„Die Hölle ist keineswegs schlimmer als das Paradies.
Man muß nur in ihr geboren werden“.
Auf das Los der Familie Gorr entfiel eine schreckliche Tragödie.
Im September 1941 wurde unsere Familie, bestehend aus 7 Erwachsenen und 2 Kindern, nach Sibirien, in die Siedlung Nasarowo, Region Krasnojarsk, verschleppt. Wir hatten von Anfang an kein Glück – noch vor dem Abtransport aus unserem Dorf gab es auf dem Leiterwagen nur Platz für Kinder und alte Leute, deswegen erlaubte man uns nicht, warme Kleidung und Decken mitzunehmen; stattdessen verkündeten sie uns: in 2-3 Monaten kehrt ihr wieder nach Hause zurück. Später haben wir dafür mit unserem Leben bezahlt. Aufgrund einer Mobilisierung durch das Kriegskommissariat verschickten sie uns ein Jahr später von Nasarowo in die Stadt Jenisejsk, wo wir 8 km unterhalb der Stadt unter freiem Himmel am Ufer des Jenisej ausgesetzt wurden, einem Ort, an dem schon zuvor etwa 200 Menschen vor uns eingetroffen waren. Der Herbst mit seinen ständigen Regenfällen und kalten Nordwinden führten dazu, dass die Menschen, die keine ausreichend warme Kleidung besaßen, sich schwere Erkältungen zuzogen und magenkrank wurden. Endlich, nachdem wir eine Woche am Ufer gelagert hatten, wurden alle vom Passagierschiff „J. Stalin“ an Bord genommen; dort kamen wir im kalten Frachtraum unter, wo man sich nur in der Nähe des Maschinenraums ein wenig aufwärmen konnte.
Eine Woche später wurden wir in der Siedlung Pschenitschnij Rutschej abgesetzt, die sich 4 km flußabwärts von Dudinka, im Autonomen Tajmyr-Kreis, befindet. Alle wurden in Zelten ohne Heizung untergebracht (in den Nächten herrschte Frost). Während unseres einwöchigen Zelt-„Lebens“ starben in der Nachbarfamilie Altergot die vierjährigen Zwillinge an Unterkühlung und mangelhafter Ernährung. Später brachte man eine Gruppe von 50 Mann aus unseren Reihen in die Siedlung Potapowo. Während der zweiwöchigen Fahrt dorthin, die wir an Deck eines Ringwadenboots zubrachten, konnten zwei unserer Kinder der Kälte nicht standhalten (es war bereits Ende September) und starben. Das war der erste schreckliche Schlag, den unsere Familie versetzt bekam – nun waren wir nur noch 7 Erwachsene. In Potapowo erwartete uns ein Leben in einem Rentierstall, der Bau von Erdhütten und, während des gesamten Winters, das tägliche Abladen von Holzbaumaterialien von einem im Eis eingefrorenen Floß. Von den insgesamt durch uns gebauten 22 Erdhütten war unsere die neunzehnte.
Unsere Familie wurde von einem Schicksalsschlag nach dem anderen heimgesucht. Schlechtes Eseen, Skorbut und die ständige Kälte verursachten Magenerkrankungen und führten innerhalb von nur 7 Monaten zum Tode von 5 weiteren meiner Verwandten. Am Leben geblieben sind nur meine Schwester Dorothea (geb. 1922) und ich. Es war eine furchtbare Tragödie.
1948 begann in Dudinka und den Siedlungen des Ust-Jenisejsker Bezirks eine Massenanwerbung der Sondersiedler zum gewerblichen Fischfang auf der Insel Sachalin, die von der NKWD-Sonderkommandantur durchgeführt wurde; man mußte sich für 5 Jahre dorthin verpflichten und bekam auch das Reisegeld ausbezahlt. Auf diesen Schritt seitens des Staates reagierten viele Sondersiedler im Tajmyr-Gebiet, auch meine Schwester und ich. Die Sonderkommandantur des Gebiets erledigte alle Formalitäten, die dazu nötig waren, selber. In Krasnojarsk wartet auf uns, die Angeworbenen, ein Güterzug der Eisenbahn, der komplett gefüllt war – etwa 2000 Personen aus verschiedenen Orten Sibiriens. Die Fahrt ging über Wladiwostok, und von dort weiter mit einem Seeschiff bis zur Fischersiedlung Aleksandrowsk im Norden der Insel Sachalin.
Nachdem wir dort unsere fünfjährige Vertragsverpflichtung erfüllt hatten, reiste meine Familie (1950 hatte ich Rosa geheiratet) nach Kasachstan ab, und später – nach Deutschland, wo ich bis heute in der Nähe von München wohne.
Zum Abschluß möchte ich sagen, dass unsere Familie Gorr für the Politik des Staates in Bezug auf die Sondersiedler im Tajmyr-Gebiet einen hohen Preis gezahlt hat, indem sie das Leben von 7 ihrer Familienmitglieder hergegeben hat“.
Das ist die Meinung eines am Leben gebliebenen ordentlichen, fleißigen Mannes aus dem Wolgagebiet, der nun seinen Lebensabend in der Heimat seiner Vorfahren verbringt.