren einfach verglast, undicht, mit zerbrochenen Scheiben, mit Sperrholz vernagelt, durch das der Wind blies und selbst der Schnee sich seinen Weg bahnte, und die undichten Türen hielten die Wärme auch nicht drinnen. Die schlechte, für den Winter ungeeignete Kleidung, die selbst nachts nicht ausgezogen wurde, wärmte ebenfalls nicht. Die Leute schliefen ausschließlich auf den oberen Pritschen, eng aneinandergedrängt, um sich gegenseitig ein wenig zu wärmen.
Nach dem Aufruf zum Appell stürmte Schilin buchstäblich in die Baracke, und wehe, wenn noch einer auf der Pritsche liegengeblieben war. Diesen armen Teufel packte er an den Beinen und warf ihn gewaltsam hinunter. Die Opfer waren immer Kranke und Geschwächte. Diese führte gewöhnlich zu schweren und manchmal nicht wiedergutzumachenden Folgen. Für jede Verletzung der Lagerordnung schlug er die Leute halbtot. Widerspruch oder irgendwelche Bemerkungen duldete er nicht, auch diesen Leuten gegenüber zeigte er keinerlei Gnade. Viele Tote hat er auf seinem Gewissen.
Nicht nur Menschen, sondern auch Pferde, auf denen das Holz in die Holzlager abtransportiert wurde, waren sehr entkräftet von der schweren Arbeit und dem kargen Futter. Aber im Unterschied zu den Menschen ließ man die Pferde sich von Zeit zu Zeit erholen. Und das Holz wurde dann solange von den Menschen transportiert. Das war ein trauriges Bild. Die völlig erschöpften Leute wurden vor einen Schlitten gespannt. Durch den tiefen Schnee, unter Aufbietung unmenschlicher Kräfte, zogen sie die schwer beladenen Schlitten 100 von Metern weit bis zum Holzlager. Mit ihren Kräften am Ende blieben so oft stehen, um Atem zu schöp-fen und sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, aber die Zurufe der Brigadeführer und der anwesenden Leiter zwang sie, auf ihrem schweren Kreuzweg weiterzugehen.
Die Lebensbedingungen im Lager begünstigten gutmütiges Verhalten nicht. Unter den nervlich gereizten Menschen entstanden häufig aus irgendeinem Anlaß Schlägereien mit Todesfolge, besonders unter den Kriminellen. Sie prügelten sich gegenseitig und brachten sich um: in der Zone mit selbstgemachten Messern, im Wald mit Beilen und schweren Äxten. Die Lageranwaltschaft lenkte ihre Aufmerksamkeit darauf, daß der größte Teil der Körper-verletzungen und Morde sich bei der Rückgabe der Werkzeuge im Werkzeuglager ereignete,
wenn die Leute abends von der Arbeit zurückkehrten. Zur Überprüfung dieses Phänomens begab sich der Lager-Anwalt zum Lagerpunkt. Am Abend traf er neben dem Werkzeuglager zum Empfang der von der Arbeit zurückkehrenden Brigaden mit der Lagerverwaltung zusammen. Die erste Holzbeschaffungsbrigade näherte sich. Alles war ruhig und in Ordnung. Aber plötzlich ertönte anstelle des Rufes "Werkzeug abgeben" ein dumpfes Stöhnen, und alle sahen, daß direkt neben dem Anwalt ein Mann mit gespaltenem Schädel zu Boden fiel. Der Mörder beugte sich mit einem Beil in den Händen über den Getöteten, als ob er kontrollieren wollte, ob der Schlag gut getroffen habe. Der Anwalt stürzte sich halb auf den Toten und halb auf den Mörder, aber ihm entgegen kam nur das zum Schlag erhobene Beil. Kaum daß er dem Hieb hatte ausweichen konnte, rannte der Anwalt los zur Wachstube, und hinter ihm die Lagerverwaltung. Alle dies geschah in nur einem winzigen Augenblick, und es war der Wache weder gelungen, dem Angriff auf den Anwalt vorzubeugen, noch überhaupt zu begreifen, was da eigentlich vor sich gegangen war. Jedenfalls kam der Anwalt künftig nicht mehr zum Empfang der Brigaden dort hin. Aber derartige Zwischenfälle wie an diesem Abend trugen sich ebenfalls nicht mehr zu.
Ja, im Straflagerpunkt gab es verzweifelte Jungs unter den Kriminellen. Oft verübten sie Fluchtversuche, obwohl der Lagerpunkt gut bewacht war. Aber sie machten Stellen ausfindig, an denen man in der Dunkelheit der Nacht durch die Umzäunung kriechen konnte. Fast alle Flüchtlinge wurden in den benachbarten Ortschaften oder im Wald gefaßt und kamen übel zugerichtet oder bereits tot zurück. Einmal, im Winter 1942, in einer dunklen Nacht, flohen sechs verzweifelte Kiriminelle. Es waren Verbrecher von internationalem Maßstab. Ich kann mir nicht vostellen, wie sie es zuwege brachten, die sorgfältig beobachtende Wache zu umgehen und es ihnen dazu noch gelang, ein Gewehr mit Patronen zu klauen. Sie gingen zwanzig Kilometer weit. Hunderte von Wachmännern verfolgten sie mit zig Suchhunden. Nach einer Woche wurden sie entdeckt und eingekreist. Die Geflüchteten versuchten den Ring zu durchbrechen, indem sie von ihrer Waffe Gebrauch machten, aber die Kräfte und die Bedinugnen waren ungleich. Es gab anhaltenden Frost. Die Lebensmittel gingen den Flüchtlingen aus. Alle Patronen waren verbraucht. Und sie, diese sechs hungrigen, halberfro-renen tapferen Menschen, nahmen den Vorschlag des Wachleiters an sich zu ergeben, unter der Bedingung, daß man sie am Leben ließe. Und dann brachten sie alle sechs tot zum Lagerpunkt zurück. Die Leichen wurden in der Mitte des Lagerpunktes abgelegt - zur Besich-tigung und Belehrung. Allen sechs hatte man entweder in den Rücken oder in den Hinterkopf geschossen.
Ich möchte noch von einigen anderen Fluchtversuchen erzählen. Im Isoliergefängnis wurde einer gefangengehalten, der allen Symptomen nach geisteskrank war. Er schlug die Fenster-scheiben der Zelle ein und schrie beleidigende Schimpftiraden in die Zone hinunter, die gegen die sowjetische Führung gerichtet waren, besonders an die Adresse Stalins, indem er ihn sämtlicher Vergehen beschuldigte. Was sie mit ihm auch machten, nichts half. Sie legten ihm Handschellen an, zogen ihm eine Zwangsjacke an, schlugen ihn, aber er verstand es trotzdem, weiter das Fensterglas zu zerschlagen und seine Parolen hinauszurufen. Das zog die Aufmerksamkeit aller Lagerpunkt-Bewohner auf sich. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen es geschah, aber plötzlich wurde er aus dem Isolator entlassen. Nachdem er draußen war, begab er sich zur Wache, wo man ihn hinauswarf. Dann ging er geradewegs an die Umzäu-nung heran, welche direkt unter dem Beobachtungsturm lag. Er kletterte auf den Zaun und wollte hinunterspringen. Der Wachmann auf dem Turm gab zunächst einen Warnschuß ab; mit dem zweiten erschoß er ihn.
Es gab noch einen charakteristischen Fluchtversuch. Ein junger Armenier, der verurteilt worden war, weil er versucht hatte die Grenze zur Türkei zu überschreiten. Nach seiner Erzählung war er in Ägypten geboren und hatte dort als Sportausbilder gearbietet. Er wurde nach Armenien repatriiert. Die sowjetische Regierung versprach ihm in Armenien goldene Berge. Aber anstelle des versprochenen Paradieses auf Erden verlangte man von ihm unter-bezahlte, schwerste körperliche Arbeit. Daher versuchte er auch, nach Ägypten zurückzu-kehren. Arbeiten lehnte er kategorisch ab. Er saß lange Zeit bei Strafration im Isolier-gefängnis. An einem Sommersonntag zog er unter den Blicken aller Häftlinge seine Schnür-schuhe aus und ging auf den Sperrzaun zu. Er kletterte über die Absperrung, ohne den Warnschüssen der Wachmänner Beachtung zu schenken. Er setzte sich, zog seine Schuhe wieder an und ging seines Weges. Der Schuß eines Wachmannes holte ihn ein, und der Armenier fiel tot zu Boden.
Ich habe das Gefühl, daß auch hinter meinem Rücken der Knochenmann steht. Vor Hunger begann mein Körper anzuschwellen, Schwäche setzte ein, Schwindel, Schläfrigkeit.
Der Arbeitsanweiser kommt. Er sieht, daß es schlecht um mich steht.
"Komm als Statistiker zu mir, sonst sehe ich dich hier noch sterben", sagte er. "Ich habe meine Arbeit, meine Berechnungen vernachlässigt".
"Zwecklos", antwortete ich, "die Leitung wird mich schon am ersten Tag rausschmeißen".
"Das ist einen Versuch wert. Ich werde darum kämpfen".
Wir gingen. Ich nahm die Arbeit an. Ich schaffte Ordnung. Am ersten Tag brachte Awdejew aus der Küche sechs Portionen Mittagessen, und ich aß sie alle auf einmal. Im Bauch rumorte es, das Atmen machte mir Mühe, aber das Hzngergefühl blieb. Einen Tag später erzählte Awdejew: "Irgendein Schuft hat bereits Bericht erstattet, daß du bei mir arbeitest. Er tauchte gerade vor den zornigen Augen der Leitung auf." Und hier der Dialog.
Lagerpunkt-Leiter: "Weshalb hast du diesen Konterrevolutionär zu dir geholt? Für ihn ist es schon längst Zeit zu krepieren, und du hast ihn unter deine Fittiche genommen".
Arbeitsanweiser: "Ich habe meine Berechnungen vernachlässigt. Er bringt alles wieder in Ordnung".
Lagerpunkt-Leiter: "Nimm einen von den nichtpolitischen Kriminellen".
Arbeitsanweiser: " Sie können weder lesen noch schreiben".
Lagerpunkt-Leiter: "Zum Teufel! Schmeiß ihn sofort raus, in dieser Minute, in den Wald mit ihm, zum Bäumefällen; soll doch dieser Faschist dort wie ein Hund verrecken! Er ist ein Volksfeind! Dem Tod durch Erschießen ist er aus dem Wege gegangen und jetzt will er nicht krepieren. (Es folgte eine Kaskade von Flüchen).
Arbeitsanweiser: "Gut, ich werde ihn rausschmeißen. Aber ich werde mit ihm gehen. Sagen Sie mir, wem ich die Sache übergeben soll. Ich möchte mal sehen. wie sie ohne mich arbeiten werden. Sie werden es nicht mehr wagen, sich in der Zone ohne bewaffnete Wachen sehen zu lassen. Die Brüder werden Sie sofort umlegen. Ich habe diese Gaunerbande fest in den Hän-den, und Sie wissen das sehr gut".
Lagerpunkt-Leiter: "Mach, daß du wegkommst, du ... (es folgt ein Hagel von unflätigen Beschimpfungen), damit ich die hier ja nicht mehr sehe. Ich werde dich im Isolator verfaulen lassen. Ich werde dir schon zeigen, wo der Pfeffer wächst".
Wir schweigen. Jeder geht seinen schweren Gedanken nach.
"Laß dich nicht verwirren, David. Kann sein, daß alles in Ordnung kommt. Jetzt werden sie dort beraten und zu irgendeiner Entscheidung kommen. Sie sind feige wie Hasen. Sie schreien und schreien, und bleiben darauf sitzen. Ich habe sie eingeschüchtert, und das veranlaßt sie zu ernüchternden Handlungen".
Nach einer Stunde ruft die Leitung den Arbeitsanweiser zu sich. Ich warte mit Ungeduld auf seine Rückkehr. Er kommt mit strahlendem Gesicht. Er lacht.
"Ich habe gesiegt. Sie haben entschieden. Und fertig. Arbeite!", sagt er. So rettete mir der Arbeitsanweiser und Gauner Alexej Awdejew zum zweitenmal das Leben.
Eine düstere, stumme und dumpfe Erstarrung ergreift stets vom menschen besitz, wenn er von Unglück überwältigt wird, das seine Kräfte übersteigt. Wie schwer ist es doch dieses Leben zu bewahren! Wieviele Qualen, Geduld braucht man dafür! Und jetzt ist es zerbrechlich, unsicher, ähnlich der schwachen Flamme einer Kerze im Wind. Nur die immense Anstren-gung eines starken Willens erhält es aufrecht, läßt den durchdringenden Hauch des Todes nicht erlöschen.
Edelmütige Ziele werden nur mit edelmütigen Mitteln erreicht. Die Ideale des Guten können nicht siegen, wenn auf dem Weg zu diesen Idealen verbotene Methoden angewandt werden. Und jetzt werden diese Methoden in einen gesetzlichen Rahmen eingebracht. Es ist so schwer, ach, so schwer, sich damit zurechtzufinden.
Das Fehlen von Zurückhaltung am Anfang ließ moralisch freie Wesen entstehen, die bewußt das Böse dem Guten vorziehen. Sie verweilen hartnäckig und ohne Reue beim Bösen und finden darin eine satanische Genugtuung. Daher rührt der Untergang dieser Menschen.
Einmal versuchte eine Frau, eine Ungarin, zu fliehen. Es war der erste und einzige Fall im Lagerpunkt, daß überhaupt eine Frau die Flucht wagte. Es ist schwierig zu sagen, weshalb sie ein solches Risiko einging. Kränklich, schwach, dürr wie eine Hopfenstange, kümmerlich gekleidet, ohne ein Stückchen Brot, ohne eine einzige Kopeke. Sie verließ die Umzäunung am Ende des Arbeitstages. Nach zwei Stunden wurde sie in einem nahegelegenen Dorf gefaßt, wo den Leuten sogleich ihr merkwürdiges Aussehen aufgefallen war. Am späten Abend wurde sie schmutzig und mit von Hunden zerfetzter Kleidung gebracht. Neben der Wache begann man sie zu schlagen und die Hunde auf sie zu hetzen. Sie schrie ganz schrecklich. Die Hunde brachten sie zu Fall, rissen die verbliebenen Fetzen ihres Kleides in Stücke und zerfetzten dann ihren entblößten Körper. Lange ertönten ihre herzzerreißenden Schreie und das unflätige Schimpfen der Begleitposten durch die Stille der Nacht. Auf einer Bahre wurde sie in die Zone getragen. Nach einigen Tagen verstarb sie. Ja, es war damals eine schwere, hungrige, kalte und grausame Zeit. Im Sommer aßen die Menschen eßbare Kräuter. Für die, die nicht unter der Bewachung von Begleitsoldaten standen, war es leichter. Sie aßen im Wald Beeren oder Pilze. Viele, die sich mit Pilzen nicht auskannten, aßen auch solche, von denen sie Vergiftungen bekamen und nicht selten daran starben. Und trotz des schrecklichen Hungers gabe es im Lagerpunkt nicht einen einzigen Fall von Kannibalismus, wenngleich die Leichen der Verstorbenen lange auf oder unter den Pritschen liegenblieben.
Tatsächlich gerieten in unseren Lagerpunkt Häftlinge aus anderen Lagerpunkten, die der Menschenfresserei beschuldigt wurden. Man hielt sie hier bis zu ihrer Gerichtsverhandlung. Und wenn der Tatbestand der Menschenfresserei von Zeugen bestätigt wurde, dann erwartete diese Leute der Tod durch Erschießen.
Mit einem dieser Männer unterhielt ich mich. Es war ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren und – zu meiner Verwunderung – ein Jude, mit Nachnamen Silbermann oder Silber-stein. Er leugnete seine Schuld nicht. Er erzählte, daß er frühmorgens einem nachts in der
Baracke verstorbenen Toten ein Stück Fleisch herausgeschnitten, es in sein Kochgeschirr gelegt und zum Kochen auf den Ofen gestellt hatte. Es war ihm allerdings nicht vergönnt das Gekochte zu essen. Seine Tat wurde entdeckt, ja und nun wartet er auf die Gerichtsverhand-lung.
„Das ist offenbar mein Schicksal“, sagt er. "Wenn sie mich auch nicht erschießen, dann werde ich sowieso an Hunger sterben“.
Ich weiß nicht, ob er verurteilt wurde oder nicht. Er war schwerkrank, sein Körper aufgedun-sen. Vor Schwäche war er kaum in der Lage sich fortzubewegen.
Die Männer ertrugen ihr tragisches Schicksal ruhig, mit sklavischer Unterwürfigkeit. Und die armen, unglücklichen Frauen liefen hin und her, um einen Ausweg aus ihrer furchtbaren Lage zu suchen. Sie waren nicht in der Verfassung, ihre Frauenehre, ihre menschliche Würde zu bewahren. Hunger, Kälte und Elend zwang sie, Rettung im Verkauf ihrer Körper zu suchen. Sie warfen sich in die Arme jedes beliebigen Mannes, ohne Rücksicht auf ihr Alter und ihre äußere Beschaffenheit, wenn er doch nur die Möglichkeit besaß, ihr Dasein zu unterstützen. Natürlich stand den Arbeitern nicht der Sinn nach Frauen, aber das Dienstpersonal des Lagers und die, die nicht unter Bewachung standen, trieben irgendwie zusätzliche Verpflegung auf, waren relativ wohlgenährt und teilten die bescheidenen Krümel mit ihren „Auserwählten“. Es ist ganz natürlich, daß diese halbgesättigten Männer sich zu den Frauen hingezogen fühlten und diese im Lager verbotene Liebe mit dem Gefühl eines Erzeugers teilten. Der Instinkt, das unbewußte Bestreben nach Vermehrung, dieser mächtige Rufe der Natur verwarf bei den Menschen jegliche anerzogene Moral, und sie gaben sich unter unangenehmsten Bedingungen heimlich den Liebesfreuden hin. Entbehrungen, Einsamkeit und Verwilderung entzogen ihnen den schwachen Boden ihrer Weiblichkeit, Bescheidenheit und Güte. Im Kampf ums Leben warfen sie Scham und Gewissen von sich, wurden grob, zynisch und grausam. In ihren Flüchen, unflätigen Redensweisen sowie ihrem unanständigen Geschimpfe und Wortgespeie standen sie keineswegs vor den Männern zurück. Das abstoßende Leben deformierte das Gefühl der Menschen, besonders bei den Frauen. Ihre Seelen waren zugrundegerichtet, ihre Herzen gefühllos geworden, und die schwer auf ihnen lastenden Qualen einer elenden, recht-losen und erniedrigenden Existenz erzeugten Erbitterung.
Einmal brachten sie eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener an unseren Straflagerpunkt, so etwa zwanzig Mann. Diese kleine Gruppe brachten sie aus irgendeinem Grund hier unter, anstatt an einem Spezial-Lagerpunkt für Kriegshäftlinge, wo viele von ihnen gefangenge-halten wurden. Sie trugen ihre Kriegsuniform, die wahrhaftig schon stark mitgenommen war, aber voll von Dienstgrad-Abzeichen, Orden und Metaillen an der Brust. Sie waren besser inhaftiert, als wir Strafgefangenen. Man zwang sie nicht zur Arbeit. Das einzige, wozu man sie verpflichtete, war die Holzbeschaffung zum Beheizen der Unterkünfte, in denen sie lebten. Beförderungsmittel für den Hilztransport wurden ihnen jedoch nicht gegeben. Die Stämme der gefällten Bäume trugen sie auf ihren Schultern in die Zone oder schleiften sie hinter sich her. Sie waren in einem alten, baufälligen Geb äude des Isoliergefängnisses untergebracht. Pro Tag erhielten sie 800 gr Brot. An warmer Verpflegung dasselbe wir wir. Abends sangen sie voller Gram und Trauer leise Lieder. Mit ihnen zu verkehren war uns strengstens verboten. Keiner von ihnen war der russischen Sprache mächtig. Von der Lagerverwaltung wurde extra ein Mann aus den Reihen der Gefangenen geschickt, der fließend Deutsch sprechen konnte. Er wurde bei ihnen untergebracht. Er erfüllte seine Pflicht als Stubendienst Leistender und Übersetzer. Aber tatsächlich bestand seine Aufgabe im Beobachten und Belauschen sowie der Weiterleitung von Informationen an die Lagerleitung. Eines Abends, als ich mich allein im Raum des Arbeitsanweisers befand, kam einer der Kriegsgefangenen herein un d übergab mir einen Zettel, auf dem irgendeine Adresse stand. Der Kriegsgefangene wandte sich in deutscher Sprache an mich. „Das ist“, sagte er, „meine Heimatanschrift. Ich habe zuhause Eltern, eine Frau, Kinder. Sie wissen nicht, wo ich bin. Ich werde wahrscheinlich bald sterben. Wenn sie irgendwann können, schreiben sie ihnen, wo und wann sie mich gesehen haben und wo ich gestorben bin“. Ich wollte fragen, weshalb er sich zum Sterben bereit machte, wo er doch ein gesunder Mann war. Aber in dem Moment kam der dientsthabende Aufseher vorbei, entriß mir die Notiz und warf den Kriegsgefangenen hinaus.
Der Mann, der bei den Kriegsgefangenen den Stubendienst versah, kam jeden Tag mit einer Liste derer zu mir, die unter seiner Vormundschaft standen und die für meine Arbeit unerläßlich waren. Es war ein intelligenter und belesener Mann. Er erzählte mir, daß er Kirill Petrowitsch Kondraschin hieße, daß er ein bekannter Moskauer Dirigent sei. Ein Bein hatte man ihm amputiert, und er ging auf einer hölzernen Prothese. Ob es sich um genau jenen Kondraschin handelte, dem viele Jahre später die Staatsprämie auf dem Gebiet der Musik-kunst verliehen wurde, weiß ich nicht.
Nach ein paar Monaten wurden die Gefangenen woanders hingeschickt. Auch Kondraschin verschwand.
Ja, schwer war das Leben im Straflagerpunkt – eine angsterfüllte schwarze Nacht, zusammen-gesetzt aus Grausamkeit, Rohheit, Schmutz und Chaos, aus Sittenlosigkeit. Unwissende und Unbarmherzige hatten dort das Sagen, die ihren Durst einzig durch die Ausrottung von Menschen stillten. Aber kann man die Schuld an dieser Unwissenheit voll und ganz der Lagerverwaltung zuschreiben, wenn alle ihre Handlungen auf gesetzlicher Grundlage oder mit dem schweigenden Einverständnis der übergeordneten Instanzen vollzogen wurden.
Die Unmenschlichkeit kommt doch nicht durch den Willen des blinden Schicksals zustande, sondern vielmehr durch die eifrige Mithilfe irgendwelcher interessierter Hände. Sie sagen, daß man den Kommunismus niemals vom Humanismus trennen kann, und so stellt sich die Frage, ob diese millionenfachen Repressionen, die am sowjetischen Volk in der Zeit des Stalinschen Persönlichkeitskultes begangen wurden, ein kommunistischer Akt waren. Als einen humanen AKt kann man eine solche Erscheinung nicht bezeichnen. Eine der Forderun-gen bei der Definition des Kommunismus lautet: „Der Kommunismus – das ist ein klassen-loses gesellschaftliches Gebilde..., das ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier und bewußter Werktätiger...“. Haben die dort oben etwa ernsthaft geglaubt, daß zwei Jahrzehnte nach der Einführung der Sowjetmacht plötzlich eine millionengroße Masse von Gegnern der kommunistischen Ideen auftaucht. Aus meiner Sicht hängt diese Erscheinung mit einem kranken Ablauf im Gehirn zusammen – die Erregung und das Abbremsen krankhafter Reaktionen unter dem Einfluß äußerlicher Mittel – Psychopathien genannt. Diese Krankheit ruft in zwischenmenschlichen Beziehungen Grausamkeit hervor. Psychopathen spielen nicht selten wichtige soziale Rollen. Leicht erobern sie gehobene Positionen in der Gesellschaft. Es sind beschränkte, grausame Menschen, die sich, unbelastet von inneren Konflikten, auch rücksichtslos wichtige soziale Rollen aneignen. Es stimmt, die dort oben rechtfertigen ihre Grausamkeit mit guten Vorsätzen, aber mit guten Vorsätzen wurde auch der Weg in die Hölle ausgelegt. Für diese Periode gibt es keine Rechtfertigung. Es war eine schmachvolle Seite in der Politik. Wenn man im Namen des Menschheitsideals Gemeinheiten begehen muß, dann ist der Preis für dieses Ideal gleich Null.
In der heutigen Zeit wird diese Periode von der KPdSU zurecht verurteilt. Und alle noch am Leben gebliebenen ehemaligen Gefangenen der Arbeitsbesserungslager, unabhängig von ihrer Schuld und ihrem Benehmen, befinden sich auch jetzt noch unter der aufmerksamen Beobachtung der Staatssicherheit.
Ich habe nur einige charakteristische Fälle beschrieben, die sich am Lagerpunkt zutrugen. In Wirklichkeit war dort jeder Tag voll von tragischen Ereignissen.
Im Jahre 1944 wurde der Straflagerpunkt an einen anderen Ort verlegt. Auf seinem Territorium wurde ein Lagerpunkt für Invaliden eingerichtet, mit einem Produktionsbetrieb für Gegtenstände aus dem Bereich der Massenbedarfsgüter. Wie sie sagten „ ... zur Ausnut-zung der den Kranken verbliebenen körperlichenen Kräfte“. Vom Straflagerpunkt wurden die Schwächsten, am schwersten Erkrankten und am meisten Entkräfteten im Lagerüunkt für Invaliden zurückgelassen, die bereits dem Untergang geweiht waren. Sie wurden in der Krankenstation gesammelt. Ein Teil von ihnen hätte auf dem Wege einer guten Verpflegung und einer effektiven Medikamentenverabreichung gerettet werden können. Aber am Lagerpunkt gab es weder das eine noch das andere. Und die Kranken begannen nach und nach zu sterben. Es verging kein Tag ohne Todesfälle. Und einmal starben sogar an einem einzigen Tag 16 Menschen. Man zog den Leiter der Krankenstation, einen Feldscher, wegen der hohen Sterblichkeitsrate zur Verantwortung. Er war ein ehemaliger Strafgefangener, der nach Ablauf seiner Haftzeit freigelassen worden und als Freiwilliger in der Krankenabteilung geblieben war. Natürlich traf ihn am Tod der Menschen keine Schuld. Der Schuldige war in Wirklichkeit der Leiter des Straflagerpunktes, Leutnant Bakulin, ein unbarmherziger und grausamer Mann, der die Menschen bis an den Rand der Erschöpfung trieb und sie dann am Lagerpunkt für Invaliden im Stich ließ. Aber irgendeiner mußte ja die Verantwortung für die hohe Todesrate tragen, und das Los fiel eben auf den Feldscher. Man verurteilte ihn zu einer Haftstrafe, die in seine Entsendung an die Front abgeändert wurde, wo er den Heldentod starb. Hier, am Invaliden-Lagerpunkt, wurden zurückgekehrte Invaliden gesammelt, Berufsinvali-den und körperlich geschwächte Häftlinge. Aus letzteren organisierte man Gesundheitstrupps
mit verbesserter Verpflegung. Sofern die körperlichen Kräfte wiederhergestellt waren, wurden diese Menschen zum Lagerpunkt für Holzbeschaffung geschickt. Es wurden auch verschiede-ne Betriebswerkstätten organisiert: eine Filzwalkerei, eineUhrenwerkstatt, eine Tischlerei, eine Schuhmacherei, eine Glaserei, aus der die verschiedensten Erzeugnisse kamen, eine Künstlerwerkstatt und ein paar andere.
Allmählich ging es menschlicher zu. Zahlreiche neue Wohngebäude wurden errichtet, in den Baracken ging es freier, sauberer, behaglicher, wärmer zu. Neben den Pritschen wurden Nachtschränkchen zur Aufbewahrung von Sachen aufgestellt, und darauf standen Vasen mit Blumen. Neben jeder Baracke wurden Blumenbeete angelegt. Im Sommer leuchteten die Wege in verschiedenen Farben. Ein Sportplatz kam zum Vorschein, eine Bibliothek, ein Dramaturgiekreis. Häufig wurden Kino-Spielfilme gezeigt. Es kamen professionelle künst-lerische Gruppen mit Theateraufführungen und Konzerten. Die Verpflegung und die
medizinische Betreuung verbesserten sich. Eine schöne Krankenstation wurde gebaut, mit zehn Krankenzimmern und guten medizinischen Geräten, einschließlich einem Röntgenappa-rat. Medikamente tauchten auf, die Sterblichkeitsrate ging stark zurück. Man fühlte die Sorge um die Menschen. Aber Unfreiheit bleibt Unfreiheit. Die Zwangsarbeit war unproduktiv, die Häftlinge sahen keinen Sinn in ihrer Arbeit. Er büßte für sie seine Zweckmäßigkeit ein. Sie begeisterten sich für diese Tätigkeiten nicht, waren nicht stolz auf die Ergebnisse ihrer Arbeit.
Sie verhielten sich ihr gegenüber gleichgültig. Und sich ihrem Schicksal fügend bemühten sie sich, die Norm zu erfüllen, um nicht mit der Hungerration bestraft zu werden. Am Lagerpunkt befanden sich ungefähr zweitausend Menschen, darunter mehr als hundert Frauen. Einmal wurden Halbwüchsige im Alter von 15-16 Jahren zum Lagerpunkt geschickt, hauptsächlich Mädchen. Es waren noch minderjährige Prostituierte und Diebinnen. Innerhalb kurzer Zeit waren sie an den Mann gebracht. Sie wurden von den besser bemittelten Häftlingen ange-nommen. Die noch halbwüchsigen Männer zwang man zum Zusammenleben mit Homosexu-ellen, von denen es im Lagerpunkt genug gab. Es waren auch viele Krminelle dort. Unter ihnen blühten Glücksspiele mit Karten. Häufig entstanden dabei grauenhafte Schlägereien und Messerstechereien. Ich erinnere mich auch an einen lustigen Fall. Ein junger Bursche, ein Aserbeidschaner, ein blatnjak, ehemaliger Wiederholungsdieb, leidenschaftlicher Karten-spieler, der sich wegen Lähmung beider Beine an Krücken fortbewegte, betrog irgendwie beim Karten-Glücksspiel. Der Verlierer, ebenfalls ein blatnjak, griff nach seinem Messer und warf es gegen den Aserbeidschaner. Jener vergaß vor Angst seine gelähmten Beine und seine Krücken, und fing an zu rennen. Und er lief so schnell, daß er seinen gesunden Verfolgern ein ganzes Stück vorauseilte. Danach mußte der „gelähmte“ Aserbeidschaner zum Lagerpunkt für Holzbe-schaffung, denn er war ein völlig gesunder Bursche, der sich während der langen Zeit, in der er simuliert hatte, stets vor der Arbeit gedrückt hatte.
Das Kontingent am Lagerpunkt verringerte sich, und aus diesem Grunde weigerte sich täglich eine beträchtliche Anzahl von Menschen zur Arbeit zu gehen. Die Arbeitsverweigerer wurden ins Isoliergefängnis gesteckt und auf Strafration gesetzt. Bei vielen schwollen die Körper vom Hungern an. Die Lagerpunkt-Verwaltung suchte lange nach einem Arbeitsanweiser, der in der Lage gewesen wäre, die Zahl jener Häftlinge zu verkleinern. Die Wahl fiel auf mich. An mei-nem ersten Arbeitstag gingen 20 Leute nicht zur Arbeit. Ich ließ sie in der Kantine zusam-menkommen und unterhielt mich mit ihnen. Ich erklärte ihnen die Gründe für die Verweige-rung und teilte sie entsprechend ihrer körperlichen Verfassung, ihrer beruflichen Fachkenn-tnisse und Neigungen in Brigaden ein. Die Kranken wurden auf mein Drängen in die Kran-kenstation eingeliefert. Somit gab es keine Arbeitsverweigerer mehr. Um ein solches Unheil wie das der Arbeitsverweigerung zu besiegen, brauchte man einfach nur jeden Tag mit den Leuten von Mensch zu Mensch reden, ohne Geschrei und ohne Geschimpfe, eben auf eine menschliche Art und Weise vorgehen.
1948 wurden alle Frauen von den Männer-Lagerpunkten in Frauenlager verlegt, und am Lagerpunkt wurde alles sogleich matt und glanzlos. In Anwesenheit der Frauen hatten die Männer mehr auf sich geachtet, hatten sich regelmäßig rasiert und, so gut es ging, sauber und ordentlich gekleidet. Es waren weniger unflätige Schimpfwörter benutzt worden und weniger Schamlosigkeiten vorgefallen. Ganz allgemein hatte das Vorhandensein der Frauen sich vorteilhaft auf die Umgebung ausgewirkt. Sie hatten Licht und Wärme verbreitet und die Illusion von häuslicher Gemütlichkeit entstehen lassen. Nach ihrem Fortgang verhallte die kulturelle Aufklärungsarbeit. Es gab keine Konzerte mehr, keine Theateraufführungen. Es fanden keine Tanz- oder Spiel-Veranstaltungen mehr statt, wie dies früher der Fall gewesen war. Das unschöne Geschimpfe und Wortgespeie häufte sich wieder. Die Männer rasierten sich selten, kleideten sich liederlich. Die Unfreiheit machte sich wieder stärker bemerkbar als früher. Es roch nach Gefängnis. Und anscheinend beabsichtigten die entsprechenden Organe dies auch.
Nach der Verlegung des Straflagerpunktes verstarben fast alle der dort im Krankenrevier verbliebenen halbtoten Menschen. Die toten Häftlinge wurden dort unzureichend begraben. Vor allem im Winter. Wenn der Boden vom starken Frost bis in große Tiefen gefror. Die Grä-ber, genauer gesagt, die hastig ausgehobenen, flachen Gruben wurden mit Müh und Not mit Erde und Schnee zugeschüttet. Wenn die Leichen nur irgendwie bedeckt waren. Sie wurden nackt beerdigt und ohne Sarg. Gewöhnlich wurden die Leichen derer, die nachts in der Baracke oder der Krankenstation gestorben waren, nach sorgfältiger Untersuchung auf Schlitten gepackt und zum Friedhof gebracht wurden, wo man sie übereinander in vorberei-tete Gruben warf und diese dann irgendwie zuschüttete. Im Frühjahr, bei der Schneeschmelze, senkte sich der Boden und man konnte sehen, wie aus den Gräbern, hier eine Hand, dort ein Fuß, herausragten – und manchmal sogar der Kopf eines Begrabenen. Mitunter deckte man die sterblichen Überreste dann ab. Dennoch standen häufig die dürren Skelette von Händen aus den Gräbern hervor, so, als würden sie um Menschlichkeit flehen. Es war ein furchtbares Bild. Die Lagerverwaltung beunruhigte das nicht, denn niemand von ihnen hatte jemals den Friedhof aufgesucht. Die Schrecken des Krieges, des Hungers, der Kälte und der tiefen Erniedrigungen, der Untergang von Millionen von Menschen an der Front verwischten irgendwie den Todeszustand am Lagerpunkt, wo menschliches Leben nicht einen einzigen Groschen wert war. Die Häftlinge wurden als Volksfeinde angesehen, und man preßte mit allen Mitteln die letzten noch verbliebenen, körperlichen Kräfte aus ihnen heraus. Und die Sterblichkeitsrate schob man den inhaftierten Ärzten in die Schuhe, die keinerlei Schuld an irgendetwas traf. Sie führten lediglich die Anweisungen der Lagerleitung aus. Ja, und die richtete sich nach den Befehlen von oben. Die Verantwortung für die Grausamkeit oblag dem „Weichensteller“.
Weshalb konnte eine derart grausame Haltung gegenüber den Menschen in so ausgeprägter Weise in der Politik der kommunistischen Partei Fuß fassen, wo es sich doch um eine der schädlichsten und widersinnigsten Akte des Sozialismus handelte? In Wirklichkeit machten sie alles zumgekehrt. Die Grausamkeit wurde noch gefördert. Wie ich bereits erwähnte, war die Sterblichkeit am Lagerpunkt für Invaliden erheblich niedriger, als am Straflagerpunkt, denn die bessere Verpflegung erleichterte auch die Arbeit. Dennoch führte das Fehlen von Medikamenten oft zum Tod der Menschen, die sonst hätten gerettet werden können. Sie starben an Eingeweidewürmern, Wundstarrkrampf und anderen Krankheiten, denn es gab nichts, womit man sie hätte heilen können.
Häufig wurden Häftlinge zu unserem Invaliden-Lagerpunkt geschickt, die jenseits der Grenze verhaftet worden waren. Sie kamen aus Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und anderen Ländern, in die unsere Einheiten bei der Vernichtung der Hitlertruppen einmar-schiert waren. Es waren ehemalige Emigranten, die während der Revolution aus Rußland geflohen waren, ehemalige Offiziere der Weißen Garde und andere auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens Tätige. Sie wurden an unserem Lagerpunkt konzentriert und dann von dort gruppenweise irgendwohin verschickt. Ich möchte nur von einem von ihnen erzählen.
Als ich im Ambulatorium der Lager-Krankenabteilung als Feldscher arbeitete, wandte sich ein Mann, der gerade mit einer Gefangenenetappe hierhergeschickt worden war, mit der Bitte an mich, ihm Tabletten gegen Kopfschmerzen zu geben. Er war etwas über sechzig Jahre alt. Wir unterhielten uns.
„Ich bin Russe“, sagte er, „habe aber viele Jahre in Polen gelebt. Ich bin 1921 aus Rußland geflohen, weil ich Repressionen befürchtete, denn ich diente damals in den weißen Armeen Denikins und Wrangels. Zufällig bin ich in Gefangenschaft geraten. Beim Eintreffen der sowjetischen Truppen in Polen wurde ich verhaftet. Und so bin ich hier“.
„Wie war das Leben in Polen“? fragte ich.
„Gut“, antwortete er. „Ich hatte ein eigenes Geschäft und brauchte überhaupt keine Not leiden“. In seinem Äußeren und sogar in seiner Stimme kam mir irgendetwas längst Bekanntes vor. Plötzlich kam mir der Gedanke – ist er das?
„Falls es kein Geheimnis ist, sagen Sie mir doch, in welche rZeit und unter welchen Umständen Sie in Gefangenschaft geraten sind“.
„Wozu wollen Sie das wissen? Es ist schon so lange her und liegt doch kaum in Ihrem Interesse“.
Er schwieg eine Weile, während er mich ansah, und in seinen Augen bemerkte ich, daß er bemüht war, sich an irgendetwas zu erinnern.
Anscheinend tauchte auch in seinem Bewußtsein etwas ihm Bekanntes auf.
„Gut. Ich werde es erzählen. Sind Sie auch Gefangener?“
„Ja“, antwortete ich. „Ich bitte Sie nur die Wahrheit zu sagen. Für mich ist das sehr wichtig“.
„Es ist nicht meine Art zu lügen. Ich werde alles so erzählen, wie es sich wirklich zugetragen hat. Wenngleich jene Episode schon fast drei Jahrzehnte zurückliegt, hat sie sich so tief in meinem Gedächtnis eingeprägt, daß ich sie niemals vergessen werde. Obwohl ich damals sehr jung war.“
Und er berichtete im einzelnen von jenem Kampf, in dem ich ihn gefangen genommen hatte. Und da fragte ich ihn: „Erkennen Sie mich nicht?“
„Meine Güte, das sind doch nicht etwa Sie? Niemals hätte ich gedacht, daß soetwas gesche-hen kann. Trotzdem, in der Unterhaltung mit Ihnen habe ich dies für möglich gehalten. Aber daß diese Begegnung mit meiner Prophezeiung zusammenfallen könnte, habe ich überhaupt nicht geglaubt. Ja, die Welt ist tatsächlich klein geworden. Wie sind Sie denn, so ein Ergebe-ner, hierhergekommen? Weswegen? Sie sind Kommunist, Kommandeur der Roten Armee, der nicht nur einmal sein Leben, um der Erlangung und Festigung der sowjetischen Macht willen, riskiert hat. Und plötzlich sitzen Sie in Haft. Na, nun erzählen Sie mal, wer Sie hierher gejagt hat, wegen welcher Sünden und für wie lange?“
„Es gibt nichts Besonderes zu erzählen. Nach Ihrer Definition bin ich ein „Potentieller“. Für vierzehn Jahre. Die Gründe liegen offenbar im Kampf um die Macht. Obwohl, ich sage es ganz aufrichtig, ich dazu keinerlei Beziehungen habe. Ich bin das Opfer unabänderlicher Zufälle. In jedem beliebigen Leben gibt es immer ein tragisches Element. Und deswegen kann es kein Leben geben, das jenseits von Zufällen und Tragödien verläuft. Der Mensch ist einst-weilen den Leiden ungeschützt ausgeliefert“.
„Nein, mein Lieber. – Das ist keine Zufälligkeit. Das ist die Gesetzmäßigkeit der Revolution. der Kampf um die Macht. Gesiegt hat der östliche Despot, den ein gewaltiges Mißtrauen ergriffen hat, der Verfolgungswahn. Er ist rachsüchtig, unbarmherzig, grausam. Und eure Menschen sind unterjocht. Sie haben sich in zähflüssigen Ton verwandelt, und aus ihnen kann man die gewünschten Figuren formen. Man kann ihnen alles umbinden, was gefällig ist. Blind gehorchen sie irgendwelchen beliebigen Maßnahmen, ohne sich in deren Inhalt, in deren moralischen Kern, hineinzudenken. Ich erinnere mich noch, wie Sie damals so eifrig die kommunistische Partei und ihre Ideen verteidigt haben. Und was ist nach einigen Jahrzehnten dabei herausgekommen? Millionen gefangener Menschen, die vollkommen unschuldig sind.
Millionen ins Unglück Gestoßener, die in der „Freiheit“ leiden, ihre Frauen, Kinder, Eltern,
die auf die Rückkehr ihrer Ernährer warten, von denen eine riesige Anzahl bereits in eine andere Welt fortgegangen ist. Eure Gesetze verraten die Interessen des Volkes, verwandeln sich in Mittel zur Rechtfertigung von gesetzlosigkeiten. Kommunismus – das ist ein schönes Märchen, aber leider unerfüllbar. Der Mensch ist nicht vollkommen, er ist schwach, in Verruf geraten, er hat keine Kraft, dieses Märchen im Lben zu verwirklichen. Leicht war es, das ungerechte Staatsgebilde zu zerbrechen, den alten Gesellschaftsaufbau, aber seine Folgeer-scheinungen überwinden - das konnte sogar dieser neue Aufbau einer kommunistischen Richtungsweisung nicht bewirken, und es stellte sich heraus, daß dies über die Kräfte eurer Führer ging. So versuchen sie auch mit Angst und Repressalien das Wesen des Menschen zu ändern, die ihm eigenen inneren Strukturen, seine äußere Grundlage. Vergebliche Mühe. Der Mensch wird Mensch bleiben, so wie ihn die Natur über einen Zeitraum von Millionen Jahren geschaffen hat“.
„Ja, das Leben ist mühsam und widersprüchlich. Wahrlich, wir stoßen auf eine Menge unmo-ralischer Dinge. Aber der kommunistischen Idee daran die Schuld zu geben ist unsinnig. Ja, schuld daran sind unsere Leute aufgrund ihrer Ignoranz, ihrer Unkultiviertheit und bisweilen auch ihrer Unehrlichkeit. Bei uns gibt es noch viel Kränkung und Heuchelei, ebenso wie Niedertracht und Grausamkeit, und vieles ist auch noch unvollkommen. Es leben die Überbleibsel der Vergangenheit, einer kümmerlichen Welt, tief verwurzelt im Bewußtsein der Menschen. Und man kann sie nicht so leicht und schnell ausrotten. Wir kultivieren nicht diese Fehler und Unzulänglichkeiten, sondern führen im Gegenteil mitHilfe aller möglichen und unabdingbaren Mittel einen aktiven Kampf zu ihrer Überwindung. Es wird die Zeit kommen, wo alle sozialen Probleme verschwinden, wie auch die Klassenfeinde verschwan-den. Es wird die Zeit kommen, wo wir zu höheren und edleren Zielen gelangen, zum Kom-munismus. Zum Kommunismus führen keine ausgetretenen Pfade. Man muß sich den Weg selbst anlegen, durch unbekannte und schwer zugängliche Gebiete, in denen man bei jedem Schritt auf Hindernisse stößt. Hier gibt es auch Schmutz, den man wegmachen muß, und Fall-gruben und Schlaglöcher, die zugeschüttet und eingeebnet werden müssen, hier gibt es auch hügelige Hindernisse, die zu überwinden sind, und Unwetter und Sturm, die es durchzustehen gilt. Man kann auch vom Weg abkommen. Aber auf dem Weg unserer Suche werden wir darüber hinwegkommen, denn niemand ist durch irgendeine Kraft in der Lage, den unaufhörlich fortschreitenden Weg der Geschichte aufzuhalten. Wir erziehen den Menschen um, schütteln von ihm die ganze angesammelte, schmutzige Schale ab, wir entwickeln in ihm die aller- besten Eigenschaften seiner Seele und seines Bewußtseins und werden in ihm das Gefühl für seine eigene Würde und kommunistische Moral wecken. Natürlich wird sich der Kapitalis-mus nicht ohne Kampf ergeben. Die Bourgeoisie gibt ihr Kapital und ihre Vorrechte nicht zum Nutzen der Gesellschaft, des Volkes, heraus. Sie haben nicht den Wunsch, selbst zu arbeiten, und deswegen ergreifen sie alle erdenklichen Maßnahmen, um ihre Existenz noch ein wenig zu verlängern“.