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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussagen der Irma Scherer (geb. 1928), aus der Ortschaft Alt-Warenburg, ASSR der Wolgadeutschen

„Wer die Vergangenheit eifrig im Verborgenen hält, der wird
mit der Zukunft kaum in Eintracht leben .....“
A. Twardowskij

1941 verschleppt in den Beresowkser Bezirk, Region Krasnojarsk; 1942 in die Siedlung Nikolskij, Tajmyr-Nationalkreis, deportiert, wo ich die Fischerei-„Universität“ durchlief.
Im Herbst 1941 verließen wir unser Dorf mit der letzten Partie Sondersiedler. Ich weiß noch ganz genau, wie Mutter sich vom Haus verabschiedete, wie sie die Bettdecken glattstrich, die alte Pendeluhr noch einmal in Bewegung setzt und noch ein letztes Mal durch alle Räume schritt. In einem der Zimmer lag ein großer Haufen roter Äpfel, die aus er gerade erst beendeten Ernte stammten. So blieb der Geruch des Elternhauses in meiner Erinnerung auf immer und ewig mit dem Duft dieser reifen „Anis“-Äpfel verbunden.

In Sibirien trafen wir am 15. Oktober 1941 ein, an meinem Geburtstag. Ich wurde damals 15 Jahre alt. Mehr als einen Monat waren wir in Viehwaggons unterwegs gewesen. In jedem Waggon waren 20 Familien untergebracht. Unterwegs wurden viele krank, starben. Sie brachten uns in den Beresowsker Bezirk, in das Dorf Gorbi, Region Krasnojarsk. Im August 1942 schickte man uns dann in den hohen Norden. Wohin genau und wozu – das erklärte uns niemand. In Krasnojarsk, an der Bahnstation „Jenisej“ verbrachten wir einen ganzen Monat, um auf den nächsten Dampfer zu warten. Wir lebten unter freiem Himmel, direkt am Flußufer. Während dieses Monats wurden wir von einem bevollmächtigten Begleiter zum Arbeiten in die Rüstungsfabrik gebracht. Endlich, Ende September 1942 erreichten wir mit dem Dampfer „Josef Stalin“ Dudinka. In der Nähe der Fischfabrik wurden wir an Land gesetzt. Ich kam in die kleine Siedlung Nikolskij. Dort arbeiteten auch schon andere Deutsche und Letten. Im Oktober brachte man mit dem letzten Schiff vor dem Zufrieren des Flußes noch Finnen zu uns. Wir organisierten uns in der Genossenschaft „Polarstern“ und begannen mit der Fischerei. Zum Vorsitzenden der Genossenschaft wurde David Bir ernannt. Man brachte mich, zusammen mit Kindern, in einer Baracke unter. Viele mußten sich selber Erdhütten bauen. Ein Vorfall hat sich meinem Gedächtnis besonders eingeprägt. Eine zwanzig Jahre alte Frau starb; sie hinterließ einen Säugling. Ihre Mutter wußte nicht, wie sie ihre Enkelin durchbringen sollte. Um deas Kind zu beruhigen, legte sie s an ihre eigene Brust, und da geschah plötzlich ein Wunder: Milch schoß in ihrer Brust. Alle Leute in der Baracke gaben einen Teil ihrer Essensration an sie ab, damit nur die Milch nicht wieder versiegte. Das kleine Mädchen überlebte, obwohl um die Kleine herum alle vom Tode gezeichnet waren!

Mein Leben lang habe ich mir ein Gefühl der Dankbarkeit und Achtung gegenüber den Ortsansässigen bewahrt, die uns halfen, die für uns so schwierige Zeit zu überstehen. Im Tausch gegenTabak gaben sie uns Fleisch und Fisch und retteten uns dadurch vor dem Hungertod. Ich denke, wenn wir ihre Hilfe nicht bekommen hätten, dann wären im ersten Winter noch viel mehr Menschen gestorben.

Ich erinnere mich auch noch an den Brigadeführer unserer Brigade – Aleksej Wereschtschagin. Er beschützte uns, die Rechtlosen, wo er nur konnte vor den Angriffen und Beschuldigungen der Bevollmächtigten. Bei schlechtem Wetter schickte er uns nicht zum Fischfang, war bemüht, uns nicht zu demütigen und zu kränken. Ganz besonders litten die Zwangsumsiedler unter den Besuchen der Bevollmächtigten Engelson und Mikow, die sich durch ihre ewigen Nörgeleien und Grausamkeiten auszeichneten. Sie verfolgten uns auf Schritt und Tritt. Sie erlaubten uns nicht, ein wenig Fisch mitzunehmen, schauten sogar in die Töpfe, um zu kontrollieren, ob wir nicht etwa Fisch darin kochten. Einmal schlugen sie einen zwölfjährigen Jungen beinahe zu Tode, weil dieser ein wenig Hafer genommen hatte.

Das Hungergefühl war immer präsent. Die Kinder litten ganz besonders darunter. Nach 1948 wurde klar, dass wir nicht nach Hause zurückkehren würden. Viele junge Leute begannen ihre eigenen Familien zu gründen. Auch ich heiratete meinen Landsmann Heinrich Jegorowitch Root. Kinder wurden geboren: zwei Töchter, zwei Söhne. 1964 starb mein Mann; meine Mutter, Maria Jakowlewna Scherer half mir, die Kinder aufzuziehen. Sie selber war auch schon früh Witwe geworden. Mein Vater starb 1930. Auf den Schultern der Mutter lag die ganze Schwere der Verbannung. Wieviele Freundinnen mußte sie in ihrem Leben schon beerdigen, die vorzeitig an Überanstrengung gestorben waren! Wieviel Kummer und Gram hat sie gesehen!

Mit der Zeit stabilisierte sich das Leben im Norden, deswegen lebe ich auch heute noch am Jenisej. Meine Adresse lautet: 647000 Dudinka, Region Krasnojarsk, Gorkijstraße 55, Wohnung 34. Telefon: 007-39111-24789.


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