Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Walentina Georgiewna Perelomowa erinnert sich an jene Zeit

Das, was gewesen ist, liegt mehr als vierzig Jahre zurück; es fällt schon schwer, sich daran zu erinnern. Alles, was ich noch in der Erinnerung habe, mag sehr subjektiv sein. Dafür bitte ich um Entschuldigung.

Ich arbeitete in Sora; es hatte mich zu den dortigen Goldvorkommen verschlagen, und mit Erzfundstätten war ich vorher nicht vertraut gewesen. 1950 bot man mir an, das nahegelegene

Erzlager der Sorsker Molybdän-Fundstätte zu übernehmen. Eine solche Arbeit konnte ich nicht annehmen, denn ich war mir meiner Inkompetenz bewußt. Aber mir wurde gesagt, daß das ein Befehl sei und ich nicht das Recht hätte abzulehnen. Und man versprach, mir einen kompetenten Spezialisten aus den Reihen der Häftlinge, die gerade ihre Haftstrafe nach §58 verbüßten, zur Hilfe zu geben. Und so trat dann Jurij Fjodorowitsch Pogonja-Stefanowitsch in mein Leben. Im Frühjahr 1950 trafen bei uns in der Sorsker Geologie-Gruppe, unter Konvoi-Begleitung, drei Spezialisten ein: er, Dmitrij Iwanowitsch Mussatow und Boris Iwanowitsch Badunkow. Pogonja erklärte sich einverstanden mit mir zusammen zu arbeiten.

J.F. Pogonja-Stefanowitsch, 28.11.1952, OTB-1 Für die Arbeit in der Gruppe wurde Pogonja in eines der Sorsker Lager verlegt. Er kam unter Wachbegleitung zur Arbeit – einem jungen Soldaten mit Gewehr. Trotz aller Warnungen umgaben wir den gefangenen Spezialisten mit großer Aufmerksamkeit, und er gab sich sicher und ungezwungen. Er sprach und benahm sich wie ein wohlerzogener, intelligenter Mensch. Pogonja gewann sofort die Sympathien der Mitarbeiter unserer Abteilung.

Während der Arbeitszeit in der Sektion befand sich sein Begleitsoldat im Korridor und fühlte sich recht unbehaglich. Wenn wir mit Pogonja draußen am Objekt zu tun hatten, ging der Wachsoldat stets hinter uns, und man sah es ihm deutlich an, daß ihm das schwere Gewehr zur Last viel und seine Lage ihn bedrückte.

So arbeiteten wir den ganzen Sommer hindurch. Es entstand die Frage: wo sollten die Innen-Arbeiten (im geologischen Labor) durchgeführt werden? Pogonja schlug dem Gruppenleiter vor, daß ich diese in Krasnojarsk beim OTB Nr. 1 durchführen sollte. Und er versprach, daß er sich darum bemühen wollte, der dortigen Leitung die Unabdingbarkeit meiner Anwesenheit beim OTB-1 zu beweisen. Im Herbst fuhr ich dann tatsächlich nach Krasnojarsk.

Ein paar Tage vergingen mit Laufereien - ich mußte einen Passierschein bekommen, eine Behausung finden. Und dann endlich war ich in der Zone, wo auch Pogonja arbeitete und wohnte.

Der erste Eindruck war schrecklich. Hier war alles ganz anders: sowohl der Himmel, als auch die Luft, der Boden und die Häuser. Es war ein anderer Planet! Schließlich war, bevor man mich hierher gelassen hatte, eine riesige Arbeit durchgeführt worden: mein Bewußtsein war darauf dressiert, daß hier keine anderen als die Volksfeinde hausten, und daß ich verpflichtet war, mich von ihnen fernzuhalten.

Die Gefangenen des OTB-1 verhielten sich mir gegenüber sehr zuvorkommend und liebenswürdig, und dazu hatte Jurij Fjodorowitsch nicht wenig beigetragen. Ich wurde im Durchgangszimmer untergebracht, wo ein Professor, der Doktor der Wissenschaften Michail Machailowitsch Tetjajew aus Leningrad, ein ganz vortrefflicher Mensch, arbeitete. Ich denke immer gern und mit Dankbarkeit an ihn zurück. Es ist schmählich zuzugeben - aber hätten wir uns nicht in einer solchen Situation befunden, dann wäre es auch nie dazu gekommen, daß ich die Bekanntschaft derartiger Menschen und Fachleute von so hohem Niveau gemacht und sogar mit ihnen zusammengearbeitet hätte.

Ganz allmählich gewöhnte ich mich an die ungewohnte Umgebung, aber die gesamte Zeit, in der ich dort tätig war, hat bei mir keinerlei Angstgefühle hinterlassen. Und später empfand ich noch lange, viele Jahre hindurch, einen moralischen Druck, und ich glaube, diese Empfindung ist bis heute nicht verschwunden.

In diesem Zimmer arbeitete auch Pogonja. Von denen, die durch unseren Raum passierten,

trennte mich ein hölzerner Schrank ab. Das Fenster befand sich am Eingang, und so arbeiteten wir den ganzen Tag bei elektrischem Licht. Das strengte mich ziemlich an und ich ermüdete mich erst recht. Ich wohnte in unterschiedlichen Behausungen – manchmal im Gasthaus, aber häufiger, sofern es glückte, nahm ich mir irgendwo ein Zimmereckchen. Für ein separates Zimmer reichte mein Geld nicht.

Die Arbeit nahm meine ganze Zeit in Anspruch: „zuhause“ lernte ich ganz von vorn alles über die Geologie. Und Pogonja gab mir „Hausaufgaben“ auf. Bei der Arbeit festigte ich den durchgenommenen Lehrstoff. Niemand verweigerte mir seine Hilfe. Wissenschaftliche Koryphäen wie Professor Alexander Jakowlewitsch Bulynnikow erteilten mir Ratschläge zur

Petrographie (Wissenschaft von der mineralogischen und chemischen Zusammensetzung der Gesteine und ihrer Gefüge; Anm. d. Übers.) – eine Disziplin, die für mich am meisten unerläßlich war. Mein ganzes Leben lang werde ich ihm dafür dankbar sein. Der Doktor der Wissenschaften, Professor Wladimir Michailowitsch Krejter, der Akademiker Michail Petrowitsch Russakow und natürlich mein lieber Michail Michailowitsch Tjetjajew, meine Arbeitskollegen (es wird mir doch gestattet sein, sie so zu nennen), benahmen sich in jener schrecklichen Lage zwanglos und glichen keineswegs irgenwelchen Feinden. Im Gegenteil, es waren höfliche, liebenswürdige Menschen. Niemals sind bei mir Zweifel über ihre Aufrichtigkeit aufgekommen, egal, um wen von ihnen es sich handelte.

Die Arbeit gefiel mir gut (was ich von meinem Privatleben nicht sagen kann). Die Ausrüstung war hervorragend, im Unterschied zu der, die es in unserer vorherigen Gruppe gegeben hatte. Die Häftlinge konnten alles bestellen, was sie für notwendig hielten, und die Geschäftsleitung sparte nicht mit Geld. Der „Jenissejstroj“ war eine reiche Organisation.

Die erste Phase der geologischen Laborarbeiten ging zuende. Ich kehrte nach Sora zurück und stellte mit Schwermut und Bedauern fest, daß ich hier nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfuhr und mich in keiner intellektuellen Umgebung befand, an die ich mich im OTB-Nr.1 so gut gewöhnt hatte.

In Sora bereitete ich mich für Erdarbeiten vor, wartete auf meine große Stütze – Pogonja-Stefanowitsch, und fürchtete erneut, daß er aus irgendeinem Grunde nicht herkommen und ich allein die Zeit, in der die Vermessungen durchgeführt werden sollten, nicht bewältigen konnte.

Aber Pogonja kam. Er tauchte unerwartet auf, mit seinem Schutzengel – fröhlich, scharfsinnig, unverzagt. Die Atmosphäre in der Abteilung änderte sich. Er brachte ein Element von Frische, Mut und Helligkeit ein und verweigerte niemandem seine Hilfe.

Wir arbeiteten ruhig und ohne Anspannung. Der Begleitsoldat war es langsam überdrüssig, immer hinter uns herzugehen, und er bat uns um die Erlaubnis nicht mit in die Berge zu gehen, sondern am Anfang der Marschroute auf uns warten zu dürfen. Wir waren so gut, ihm diese Freiheit zu gewähren. Pogonja sagte, daß er jetzt fast frei wäre. Und einmal, als wir Rast machten, teilte er mir den Erhalt einer Benachrichtigung mit, in der stand, daß seine Ehefrau die Scheidung eingereicht hatte.

„Nun bin ich von noch etwas befreit worden – von den Ketten des Hymen“ (griechischer Gott der Vermählung; Anm. d. Übers.).

„Aber eine fehlt noch, die wichtigste, und das wird noch lange dauern“, fügte ich hinzu und bedauerte sogleich diese Bemerkung, die gänzlich fehl am Platze war. Aber er erwiderte:

Ich bin sicher, daß ich nicht die ganze Haftstrafe absitzen muß. Und wenn Sie meine Zuneigung nicht ablehnen – dann würde ich mich freuen“.

Und so machte er mir einen bescheidenen Heiratsantrag.

Weitere, bedeutsamere Ereignisse erinnere ich aus jener Saison nicht. Die Arbeit verlief erfolgreich. Ich lernte und las viel.

Irgendwie wurde ein Wachsoldat verdächtigt, verleumderische Äußerungen zu machen. Die Mitarbeiter-Jungs machten ihn betrunken, und Pogonja mußten den Soldaten samt seinem Gewehr ganz bis in die Zone schleppen. Er war sehr unzufrieden – man könnte ihn ja nach Krasnojarsk schicken, und dann hätten alle große Unannehmlichkeiten. Aber diesmal ging alles glatt, worüber wir sehr glücklich waren und später lachend an diesen Zwischenfall zurückdachten.

Der Vorfall blieb jedoch nicht unbemerkt. Schon im OTB-1, während der nächsten Unterredung mit dem „Oper“ (Operativer Bevollmächtigter; Anm. d. Übers.), fragte dieser mich, ob das nicht aufgrund meiner Initiative geschehen war. Und dabei besann er sich auf einen Fall, der bereits zwei Jahre zurücklag. Damals hatten sie in der improvisierten Kantine in Sora ein kleines Zimmer abgeteilt, und an der Tür, auf einem Fetzen Zeichenpapier, standen die Worte: „Für Offiziere“. Ich hatte dazugeschrieben: „Für Ingenieure und Hunde verboten“. Natürlich riefen sie mich später hinaus und hielten mir eine Moralpredigt.

Im zweiten Sommer war mir schon leichter ums Herz; ich hatte mich ein wenig eingewöhnt, aber die Anspannung war geblieben. Zu uns ins Zimmer kamen aus anderen Abteilungen Bekannte von Pogonja. Sie waren neugierig auf „Pogonjas Freundin“.

Es kam Igor Leopoldowitsch Ganz (Pogonja nannte ihn „Tiger Leopoldowitsch“ oder einfach „Tiger“). Ganz hatte eine wunderbare Baritonstimme und konnte gut singen. Einmal riefen sie mich auf den Treppenabsatz hinaus, und ich hörte ein Lied. Es war die Arie des „Robert“ aus der Oper „Jolanthe“ (von Tschaikowskij; Anm. d. Übers.). Pogonja sagte: „Das ist eine Serenade für dich“. Es kam auch Sergej Karlowitsch (den genauen Nachnamen weiß ich nicht mehr). Er stammte aus Odessa, und als wir ihn daran erinnerten, fragte er: „Euch scheint wohl irgendwas verlorengegangen zu sein!“ Und als Pogonja meinte, daß er (Sergej) ein Odessit sei, da antwortete jener: „Und du bist ein Lump!“ Und so trieben sie ihre Scherze miteinander.

Und dann kam auch noch Schifrin, ein Fotograf – der lud mich in sein Studio ein und versprach, eine Porträt-Aufnahme von mir zu machen. Ich fürchtete mich so sehr, daß ich gar nicht hinging und Schifrin damit sehr kränkte.

Mir schmeichelte die Aufmerksamkeit der Männer, aber es war schrecklich beunruhigend.

Und die ewige Angst verdarb mir mein Leben.Michail Michailowitsch und Jurij Fjodorowitsch war meine Befangenheit aufgefallen, und Michail Michailowitsch hatte Pogonja vorgeschlagen, daß er mich mit Mitarbeiterinnen bekannt machen wollte – „freien“ Mädchen aus anderen Abteilungen. So machte Jurij Fjodorowitsch mich mit Tamara und Lilja bekannt.

Über Lilja muß ich erzählen. Es war ein bemerkenswertes Mädchen. Auf den ersten Blick hatte sie nichts Außergewöhnliches an sich: sie war schlank, hatte kurze, helle Haare, eine Naturkrause, und keinerlei Kosmetik im Gesicht. Sie war einfach gekleidet, bescheiden, aber elegant. Sie hatte ein sicheres Auftreten, war jedoch keineswegs hochmütig und sehr ruhig.

Sie erfreute sich eines riesigen Erfolges, tat sich aber selbst vor niemandem hervor und ging mit allen gleichbleibend gelassen und höflich um. Ihre Autorität war unbestreitbar. Lilja machte sich über meine Klagen anläßlich der Unterredung mit dem operativen Bevollmächtigten lustig: „Mich ruft er fast jede Woche heraus, und wenn er es mal vergißt, dann bin ich schon ganz beunruhigt, ob Kotscherga nicht womöglich krank geworden ist. Das mußt du nicht so tragisch nehmen – vielleicht gefällst du ihm ja auch?“ – und dann brachen sie und Tamara in fröhliches Lachen aus.

Diese Mädchen waren mir sehr dabei behilflich, mehr oder weniger mit jener Atmosphäre des Mißtrauens und der Angst zurechtzukommen, die mein Leben so vergifteten.

Einmal verschwand Lilja, und niemand wußte weshalb. Erst nach einiger Zeit stellte sich heraus, daß Lilja an jenem Tag gekündigt hatte, an dem einer der Spezialisten freigelassen worden war. Ich weiß weder seinen Namen, noch aus welcher Abteilung er kam. Jedenfalls war sie mit ihm gegangen. Niemand hatte gewußt, daß die beiden sich liebten.

Im OTB Nr.1 arbeiteten die Ehefrauen von Offizieren, „freie“ Mitarbeiterinnen und auch einfach Frauen und Mädchen, die durch ein strenges Auswahlverfahren durchlaufen hatten. Aber es gab Romane, es gab Dramen, es gab Klatsch. Es gab auch Skandale und Entlassungen aufgrund von Strafmaßnahmen, – es gab alles, was auch im gewöhnlichen Leben vorkommt, nur war dies hier ein anderer Planet. Ein Planet der Angst.

Mit diesen Mädchen ging ich etwas mutiger durch die Zone. Dort gab es einen Laden von solcher Dürftigkeit, wie ich es noch nirgends gesehen hatte: rein gar nichts konnte man dort kaufen. Bloß irgendwelche Lumpen und billige Papirossi. An mehr kann ich mich nicht erinnern, und ich bin auch nicht mehr dorthin gegangen.

Kurz vor Neujahr 1953 wurde den Spezialisten neue Kleidung angeboten – Anzüge aus feinem Tuch und Sportanzüge von gutem Schnitt. Jeder ging in den Laden und wählte etwas in seiner Größe aus. Es handelte sich nicht um Berufskleidung, sondern um Fest- und Feiertagsanzüge. Die Spezialisten trugen an Kleidung hauptsächlich das, was sie von zuhause geschickt bekamen – alte Sachen, und wenn jemand nichts geschickt bekam, dann gingen sie in Baumwollanzügen, wie sie die Arbeiter bei Kolonnenarbeiten trugen. Natürlich herrschte große Freude, daß sie sich nun mit einem neuen Anzug einkleiden konnten.

Die Freude verschönerte das Gefangenenleben. Aber nach ungefähr zwei Wochen fingen bereits viele der neuen Anzüge an zu verschleißen, die Ellbogen zeigten Scheuerstellen, und die Hosen schimmerten hinten und an den Knien durch. Und dabei hatten sie doch dafür bezahlt wie für neue, hochwertige Kleidung! Und der Preis war ihnen in voller Höhe berechnet worden.

Als sie dann auch noch seidene Unterwäsche angeboten bekamen, verzichteten bereits alle darauf. Pogonja nahm welche und gab sein Geld umsonst aus. Die Wäsche zerriß sofort. Wem außer den Intelligenzlern konnte man solche Wäsche noch verkaufen? Den Berufsverbrechern vielleicht – den „Voksfeinden“?

Ich nähte Pogonja aus Mischwollstoff eine Joppe mit Reißverschluß (und für Leonid Charitonow auch), die ihm ein wenig aus der Not half. Sie wurde „Reißverschluß-Jäckchen“ genannt.

Das Jahr 1953 begann sehr unangenehm. Hoffnung und Erwartung, die Schwerfälligkeit der Regierung und jene zähe Angst. Es wurde nicht gearbeitet, aber ich mußte den Arbeitsrechenschaftsbericht abschließen, und wir beeilten uns. Mitunter blieb ich abends in der Abteilung.

Dafür mußte man einen Antrag an die oberste Leitung stellen. Es erweckte stets Mißtrauen, und grundsätzlich kam abends ein Aufseher aus den Reihen der Unteroffiziere, die der Wache angehörten, herein. Einer von ihnen war so einer, daß er von den abendlichen Ereignissen in der Stadt erzählte. Auf Pogonja wirkte das sehr bedrückend, und er schickte mich nach Hause.

In der Stadt ging es zu jener Zeit äußerst unruhig zu. Aber ich ging immer zufuß nach Hause, und es hatte in den drei Jahren kein einziges Mal einen Zwischenfall gegeben.

Anfang März geschah etwas Aufregendes: es sickerten Gerüchte durch, nach denen Stalin angeblich erkrankt war ... Im OTB-1 gab es nur wenige Radio-Lautsprecher, wohl aber bei der Leitung, aber die Häftlinge wußten alles schon bevor wir es erfuhren. In meinem Zimmer erwarteten sie mich mit Neuigkeiten, aber ich konnte ihnen auch nicht mehr sagen, als sie selbst bereits wußten. Zu dieser Zeit wohnte ich in der Küche einer Privatwohnung, in der es auch kein Radio gab.

Es fällt mir nicht leicht, jene Atmosphäre zu beschreiben, die „unseren Planeten“ einhüllte. Alle gaben sich geheimnisvoll und verschlossen. Die gespannte Erwartung machte sich besonders bei den Offizeiren und Wachmannschaften bemerkbar. Es wurde weniger „gefilzt“. Dafür ging es im Durchgangszimmer strenger zu.

Ich „schmuggelte“ sehr selten: ich starb fast vor Angst. Aber ich brachte Tee mit, einmal Wodka, na ja, und erschwingliche Delikatessen: Käse, Süßigkeiten, frische Wurst – wenn es gelang sie zu kaufen. Nicht immer gab es in Krasnojarsk Wurst, aber wenn es sie dan gab, dann war sie äußerst schmackhaft: Teewurst, Doktorenwurst, Zungenwurst und andere.

Der 5. März 1953. Um 4 Uhr nachmittags werde ich in die Operativ- Abteilung gerufen.

Zum hundertsten Mal vor Angst sterbend gehe ich dorthin. Kotscherga ist streng, es gibt keine Ungezwungenheit.

„Heute um 5 Uhr wird über Radio der Tod des Genossen Stalin verkündet werden. Ihnen obliegt die Verantwortung dafür, daß alles geordnet zugeht. Alle Häftlinge Ihrer Abteilung sollen sich im Kabinett von Dmitrij Iwanowitsch Mussatow versammeln. Sorgen Sie dafür, daß es nicht zu irgendwelchen Provokationen kommt; ich werde sie sonst zur Verantwortung ziehen“ (!)

Ich rannte in mein Zimmer zurück. Man hatte auf mich gewartet und war, wie immer, beunruhigt gewesen, als man mich dorthin gerufen hatte. Sofort platzte ich mit der Neuigkeit heraus. Michail Michailowitsch sagte: „Gott sein Dank, daß wir gewartet haben“.

Ich ging hinüber ins andere Zimmer, wo die Mitarbeiter unserer Abteilung saßen. Es war ein großer Raum, zehn Mann arbeiteten dort. Ich betrat ihn nur selten, deswegen schenkte man mir sofort Aufmerksamkeit.

Ich sagte: „Liebe Genossen, hört mal kurz zu!“ Und dann wiederholte ich das, was ich in der Operativ-Abteilung gehört hatte.

Stille – die mit nichts zu vergleichen war. AB-SO-LU-TE Stille. Der Akademiker Russakow erhob sich von seinem Platz, trat auf mich zu und sagte:

„Meine Liebe, ich danke Ihnen für die gute Nachricht; nun wird alles so, wie es sein muß. Bitte machen Sie sich keine Sorgen“.

Um fünf Uhr fand die Versammlung im Kabinett Mussatows statt; dort gab es ein Radio. Schweigend, aufrecht stehend hörten sie die Mitteilung, schweigend gingen sie wieder auseinander. Arbeiten konnte schon niemand mehr.

Ist es denn nötig, sich an alle Gespräche zu erinnern? Meiner Meinung nach ist es auch so klar.

Wir beschlossen die Nachricht vom Tode Stalins zu feiern. Es gab auch einen Anlaß: der Frauentag am 8. März. Zu jener Zeit war das ein Arbeitstag. Ich riskierte nicht weniger als meine Freiheit, als ich zwei Flaschen Cognac mit in die Zone hereinbrachte. An diesem Morgen starb ich mehrmals vor Angst: als ich am Zaun entlang ging, mit dem die Zone eingegrenzt war, kam mir eine unbekannte Frau entgegen, und als wir auf gleicher Höhe waren, sagte sie leise: „Sie durchsuchen wieder!“ Mit banger Entschlossenheit, schon halbtot, betrat ich das Durchgangszimmer. Es gibt einen Gott, es gibt eine Gerechtigkeit – ich passierte ungehindert. Die gut versteckten Flaschen erreichten ihren Bestimmungsort.

Wir gossen den Cognac in Teegefäße, taten Teelöffel hinein und stellten ein paar chemische Laborkolben auf den Tisch. Dann schnitten wir ein paar Äpfel in Stücke (die hatte ich auch mitgebracht) – sie unterlagen keinerlei Verbot.

Der Aufseher trat ein (der hatte uns gerade noch gefehlt): „Wonach riecht das hier?“ Und er steht da und macht keine Anstalten zu gehen. Ich sage: „Lassen Sie sich die Äpfel schmecken!“ Er lehnte ab und verließ den Raum. Die anderen zwangen mich dazu einen Schluck Cognac zu trinken, und ich erwachte wieder zum Leben, zum ersten Mal an diesem Morgen.

Meine Arbeit im OTB Nr.1 war beendet. Ich fuhr nach Sora; Anfang März war es schon warm, und ich fühlte die Freiheit: der Rechenschaftsbericht war fast fertig, die Vermessungen abgeschlossen.

In der Gruppe forderten sie mich auf, ein Gutachten über die Dissertation einer gewissen Gorbunowa aus Irkutsk ab zugeben. Ich nahm ihr Autorreferat, las es durch ... und erkannte meinen eigenen Rechenschaftsbericht! Die ganze Dissertation war abgeschrieben.

Die Gorbunowa hatte sich das zweite Exemplar unseres ersten Entwurfes zunutze gemacht. In dem Referat waren sogar all unsere Fehler stehengeblieben, die wir im ersten Exemplar nicht verbessert hatten.

Ich schrieb kein Gutachten, und das Referat zerriß ich – das war die einzige Möglichkeit, mit der ich meinen Protest zum Ausdruck bringen konnte. Aber das hinderte die Gorbunowa nicht daran, ihre Doktorarbeit zu schreiben. Ich war überzeugt, daß sie das Material mit dem Einverständnis des Haupt-Geologen der Sorsker Gruppe, M.F. Solowjanowitsch, erhalten hatte. Wie sonst hätte dieses geheime Material in fremde Hände gelangen können? Pogonja war ein Rechtloser und ich nicht die hauptausführende Kraft – wer würde uns denn schon ernstnehmen. Als Pogonja von der Geschichte erfuhr, fand er keine Worte und war sehr verärgert. Er sagte:

„Ich habe M.F. ein ehrliches Geschäft vorgeschlagen: ich schreibe ihr die Dissertation, und sie bemüht sich für mich um einen Paß. Welchen Vorteil hatte sie von diesem Geschäft?“

Es wurde Sommer. Pogonja wurde in eines der Sorsker Lager verlegt und arbeitete beim Bau – bei Kolonnenarbeiten.

Irgendwie, an einem frühen Sonntagmorgen, als ich das Haus verließ, sah ich auf dem Dach meines Kämmerchens ein lebendiges Bündel liegen. Es verlangte nach Hilfe, und so trug ich es nach Hause. Ich wusch es und legte es schlafen. Niemand kam, um danach zu fragen, weder an diesem, noch an einem anderen Tag. Es war ein Junge, sehr hübsch, sein Alter – etwa ein Jahr. Als er aufwachte, streckte er seine Arme nach mir aus und sagte: „Mama!“ So kam ich zu einem Sohn - beziehungsweise wir. Jetzt heißt er Oleg Jurjewitsch Pogonja-Stefanpwitsch.

Pogonja wurde manchmal in die Gruppe eingeladen – sie stellten einen Antrag im Lager und dann ging er mit einem Wachsoldaten dorthin. Als er das nächste Mal dort hinkam, rief er mich zur Bohrstelle, und ich mußte ihm sagen, daß ich das Kind bislang noch nirgends hatte unterbringen können und es auch noch nicht offiziell in einer Kinderkrippe untergebracht hatte: es ist doch erst gestern bei uns aufgetaucht.

Wir gingen, um uns das Kind anzuschauen. Oleg begrüßte Pogonja: „Papa!“ Laufen konnte er noch nicht, auch nicht sprechen, außer ein paar Laute äußern.

Pogonja wurde im November 1954 in die Freiheit entlassen. Ich wohnte und arbeitete in Tschernogorsk in Chakassien. Nach der Reorganisierung des „Jenissejstroj“ hatte ich den Wohnort wechseln müssen, als Oleg und ich mittellos waren. Damals hatte ich zufällig erfahren, daß man einen Petrographen für den neu eingerichteten Minussinsker Erdöl-und-Erdgas-Erkundungstrust suchte, und daraufhin fuhr ich nach Tschernogorsk.

Ein vollwertiger Petrograph war aus mir immer noch nicht geworden, aber man mußte ja irgendwie leben. Wieder half mir Pogonja. Er schrieb oft und sagte mir, was ich am besten lesen sollte. Mit den Gesteinsschichten kam ich ganz gut zurecht, in seinem Arbeitsbuch war ein Dankbarkeitvermerk.

Ich bekam von ihm ein Telegramm und fuhr nach Abakan. Der Zug traf früh ein. Was durchlebte der arme Pogonja , während ich mit Mühe den Bahnhof erreichte ... Der Autobus wartete nicht auf uns. Wir fuhren mit einem Lastwagen, im Wagenkasten. Pogonja trug einen Übergangsmantel, Stiefel und eine Schirmmütze.

Aus Tschernogorsk reisten wir ab, obwohl der Geologe Iwan Jakowlewitsch Martschenko beharrlich versuchte Pogonja dazu zu überreden, im Trust zu bleiben. Aus den Unterredungen mit Martschenko hatte er verstanden, daß es Erdöl im Minussinsker Talkessel entweder überhaupt nicht gab oder wenn, dann nur sehr wenig – dieses Gebiet war ohne Perspektiven. Bislang hatte man noch kein Öl gefunden, aber bereits begonnen, die Fabrik für seine Weiterverarbeitung zu bauen. Wahrscheinlich steht bis heute in der Nähe von Tschernogorsk das Gerippe aus Eisengestängen, als Denkmal für den Dilettantismus in der Geologie.

Wir fuhren nach Teja, Kreis Askis, Chakassien. Das war vielleicht eine Einöde! Ganz ungewöhnlich – nicht einmal im Märchen kann man sowas erzählen; da würde es keiner glauben ... Im Februar starb mein Vater – das Telegramm kam 16 Tage später an. Arbeit fand ich dort nicht, und so war ich erstmal drei Monate lang Hausfrau. Dieses sogenannte Eisenerz-Vorkommen erwies sich nicht als solches, und Anfang März fuhren wir nach Moskau, um dort diese und jene Verbindungen wiederherzustellen. Pogonja besaß nicht das Recht, in Moskau zu wohnen, aber er hoffte, daß Freunde ihm helfen würden.

Oleg ließen wir bei meiner Mama in Abakan. In Moskau lebten wir bei seiner Schwester Irina. Pogonja rief mehrere Bekannte an. Nicht alle waren von seinem Erscheinen begeistert. Das Aufsuchen von Büros, in denen er Arbeit oder sonst irgendeine Hilfe zu finden hoffte, beanspruchte viel Kraft und kostete Nerven. Wir hatten nur wenig Geld; lange konnten wir nicht in Moskau leben.

Er machte mich mit sehr soliden Leuten bekannt: den Akademikern G.D. Afanasjew, K.A. Nenadkewitsch, dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften D.I. Schtscherbakow und anderen, ebenfalls ziemlich einflußreichen Gestalten. Aber keiner von ihnen half.

Irgendwie wartete ich im Korridor einer Behörde auf Jurij Fjodorowitsch und hörte dabei zufällig folgende Unterhaltung:

„Weißt du, wer gekommen ist?“

„Wer?“

„Jurij Pogonja!“

„Zum Arbeiten?“

„Weiß ich nicht. Was wirst du tun?“

Sie gingen fort, indem sie mir keine weitere Aufmerksamkeit schenkten: ich war ihnen ja unbekannt. Ich berichtete Pogonja von dem Gespräch. Das war ihm unangenehm, aber er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wer die Zwei gewesen waren.

Er bemühte sich um ein Treffen mit W.M. Krejter, doch jener meldete sich krank und empfing uns nicht. Später, als wir bereits in Krasnojarsk arbeiteten, brachte irgendeiner der Mitarbeiter ihm ein Büchlein, herausgegeben von Krejter, in dem es beinahe auf jeder Seite irgendwelche Hinweise auf Pogonja gab – bis zu 16 pro Seite. Das hatten ihm, Krejter, die Konfiszierungsarchive anvertraut, damit er darin Einsicht nehmen konnte, und so verfügte er über sie zu seinem eigenen Nutzen.

Nachdem wir in Moskau nichts erreicht hatten, fuhren wir nach Leningrad, um uns dort mit Michail Michailowitsch Tetjajew zu treffen. Die Tetjajews lebten in einer alten Villa, in der bis zur Revolution die amerikanische Botschaft untergebracht war. Ihre Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, einem großen Kabinett und einer Diele, die eigentlich abgetrennt war in einen Vorraum, ein Eßzimmer sowie die Küche.

Sie nahmen uns sehr wohlwollend auf. Aber Michail Michailowitsch konnte Pogonja auch nicht helfen: er fühlte sich selbst noch ganz unsicher, sein Sohn Alexander befand sich immer noch in Kolyma, und sie hatten viele Scherereien wegen seiner Freilassung. Es war schwierig.

Abends, wenn wir uns um den Tisch versammelten, dachten wir an das OTB-1 zurück. Die Ehefrau von Michail Michailowitsch (ich kann mich an ihren Vornamen nicht mehr erinnern) war über alles sehr verwundert. Ich weiß noch, wie sie aus dem Eßzimmer den „2. Gang“ brachten – sie aßen die Gemüsebeilage, und die Koteletts gaben sie mir.

„Fast wie Fleisch“, sagte Michail Michailowitsch und fing an Französisch zu sprechen. Pogonja übersetzte es für mich: „Nicht weil sie satt waren, sondern weil du solchen Hunger hattest“. Heute kommt einem das zum Lachen vor.

Wir kehrten nach Moskau zurück und bemerkten erst dann, daß wir ziemlich lächerlich aussahen: weite, wattierte Schulterpolster, weite, lange Hosen. Aber in Moskau trug man bereits enge Hosen, und wattierte Schulterpolster gab es nicht. Aber uns macht das nicht verlegen – danach war uns nicht.

Aus Moskau kehrten wir nach Krasnojarsk zurück. Kein Geld, keine Arbeit, keine Wohnung. Man bot Pogonja eine Arbeit in Uschur an. Dort trafen wir Nedler (ich weiß seinen Vornamen nicht mehr) aus dem OTB-1 und Jewgenij Nikolajewitsch Grigorjew (der auch als Häftling gesessen hatte, ich weiß nur nicht wo, weil er in Gefangenschaft gewesen war). Im Sommer fuhren wir in die Taiga, in die Sajan-Berge, und im Herbst kehrten wir nach Minussinsk zurück. Die wissenschaftlichen Expeditionen waren zusammengelegt worden. Die Umorganisierungen gingen weiter. Den Winter überstanden wir, und im Frühjahr 1956 wurden wir auf Vorschlag von Andrej Alexandrowitsch Predtetschenskij, ebenfalls einem ehemaligen Repressionsopfer, nach Krasnojarsk, zur geologischen Vermessungsexpedition versetzt.

Wir lebten in einer Privatwohnung. Erst im Jahre 1964 erhielten wir ein Stückchen „Paradies“ – eine Einzimmerwohnung in einem der typischen „Chruschtschow“-Bauten. Am 10. Mai 1973 starb Pogonja im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt.

Und das wars. „Zuende ist die Mühe, an mir armem Sünder von Gott vollendet“ (A.S. Puschkin), und ich gebe immer wieder meine Arbeit in fremde Hände, in der Hoffnung, daß sie zu etwas Gutem dient.

 P.S. Manche schreiben, weil sie einfach nicht anders können; andere kratzen sich - weil sie sich kratzen müssen.

 Valentina Georgiewna Perelomowa


Zum Seitenanfang