„Leben Sie heute, aber denken Sie auch an morgen!. (GBI)
Innerhalb von 6 Jahren bin ich im gesamten Mündungsgebiet des Jenisej herumgekommen – an seinem linken Ufer von Dorofejewka 420 km, und am rechten Ufer von Karaul 680 km, bis nach Dickson (in der Kara-See) und habe dort die verhängnisvolle Lage der hierher gebrachten Menschen gesehen. Das war Genozid, den Stalins Regime in Bezug auf die Sowjetdeutschen, Baltikumsbewohner und Finnen aufgrund ihrer nationalen Merkmale organisierte. Nach vorsichtigen Berechnungen kamen nicht weniger als 70% aus den Reihen der dort abgesetzten Menschen durch Kälte, Hunger und Skorbut ums Leben. Tief bewegt war ich vom Anblick der elenden, erbärmlichen Situation der Sondersiedler, die ich an der Jenisej-Mündung zu sehen bekam. Ich erinnere mich Tränen daran, denn ich habe diese harten Jahre der Erniedrigungen eines unschuldig schuldig geworden Menschen selber durchgemacht.
Ein wenig über meine Person: Feodor Schreiber, geboren 1926 in der Ortschaft Schilling, Bezirk Krasnokut, ASSR der Wolgadeutschen. Unsere große Familie (7 Brüder und 3 Schwestern) wurden im September 1941 in das Dorf Parfenowka, Bezirk Abakan, Region Krasnojarsk (90 km von der Stadt Kansk entfernt) deportiert, wo in der Hauptsache Ukrainer lebten, die bereits vor 1917 hierher verschleppt worden waren. Sie nahmen uns freundlich auf und stellten uns Wohnraum in ihrer Schule zur Verfügung.
Im Juni 1942 wurden mein Vater (62), meine Mutter (65) eine Schwester (18), ein Bruder (18) und ich (16) durch das örtliche Kriegskommissariat mobilisiert, um die Entwicklung der Fischfang-Industrie am Fluß Jenisej voranzutreiben. Unser Weg führte uns über Kansk, wo man uns während unserer Übernachtung im Feuerwehr-Revier des NKWD die gesamte Kleidung stahl, und von dort weiter nach Krasnojarsk. Dort mußten an der Bahnstation Jenisej viele tausend Menschen genau wie wir unter freiem Himmel auf unser weiteres Schicksal warten. Die jüngeren unter uns wurden jeden Tag zum Entladen von Eisenbahnwaggons und an den Anlegestellen festgemachten Leichtern geschickt.
Lange waren wir von Krasnojarsk aus in einer Karawane von Leichtern, die von einem Bugsierschiff begleitet wurden, den Jenisej flußabwärts unterwegs. Die ersten ließen sie in der Stadt Turuchansk an Land gehen, und dann wurden weiter, in Richtung des Hohen Nordens, immer mehr Menschen ausgesetzt, Wir gerieten in den am weitesten entfernt liegenden Ust-Jenisejsker Bezirk – man setzte uns am Ufer der Siedlung Woronzowo mit seiner Fischhandelskooperative ab, die mit ihren insgesamt 8 Fangrevieren der Oschmarinsker Fischfabrik Lebensmittelversorgung sicherstellte: Dorofejewskij, Inokentewskij, Lajda, Sopkarga, Oschmarinskij, Galtschichinskij, Korepowskij und Orlowka. Einige Tage später brachten sie uns nach Orlowka (60 km), wo es als einzige Behausung lediglich eine Baracke (10 x 18) und ein Badehaus gab. Wir, die frisch eingetroffenen 80 Personen, konnten in dieser kleinen Räumlichkeit, ohne Fenster und Türen, nicht alle Platz finden. Deswegen richtete sich unsere Familie in einer großen Schaluppe ein, die wir zuvor umgekippt hatten, wo bei wir an einer Seite einen Durchgang offen ließen; als Matratzenunterlage diente uns getrocknetes Gras. Im September 1942 setzte der Frost ein, der die Barackenbewohner zwang, am Gebäude Reparaturen einzuleiten; Hilfe und Unterstützung seitens der lokalen <behördenkamen darin zum Ausdruck, dass sie die Hälfte der Leute nach Sopkarga (120 km) bringen ließen und unsere ganze Familie nun in die Baracke umzog. Mein Vater war Ofensetzer; er fertigte für uns aus am Ufer gesammelten Steinen in der Mitte der Baracke einen großen Ofen an.
Im September begaben sich Jakob Schreiber, Robert Kerber, Otto Nein und ich mit einem Boot ans andere Ufer des Jenisej (Flußbreite 25 km), nach Dorofejesk, um Lebensmittel zu holen. Nachdem wir dort angekommen waren, setzte auf dem Fluß ein heftiger, langandauernder Sturm ein. Wir fanden Unterschlupf in einer winzigen hölzernen Bruchbude ohne Heizung und sahen uns schon dem Untergang geweiht. Man kann es nicht beschreiben; und wie wir dort überhaupt überleben konnten – das grenzt für mich heute an ein Wunder. Ende September war der Jenisej zugefroren und wir gingen über das Eis zufuß in unser Orlowka zurück, wo in der Baracke alle anfingen zu weinen, als sie uns wiedersahen. Während unserer Abwesenheit, so schien es, hatte die Sekretärin des Parteibüros der Woronzowsker Fischkooperative, Nekrasowa, die Leute in der Baracke vor dem Hungertod gerettet, die mit ihremRentierschlitten nicht einfach an unserer Baracke vorbeigefahren war. Nachdem sie die erbärmliche Lage gesehen und erkannt hatte, organisierte sie in aller Eile aus Woronzowo eine Lieferung mit Mehl, Zucker und Butter. Diese Frau bewahrte die Menschen in der Baracke vor dem Hunger- und Kältetod. Diese Frau werde ich niemals vergessen.
Eine Woche später ging unsere Baracken-Delegation zufuß nach Dorofejewsk (25 km), um erneut Lebensmittel zu holen. Als wir zwei Tage danach zurückkehrten, setzte strenger Frost ein, und es gab einen heftigen Schneesturm; unsere Baracke war vollständig vom Schnee zugeweht, so dass man nur über das Dach ins Freie gelangte. Anfang März 1943 machten wir uns alle auf den Weg in die 75 km entfernte Siedlung Lajda,und im Sommer zogen wir nach Swerowsk „zur Entwicklung der Fischindustrie“ am Jenisej um, wo ich bis 1946 lebte und im September des Jahres nach Woronzowo umzog. In diesem Zeitraum befaßte ich mich am Kap Braschnikowa, zusammen mit einer Brigade aus 12 Mann mit dem Robbenfang. Mit mir uin der Brigade waren: Johann Marzug, Peter Smetik, Adolf und Alexander Herr, Andreas Fink, Ewtuch und Wasilij Mikota, Jakob Lade, Josef Kuiter, Jakob Schreiber, Olga Becherdt und ich. In Woronzowo arbeitete ich als Fuhrmann; ich belieferte das Kontor der Fischkooperative mit Brennholz und die 7 Läden mit Lebensmitteln.
Das Leben am Ende der Welt begann sich für mich ein wenig zu bessern. Aber insgesamt gesehen bedeutet das Leben der Sondersiedler in den kleinen Siedlungen an der Jenisej-Mündung, dass sie sich ständig am Rande des Todes durch Hunger, Kälte, Skorbut und die schwere, gefährliche Arbeit im Wasser bewegen (eine der 7-er Brigaden kam bei einem Sturm ums Leben). Aus örtlichen Quellen wurde bekannt, dass in den ersten 2-3 Jahren nach ihrer Ankunft im Norden vor allem Menschen zu leiden hatten, die man im Spätherbst aus den Schiffen direkt im Ufersand abgesetzt und ihnen lediglich ein paar Zelte für die Fischer ausgehändigt hatte. Das war eine ganz große Tragödie. In der Tat waren 1942 im Hohen Norden 75% überzählige, gänzliche überflüssige Menschen abgesetzt worden. Wir kamen zur Oschmarinsker Fischfabrik, zu der, wie ich bereits oben erwähnte, die Siedlungen Orlowka, Dorofejewsk, Inokentewsk, Swerowsk, Lajda, Oschmarino, Narsoj, Sopkarga, Karepowsk, Kasatscha, Woronzowo, Galtschicha, Troitsk, Kurja und Tschajka gehörten. In diesen Siedlungen waren etwa 2200 Repressierte registriert. Man kann definitiv sagen, dass 25% dieser Menschen aufgrund von Hunger und Kälte ums Leben kamen, andere ertranken oder erfroren auf dem Eis oder in ihren Unterkünften. Es ist für mich sehr schwierig, nach 60 Jahren genaue Zahlenangaben zu machen. Die hier eingetroffenen Menschen erfuhren in den Polarnächten ohne jegliche Wärme und Licht unermeßliches Leid. Heute wundere ich mich selbst, wie es möglich war, dass wir am Leben blieben und all das ertragen konnten.
Besonders schlecht erging es jenen, die nach Dorofejewsk, Inokentewsk und Woronzowo gerieten, wo es überhaupt kein Brennholz gab, und die Menschen ihre Behausung nicht beheizen konnten, sondern allenfalls ihren Tee warm bekamen; und damals herrschten auch drinnen Temperaturen von bis zu minus 50 Grad. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Onkel Wanka Terner laut weinte, weil er solchen Hunger hatte. Und so starb er dann auch im Alter von nur 52 Jahren, und ein paar Tage später auch seine Ehefrau Tante Minna Nein. Heute kannst du dich schon gar nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern; es war damals eine sehr schwere Zeit für uns, als die Menschen ohne Licht, ohne Badewanne, ohne die notwendige Nahrung lebten und ganze Familien ausstarben. Nichtsdestoweniger ging das Leben weiter. Wir waren damals noch jung, ungefähr 16 Jahre alt, und fischten im Sommer mit einem 400-Meter-Schleppnetz. Wir gaben so viel Fisch wie wir konnten an den Staat ab – unter der Losung „mehr Fisch für die Front“, denn alle bemühten sich, für den Sieg zu arbeiten. Ich kann mich jetzt besonders an einige der Jungs erinnern, mit denen ich auf Fischfang ging: Andrej Fink, August Schefer, Emanuel Spenkler, Iwan Termer und viele andere. Ich erinnere mich auch noch an eine Fraueneinheit, die von Emilie Fink geleitet wurde, und dazu gehörten Anna Danewolf, Minna Tschan (Hahn?), Olga Schaufler, Maria Geld (Held?), Sofia Kunz und Lydia Salfeld. Diese Frauen hatten offenbar mit dem Fischfang kein Glück – wie sie ihr Schleppnetz auch auswarfen, es ging unter und verdrehte sich, so dass keine Fische in den Fangkorb gelangen konnten. Aus diesem Grunde wandte Anna Danewolf (sie sollte später meine Ehefrau werden) sich sehr oft mit der Bitte an mich: Fedja, hilf uns, das Schleppnetz auszuwerfen. Und ich stehe in der hellen Polarnacht auf und helfe ihnen dabei, das Netz richtig zu werfen, und danach waren auch immer Fische im Netz. Die Mädchen freuten sich und dankten mir für meine Unterstützung. Im Winter posierten wir die Netze unter dem Eis, aber wir mußten dazu in beide Richtunge mehr als 20 km weit laufen; wir hatten auch keine freien Tage, sondern ruhten uns nur an den Tagen aus, an denen es schwere Schneestürme gab. Frost zählte nicht, selbst wenn er minus 50 Grad erreichte, zum Fischen gingen wir dann trotzdem.
Über meine Ehefrau Anna Danewolf, die jetzt Anna Gottliebowna Schreiber heißt, kann ich folgendes sagen: sie wurde 1921 in der Ortschaft Schaffhausen, Bezirk Unterwalden, Gebiet Saratow, geboren; geheiratet haben wir 1945. Sie war eine sehr gute Hausfrau, und wir haben 59 Jahre, 6 Monate und 5 Tage miteinander gelebt – bis zum 15. September 2004; sie starb, als wir bereits in Deutschland wohnten. Jetzt haben wir 4 Kinder, 9 Enkel und 11 Urenkel. Jetzt, da Anna tot ist, muß ich ständig an sie denken, denn ohne sie geht es mir sehr schlecht, sie fehlt mir so sehr. Und so haben wir bis Juli 1945 Fische gefangen, als wir aus eigener Kraft im Flusse des forttreibenden Eises mit einer Schaluppe zum Kap Braschnikowa (270 km von Lajda entfernt) fuhren. In der Omul-Bucht bereiteten wir 5 Tage lang „Polowinki“-Netze (Hälfte; Anm. d. Übers.) zum Jagen von Delphinen vor; von dort aus ging es dann weiter zum Kap Braschnikowa. Dorthin schickten sie uns einen Instrukteur namens Nikolaj Krudko, der uns zeigte, wie und wo man diese Halbnetzte am besten auslegt. Wir hatten großes Glück – in der ersten Nacht fingen wir drei Delphine, und in den folgenden zwei Monaten konnten wir insgesamt 320 Zentner Delphinfleisch abliefern. Wir hatten gut gearbeitet; das Plansoll war zu 160% erfüllt. Ich muß hier anmerken, dass der größte von uns gefangene Delphin ein Gewicht von 1344 kg besaß und seine Speckschicht eine Stärke von 12-15 cm besaß. Im Großen und Ganzen kehrten wir siegreich nach Lajda zurück. Als aktivste unter den jungen Leuten gründeten wir Fischer Instrumental-Musikensemble: Robert und Otto Nein, Johann Altergot, Wasilij Mikota und ich spielten an den Samstagen und Sonntagen im Klub mit Geige, Gitarre, Balalajka, Zimbel und Trommel zum Tanz auf. Robert Nein und ich konnten alle Instrumente spielen. Wir waren in den kleinen Siedlungen hoch angesehen.
Diese Art von Arbeit und Alltagsleben zog sich bis 1948 hin, als wir vom Kommandanten der Sonerkommandantur auf die Insel Sachalin angeworben wurden. Unsere Reise führte uns von Lajda weiter mit dem Motorschiff nach Krasnojarsk und dann in Güterwaggons bis nach Wladiwostok, wo wir zwei Wochen lang in großen Zelten auf unser Seeschiff warteten. Drei Tage und Nächte warn wir mit dem Schiff „Sowjetsk“ unterwegs. Die erste Anlegestelle befand sich in Sowgawan, dann ging es weiter über Cholmsk, Uglegorsk und schließlich Aleksandrowsk auf Sachalin, wo wir einige Tage lebten und danach am Tanginsker Fischkombinat des Nordsachaliner Fischkonzerns abgeliefert wurden. Zu diesem Kombinat gehörten vier Fischfabriken. Sie schickten uns zur Trambausker Fischfabrik, die von Aleksandrowska am weitesten entfernt war (90 km); wir trafen dort erst am Abend mit einem Kutter ein, es war bereits dunkel, und wir wurden in einer großen Fischerbaracke untergebracht. Am nächsten Morgen kam der Direktor der Fischfabrik, Filipp Iwanowitsch Botalow, zu uns; er stellte sich vor, gab uns drei Tage Zeit zum Ausruhen, und dann sollten wir uns selber Wohnungen suchen. Ich muß dazu sagen, dass Batalow ein sehr guter Mann war: so kam er beispielsweise am vierten Tag erneut zu uns und sagte, dass unsere Frauen mit ihm kommen sollten, damit er ihnen zeigen konnte, wo es Preiselbeeren zu suchen gab. Gegen Abend kehrten unsere Frauen mit Beeren zurück, die sie eimerweise gepflückt hatten. Alle waren dem Direktor während dieser Beeren sehr dankbar.
Während wir unsere Vorbereitungen trafen und dann in Wohnungen umzogen, befanden wir uns vor lauter Glück wie im siebten Himmel, weil wir so gut untergekommen waren, aber da wir bereits September hatten, begannen wir uns nun für den Winter-Fischfang zu rüsten, denn im Winter kann man Nawaga (kleine Kabeljau-Art; Anm. d. Übers.) nur mit Netzfallen fischen. Eine kleine Gruppe von 4 Leuten, ausgerüstet mit 12 Netzfallen, bekam ein Plansoll von 240 Zentnern vorgegeben, für die jeweils 37 Kopeken ausbezahlt wurden; für den 2. Plan gab es je 64 Kopeken und für den 3. jeweils 1 Rubel und 11 Kopeken, für alles was darüber hinaus gefangen wurde, änderte sich der Preis dann nicht mehr. Nichtsdestoweniger erfüllten wir unser Plansoll stets um 250-300%, so dass wir einen sehr guten Verdienst machten. Während der Sommerzeit fischten wir mit einem ausgelegten 400-Meter-Schleppnetz, 6 km von zuhause entfernt; im Frühlingst fingen wir Hering und im Sommer Buckellachse. Soviele Fische wie dort habe ich woanders nie wieder gesehen. Innerhalb eines einzigen Tages fingen wir 840 Zentner Hering, und damit gab es für uns einen Aushang an der Ehrentafel. So ging es 5 Jahre lang. Mit dem Kommandanten der Sonderkommandantur hatte ich dort allerdings sehr wenig Glück. Einen Monat nach unserer Ankunft in Sachalin kam Oberstleutnant Jegofarow zu uns, ein Tatare und sehr guter Mensch, aber er blieb nicht lange dort. Es kam ein neuer Kommandant, Hauptmann Salomatow, der war ein ganz schlechter Mensch; ich weiß gar nicht, als was ich ihn bezeichnen soll; er trieb einfach nur ständig seinen Hohn und Spott mit uns Deutschen. Jeden Monat kam er einmal aus Aleksandrowska zu uns, um uns zu registrieren, woraufhin er mich nachts zu sich rufen ließ und mir nahelegte, mich doch als Geheimagent zu betätigen. Natürlich war ich damit nicht einverstanden. Bei seinem nächsten Aufenthalt registrierte er alle Deutschen,und mir teilte er mit, ich solle mich drei Tage später in Aleksandrwoska einfinden, und falls ich dort nicht eintreffen würde, dann käme ich dafür in den Karzer. Ich mußte also die 90 km zufuß in die Stadt Aleksandrowsk gehen, wo er mich erneut als Spion „vorschlug“ und ich wiederum ablehnte. Und dann begann er mich in jeder möglichen Hinsicht zu demütigen. Ein wenig später, nachdem der Direktor mich zur Heumahd geschickt hatte, kam dieser Kommandant angefahren und verhaftete mich für einen Zeitraum von 15 Tagen und Nächten, weil ich zum Heumähen die Dorfgrenze überschritten hatte. Ebenso verhielt er sich auch bei Sascha Amann, den man ebenfalls zur Heuernte (60 km entfernt) geschickt hatte. Als Sascha zurückkehrte, wurde er auch 15 Tage und Nächte eingesperrt. Du kannst wählen: gehst du nicht zur Arbeit, dann gilt das als Schwänzen, und wenn du der dir gestellten Aufgabe entsprechend deine Arbeit verrichtest – dann verdienst du 15 Tage Haft. Ich erzählte Direktor Filipp Iwanowitsch Batalow davon; gut, dass er Verständnis zeigte, aber helfen konnte er uns nicht, denn er wollte seine Beziehungen zu den NKWD-Mitarbeitern nicht verderben. Und so demütigte und verspottete dieser verfluchte Salomatow unsere Deutschen auch weiterhin. Am 15. März 1953 rief ermich zu sich und meinte, dass wir aus Moskau die Erlaubnis erhalten hätten, zu unseren Eltern zu fahren. Aber Salomatow verhöhnte und erniedrigte mich und meine vierköpfige Familie noch weitere drei Monate. Wir hätten sehr gut von Aleksandrowsk mit dem Schiff nach Wladiwostok fahren können, aber er wählte von uns die schlimmste Variante, in dem er uns mit dem Zug über Juschnosachalinsk bis nach Karsakow schickte, und dann weiter über das Meer nach Wladiwostok. Kommandant Bereschnoj begleitete uns bis nach Krasnojarsk, obwohl ich in Kansk (250 vor Krasnojarsk) hätte aussteigen müssen; aber das alles tat Salomatow, um mir, meiner Frau und unseren beiden Kindern noch einmal ordentlich eins auszuwischen.
In Krasnojarsk trafen wir an einem Sonntag ein; dort gab Bereschnoj uns in der Kommandantur ab und fuhr weg. Am Montag verkündete uns der dortige Kommandant, dass, sobald sich eine ausreichend große Gruppe zusammengefunden hätte, man uns sogleich nach Aban befördern würde. Ich erwiderte, dass ich nicht warten könne, weil wir mit den Kindern nun schon seit drei Monaten unterwegs seien und unser Geld langsam zur Neige ging. Er erwies sich als verständnisvoller Mensch und antwortete: geh zur Stadtkasse, kauf eine Fahrkarte – und dann komm wieder her. Ich kaufte die Fahrkarte und er meinte: stell mir eine Quittung aus, dass du dich in zwei Tagen bei der Kommandantur in Aban melden wirst. Ich schrieb die Quittung, und dann fuhren wir zur Abansker Sowchose, wo mein gelähmter Vater lag. Wir waren in ein derartiges „Provinznest“ geraten, dass man es sich überhaupt nicht vorstellen kann. Ich mußte dort drei Jahre bleiben; nachdem ich von der Kommandantur-Meldepflicht befreit war, fuhr ich nach Semipalatinsk und ein Jahr später, nachdem der Vater gestorben war, kam meine Mutter zu uns und wir lebten dort zusammen bis 1969.
Wir wohnten in der Nähe von Semipalatinsk in einem Mastbetrieb der Sowchose „Priretschnij“,und es ging uns gut. Vom ersten Tage an organisierte ich eine Baubrigade aus 7 Jungs und wurde zu ihrem Brigadeführer: zwei meiner Brüder, Jegor und Jascha Schreiber, Iwan und Ernst Filbert, David Tag, mein Neffe Jascha Schreiber und ich. Wir sieben Leute begannen Häuser aus gebrannten Lehnziegeln zu bauen. Die Sache lief sehr gut, wir verdienten nicht schlecht, und so arbeiteten wir ganze 37 Jahre lang – bis 1993. Ich war als Baumeister tätig, später 5 Jahre als Verwalter der Sowchosenabteilung, 15 Jahre als Ausrüster und schließlich bis 1986 als Vorarbeiter. 1986 ging ich in Rente, obwohl ich danach weiterarbeitete. Ich bekam die maximale Rente – 132 Rubel. 1993 siedelten wir nach Deutschland aus. Ich bin Helmut Kohls Partei, und auch Gorbtschow, sehr dankbar, dass sie den Rußland-Deutschen die Möglichkeit bewilligten, nach Deutschland umzuziehen. Ehefrau Anna habe ich 2004 in Deutschland begraben. Jetzt bin ich Invalide, meine jüngste Tochter Lena kümmert sich um mich, und ich danke Gott, dass ich so gute Kinder habe, die mich jeden Tag besuchen, denn ich bin sehr krank; meine Kehle ist vom Krebs befallen, und ich kann kaum sprechen. Nicht weit von mir leben zwei Töchter, ein Sohn, 7 Enkel und 6 Urenkel.
Meinem Zeugenbericht möchte ich noch Erinnerungen an die Tragödie hinzufügen, die sich in der Familie meiner Verwandten zutrug; dazu müssen wir in die 1930er und 1940er Jahre; an die Wolga, zurückkehren. In jenen Jahren setzte unter den Deutschen in der ASSR der Wolgadeutschen der Massenterror ein, der von der damaligen Staatsmacht provoziert worden war. Unsere Ortschaft Schilling war nicht sehr groß; insgesamt gab es dort nur drei Straßen und 150 Höfe. Im Dorf agierten zwei Männer, die nicht nur eine Seele ins Jenseits beförderten. Das waren Raifschneider und Schaifler, damals Provokateure, die jeden für nichts und wider nichts einsperren konnten und die zwischen 1935 und 1940 „in den Diensten“ der sogenannten „Trojkas“ standen. Die Sache ging so weit, dass dass die Trojka unschuldige Menschen verhaftete, und diese beiden brachten denjenigen dann irgendwo aufs freie Feld und schlugen ihn zusammen, bis er halbtot war. Ich kann mich erinnern, dass es einen solchen Fall gab, als sie Jegor Jakowlewitsch Filberg, einen kräftig gebauten Mann dort hinaus brachten und ihn fragten: - Na, Jegor, nun sag mal, was paßt dir denn an uns nicht? – Daraus schloß Jegor, dass sie es darauf anlegten, ihn sogleich zu verprügeln. Und a antwortete er ihnen:
- Na, los! Wer schlägt hier wen? – Mit diesen Worten sprang er aus dem Fuhrwerk und rief: Entweder ich euch oder ihr mich!
Dieses Mal hatten Raifschneider und Schaifler die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Jegor verprügelte die beiden nach Strich und Faden, dass sie kaim noch in der Lage waren davonzulaufen. Untereinander wurden sie von den Bewohnern „Menschenfresser“ genannt, denn sie nahmen auf nichts und niemanden Rücksicht. Meine Mutter hatte vier Brüder: Onkel Mischa, Onklel Sascha, Onkel Friedrich und Onkel Karl, sowie drei Schwestern. Onkel Friedrich (geb. 1898) war mit Rosa Schefer verheiratet, die beiden hatten 8 Kinder; beim 9. Kind starb Rosa 1933 am Kindbettfieber. Onkel Friedrich blieb mit seinen 8 Kindern allein zurück, und da kamen sie 1935 plötzlich in der Nacht, um ihn zu verhaften. Später erfuhren wir, dass man ihn erschossen hatte. Weswegen!? Einen einfachen Bauern mit acht Kindern hatten sie umgebracht: das älteste 15 Jahre alt, das jüngste erst 1 Jahr. Die Kinder wurden unter den Verwandten aufgeteilt – einer nahm einen Jungen, der ander ein Mädchen auf: Fjodor – 15 Jahre, Emma – 13 Jahre, Iwan – 10 Jahre, - Viktor – 9 Jahre, Ernst – 7 Jahre, Verta – 1 Jahr. Das war in der Familie eine furchtbare Tragödie für alle, denn die Kinder waren nun praktisch elternlos. Aber mit Hilfe der Verwandten konnten die Kinder aufwachsen, wenn auch unter den damals an der Wolga herrschenden schwierigen Verhältnissen – sie lebten schlecht, es herrschte Hunger, Kälte, Elend. Dieser Kummer, dieses Leid wurde den Kindern von den „Menschenfressern“ zugefügt, welche nicht einmal Kinder verschonten, sondern ihnen auch noch den Vater wegnahmen. Wie schwer es uns auch ergangen sein mag, aber diese Kinder blieben am Leben. Jedenfalls hat Gott Raifschneider und Schaifler später ebenfalls bestraft. Sie wurden in die Bezirkshauptstadt Krasnij Kut versetzt, um dort im Bezirkskomitee der Partei zu arebeiten. 1938 wurde Schaifler verhaftet und verschwand spurlos. Mein Vater arbeitete in unserem Dorf beim Brandschutz. Einmal wurde er in dem Jahr in die Bezirkshauptstadt zur Versammlung gerufen, wo Raifschneider ihn begrüßte und zum Mittagessen einlud, was der Vater nicht ablehnte. Aber erkam etwas später, weil er noch einen Freund getroffen hatte. Zwei Stunden später erfuhr mein Vater, dass Raifschneider sich selbser erschossen hatte, denn man hatte ihn bereits entlarvt; offensichtlich hatte der zuvor verhaftete „Menschenfresser“ ihn „sehr schön“ preisgegeben und gegen ihn ausgesagt. Er hinterließ eine Notiz, auf der Stand, dass man ihn mit Musik begraben möge. Seinen Bruder hatten sie bereits 1937 erschossen.
So also wuchsen Onkel Friedrichs Kinder heran und wurden 1941, zusammen mit allen anderen, nach Sibirien ausgesiedelt: Erna, die inzwischen Karl Hein geheiratet hatte, Fedja, Iwan und Viktor mußten in einer Arbeitskolonne des NKWD arbeiten; Ernst, Karl, Erna und Berta wurden bei ihren Verwandten alt; von allen 8 Kindern blieben Emma, Iwan, Ernst und Erna am Leben; Karl und Fedja starben bei einem Autounfall, Berta starb eines natürlichen Todes. Gut leben heute in Deutschland Emma, Iwan, Ernst und Erna, alle haben sie ihre Kinder und führen, Gott sei Dank, ein gutes Leben; sie haben alles, was sie brauchen. Wir sehen uns nur selten, telefonieren aber häufig miteinander und erinnern uns dann daran, wie Onkel Friedrich in jenen stalinistischen Jahren für nichts und wider nichts leiden mußte; wenn man sich heute daran erinnert, schmerzt einen die schwere Zeit, die man durchmachen mußte, sehr.
Ich möchte meine tiefste Dankbarkeit den Behörden gegenüber zum Ausdruck bringen, dafür, dass ich eine gute Rente aufgrund meiner durch die Arbeit im Arbeits- und Erziehungslager erworbenen Invalidität erhalte. Ich habe die Möglichkeit, den Kindern zu helfen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Freunde sich bei mir meldeten. Meine Adresse: Theodor Schreiber, Am Ellenbusch 7 a, 52355 Düren, Tel. 02421-67726.
Meine Gesundheit könnte besser sein: 1996 mußte ich innerhalb von 35 Tagen 7 Operationen durchmachen. Das ist meine nachträgliche „Belohnung“ für die Entwicklung der Fischfangindustrie im Hohen Norden.
Meine größte Freude wäre es, die Stimmen meiner Freunde aus der Jugendzeit zu hören.
Hochachtungsvoll Feodor Jegorowitsch Schreiber.