„Es ist unheimlich schön, ohne Angst zu leben,
auch wenn es nur für kurze Zeit ist.
Saltykow-Schtschedrin
Unsere Familie – Papa Theodor Iwanowitsch Walter (geb. 1900), Mama Minna Alexandrowna (geb. 1903), mein Bruder Harald (geb. 1927) und ich (geb. 1925) wurden aufgrund des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 repressiert und am 3. September 1941 in den Bezirk Kansk, Region Krasnojarsk, abtransportiert. Das Dorf Michajlowskoje nahm uns freundlich auf, indem es uns das „rote Zimmer“ in einem der Häuser bewilligte, dessen Bewohner sich fortan im Zimmer mit dem russischen Ofen in der Nähe des Eingangs zusammenpferchten. Papa fand recht schnell eine Arbeit als Buchhalter bei der Dorfkonsumgenossenschaft, Mama – als Verkäuferin, und ich als Erzieherin in der Kinderkrippe. Vor uns lag der sibirische Winter. Da zu der Zeit Krieg herrschte, war das Leben geprägt von Lebensmittelkarten, Kriegsanleihen und der Trudarmee, das heißt den Arbeitskolonnen des NKWD. Bereits im Januar 1942 wurde Papa einberufen und geriet in ein Holzfällerlager an der Bahnstation Reschoty, im Gebiet Irkutsk. Das war ein bekanntes Konzentrationslager im Osten Sibiriens, aus dem viele unserer Männer nicht wieder heimkehrten.
Gerüchte über das schwere Schicksal der Lagerhäftlinge drangen auch bis zu uns vor, und so machte ich mich mit einer Tasche voller Lebensmittel auf den Weg zu Papa. Damals war ich 16 Jahre alt. Ohne Abenteuer gelangte ich mit einem Passagierzug von Kansk bis zur Eisenbahnstation Reschoty, wo ich auf dem völlig überfüllten kleinen Bahnhof eine Unmenge Menschen erblickte, vorwiegend Frauen mit Kindern, die alle ihre im Lager inhaftierten Angehörigen sehen wollten. Ich erfuhr, dass man mit einer Schmalspurbahn, die eigentlich für den Transport von Holz bestimmt war, bis zum Lager fahren konnte, wenn ein Waggon einmal unbeladen war. Nachdem ich all meinen Mut zusammen genommen hatte, stieg ich auf die leere Plattform und fuhr direkt bis vor die Lagertore. Mein Weggefährte war ein etwa 14 Jahre alter Junge gewesen, der nun ebenfalls mit mir vom Zug sprang. Schnell machte ich die Lagerbuchhaltung ausfindig, in der Papa arbeitete. Dort bemerkte ich, dass das Forträumen des Schnees auf dem Gelände von einem Mann erledigt wurde, der eine Persianerkappe, einen ebensolchen Kragen sowie einen teuren Mantel trug. Man sah, dass hier jemand aus den Reihen der Intelligenz für eine ungelernte Arbeit benutzt wurde. An der Eingangstür des Hauses stand: „Zutritt für Unbefugte verboten“. Meinem 14-jährigen Gefährten sagte ich, dass wir keine Unbefugten wären, und stieß die Tür auf. In dem großen Zimmer saßen etwa 40 Männer an Tischen, die sich alle im Nu erhoben und uns anschauten. Papa blieb sitzen und arbeitete weiter. Ich trat an seinen Tisch heran; da hob er den Kopf und sah mich. Natürlich freute er sich, aber sogleich meinter er ganz leise zu mir, dass ich schnell wieder von hier verschwinden müßte. Er geleitet mich in den Raum der Brandschutzabteilung, wo ich ihm die mitgebrachten Lebensmittel aushändigte; Papa freute sich sehr und sagte, dass ich diesen Raum auf keinen Fall verlassen dürfte. Aber in den drei Tagen meines Aufenthalts bei Papa streifte ich viele Male durch das Lager und niemand hielt mich an.
Bis nach Reschoty fuhr ich mit dem beladenen Holzzug zurück. An der Bahnstation umringten mich von allen Seiten Frauen, die wissen wollten, welche Bedingungen im Lager herrschten, wie die Häftlinge dort verpflegt würden, wo sie wohnten u.ä. Sie wunderten sich, dass ich so mutig gewesen war, mich einfach zu meinem Papa in die geschlossene Lagerzone zu begeben. Sie glaubten nicht, dass so etwas möglich war, und schon gar nicht als Besucher für ganze drei Tage. 1947 kehrte Papa aus der Trudarmee zurück, nachdem er 5 Jahre in diesem Konzentrationslager verbracht hatte. Aber in der Zwischenzeit rollte die nächste Repressionswelle auch auf uns zu – im August 1942 brachte man uns drei nach Krasnojarsk, wo wir an der Station Jenisej unter freiem Himmel auf unseren Abtransport in den Norden warten mußten. Endlich, Ende August 1942, schwammen wir mit dem Motorschiff „Sergo Ordschonikidse“ gen Norden und wurden am 3. September mit insgesamt drei Gruppen am steinigen Ufer der Siedlung Potapowo an Land gesetzt, das sich im südlichen Teil des Autonomen Tajmyr-Kreises, der Halbinsel Tajmyr, befindet. Jetzt bot man uns als Unterkunft einen Rentierstall an (später tauschten wir dieses „Hotel“ gegen eine Erdhütte ein, die wir für alle Bewohner in einen Hügel hineingegraben hatten).
Es fiel uns sehr schwer, uns vorzustellen, wie sich unser Leben innerhalb eines Jahres verändert hatte. Wofür hatten wir eine solche Bestrafung unter unmeschlichen Bedingungen verdient!? Und dazu noch im Hohen Norden! Sobald der Jenisej vollständig zu gefroren war, begann das Abladen der mit Baumaterialien beladenen Flöße, die mit großer Verzögerung aus Igarka geschickt worden waren. Die Flöße waren im Eis eingefroren, und alle begriffen, dass man sie jetzt retten mußte, denn im Frühjahr würden sie mit dem Eisgang vernichtet werden. Das Herausmeißeln und Hinaufschleppen der Holzbalken und Bretter ans hohe Ufer stellte für die Frauen und Halbwüchsigen Schwerstarbeit dar. Alle Sondersiedler wurden amtlich registriert, und ich wurde sogleich vom Kommandanten zum Eisfischen in die 50 km entfernte Siedlung „Priluki“ geschickt, in der nur ein einziges Haus stand. Als ich dort mit meinem Pferd eintraf, stellte ich fest, dass das ganze Haus mit Menschen aus dem Baltikum belegt war: Letten, Finnen, Esten. Sie hatten Hunger – ohne Lebensmittel hatte man sie mit einem Motorschiff hierher gebracht und abgeladen – einfach zum Sterben. Ich und noch drei andere mit mir eingetroffene Mädchen fanden eine „Behausung“ unter dem Dach des Dachbodens. Der mit uns eingetroffene Brigadeleiter – einer der ortsansässigen Fischer – brachte uns sogleich zum Jenisej, um uns das Eisfischen beizubringen. Am nächsten Tag, es herrschten etwa 20 Grad Frost, gingen wir hinaus, um unsere 10 aufgestellten Netze zu kontrollieren. Der Fang war insofern erfolgreich, als wir die gesamte Ausbeute auf den Schlitten laden mußten, und der Brigadeführer transportierte ihn dann mit dem Pferd zur Abgabestelle in Potapowo (50 km), um dafür Geld und Gutscheinrollen zu bekommen. Uns betrog er, denn Geld brachte er uns nicht mit, und es waren auch viel weniger Rulons, als er für den wertvollen Fisch hätte erhalten müssen – Tajmen-Lachs, Weißfisch, Peled-Maränen und sogar Omul. Einen Teil der weniger wertvollen Fische händigte der Brigadier (und dafür sei ihm Dank) an die hungrigen Balten aus.
In Priluki blieb ich ein halbes Jahr und mußte dort die ganze Zeit mit Unterwassernetzen beim Eisfischen zubringen. Die Balten lösten sich nach und nach auf: ein Teil starb an Skorbut, ein Teil ging nach Potapowo; die Behörden schenkten ihnen keinerlei Beachtung. Das Haus in Priluki leerte sich langsam.
Im Frühjahr 1943 wurde ich an den „Sigowoje“-See (sig = Weißfisch; Anm. d. Übers.) verlegt (20 km von Potapowo), wo ich zusammen mit der Genossin Olja Gorr und einer Brigade, die mit Schleppnetzen arbeitete, in einem großen Zelt lebte. Im See gab es nicht wenige Fische, aber aufgrund des von der Kolchose „Sapoljarnik“ und des staatlichen Fischfangkonzerns intensiv betriebenen Fischfangs nahm der Fischreichtum merklich ab. Zum Herbst des Jahres 1943 versetzten sie mich in die Siedlung Ust-Chantajka, wo meine Mama und mein Bruder Garik im Laden als Verkäufer tätig waren, während die anderen Mädchen nach Potapowo geschickt wurden. In Ust-Chantajka begann ich als Erzieherin in der Waldschuhe zu arbeiten, die von den Kindern der aus dem Autonomen Tajmyr-Gebiet stammenden Frontsoldaten besucht wurde. Hier lernte ich Leo Petri kennen, und am 17. Dezember 1943 begann unsere Freundschaft. Damals nahm eine aufrichtige Freundschaft zweier sich liebender Herzen ihren Lauf. Aber das Leben kann nicht immer glatt verlaufen. Auf einem unserer Spaziergänge durch die Tundra, in der Nähe der Baracke, ging plötzlich der kleine, vierjährige Aljoscha verloren. Die ganze Gegend wurde abgesucht; man fand nichts. Erst später erfuhren wir von den Einsatzkräften, dass mein Aljoscha das Opfwer einer Häftlingsgruppe aus Norilsk geworden war, die das Jungchen gegessen hatten. Die gesamte Gruppe wurde am Fluß Chantajka erschossen. Der Tod dieses kleinen Jungen ging mir zu Herzen und machte mir lange zu schaffen, denn irgendwann kehrte sein Vater von der Front nach Dudinka zurück. Jedoch wollte er gegen die Waldschule kein Strafverfahren anstrengen, sondern beurteilte die Angelegenheit vielmehr als einen tragischen Unglücksfall.
Dann kam der unheilvolle Herbst des Jahres 1944, als sie Leo aufgrund einer infamen, erlogenen Anklage verhafteten und nach Dudinka brachten. Nach seinem Freispruch fingen wir einen intensiven Briefwechsel an – wir schrieben uns jeden Tag. 1945 gelang es mir, nach Dudinka umzuziehen und dort am Industriekombinat eine Arbeit als Buchhalterin zu bekommen. Meine Freundschaft mit Leo vertiefte sich. Der Hafenclub wurde zu unserem zweiten Zuhause; jeden Samstag gingen wir dort zum Tanzen und an den Arbeitstagen zur Chorprobe. In uns kochte und brodelte die Jugend. An den Abenden, von 18 bis 22 Uhr, gingen Lew und ich zur Abendschule, um dort die Klassen 8 – 10 zu absolvieren, und trotzdem fanden wir an jenen Abenden auch noch Zeit, uns zu treffen und ein wenig unter dem Vordach des Genossenschaftsgebäudes zu stehen; dort arbeitete meine Mama als Leiterin, und dort wohnten wir drei, Mama, Garik und ich, in einem kleinen Zimmerchen. 1946 zog Garik zu Papa nach Krasnojarsk um, der aus der Arbeitskolonne des NKWD heimgekommen war; Mama und ich fuhren ihm 1947 nach.
Das Jahr 1948 war ein glückliches Jahr, als Leo die Mittelschule beendete und ebenfalls, zusammen mit seiner Mutter, zu uns nach Krasnojarsk abreiste. „Abreiste“ ist ziemlich übertrieben; man sollte es besser mit den Worten ausdrücken: die Sonderkommandantur „erlaubte“ ihm die Abreise in Zusammenhang mit dem Versuch, dort einen Studienplatz am Institut zu finden. Als ich sah, wie er in unserem Haus die Treppe zur zweiten Etage heraufkam, rannte ich in unser Zimmer zurück, denn ich wollte nicht, dass die neugierigen, fremden Augen der Nachbarn mitbekamen, wie wir uns um den Hals fielen.
Damit also war unsere Tajmyrer Epopoe für die Entwicklung der Fischfangindustrie and den Flüssen Sibiriens beendet. Im weiteren Verlauf folgen Arbeit und Liebe.