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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussagen von Arthur Brunner (geb. 1926) und Erna Bekker (Brunner,geb. 1921)

„Unsere dreiköpfige Familie – Maria Brunner (geb. 1893), Arthur und Erna verließen im September 1942 mit der dritten Partie „Sondersiedler“, auf einem mit Menschen völlig überfüllten Frachter, der mit zweistöckigen Pritschen ausgestattet war, Krasnojarsk. Wir waren genau einen Monat unterwegs – ohne warmes Essen, mit endlosen Schlangen vor den Toiletten und massivem Läusebefall: das Ergebnis unseres elenden, kümmerlichen Daseins im Frachtraum. Die beschwerliche, qualvolle Reise endete schließlich mit dem Werfen des Ankers an der Anlagestelle „Dorofejewsk“ im Ust-Jenisejsker Bezirk, Nationalgebiet Tajmyr. Am sandigen, kahlen Ufer der Tundra fanden wir, die „Passagiere“ des Leichters 5 Gebäude vor – 4 kleine Holzhütten als Behausungen, 1 Laden sowie 15 Ortsansässige. Das war die Fischfang-Kolchose „Morgenrot“ mit einem Vorsitzenden und einem Buchhalter.

Die Ankömmlinge wurden in den Hütten und in Zelten untergebracht.Der tiefe, kalte Polarherbst hatte bereits Einzug gehalten, schließlich betrug die Entfernung bis zur Kara-See und der Insel Dickson nur noch 300 km. Schnell kam es zu Problemen mit Brennholz, das sich in Form von herumliegenden Baumstämmen an der rechten, der gegenüberliegenden Uferseite befand, an einer Stelle, an der die Jenisej-Bucht eine Breite von 60 km erreicht. Noch vor dem endgültigen Zufrieren des Flusses gelang es uns, mit einem Dreitonnen-Segelboot eine Überfahrt zu bewerkstelligen, um Brennmaterial zu holen. Aber es war trotzdem klar, dass wir den Winter über ohne Holz sein würden. Kurz bevor sich die dicke Eisschlammschicht auf dem Fluß bildete (der letzte Vorbote vor dem Zufrieren des Gewässers) kam aus Igarka ein selbstangetriebener Leichter mit Baumaterialien, aber wegen einer Sandbank konnte er nicht dicht genug ans Ufer herankommen; die Besatzung warf das gesamte Holzmaterial von Bord, und wir mußten dann im eisigen Wasser stehen, die Teile herausfischen und ans Ufer ziehen. Es waren alles Fertigteile aus Balken und Bohlen für den Bau von Häusern mit je zwei Wohnungen.

Die meisten der Ankömmlinge waren Deutsche aus dem Wolgagebiet und aus Leningrad, Letten, Juden und Finnen, Kinder, Halbwüchsige und Frauen. Welche Schuld hatten wir auf uns geladen, um hierher, ans Ende der Welt, zu gelangen? Ausschließlich aufgrund unserer Nationalität. Die ortsansässigen Kolchosmitarbeiter – das waren gegenwärtige und ehemalige Verbannte – für die Behörden „sozial gefährliche Elemente“.

Die Menschen wurden aufgeteilt in Bauarbeiter und Fischer; zu den letztgenannten gehörten auch wir, nachdem sie mich, einen 16-jährigen Jungen, zum Leiter der Fischfangbrigade ernannt hatten. Wir hatten Glück, dass wir „zu den Fischen“ kamen und somit nicht hungern mußten und an Skorbut erkrankten, wie es mit den anderen geschah. Natürlich mußten wir aufgrund unserer unzureichenden Erfahrung mit der Arbeit auf dem Wasser während eines Sturms drei Tage und Nächte in der Jenisej-Bucht herumschaukeln, denn es war wegen der hohen Wellen nicht möglich am Ufer festzumachen. Bei einem derartigen Sturm wäre ich beinahe zu Tode gekommen, als mich nach einem heftigen Windstoß die untere Rahe des Segels aus der Schaluppe hinaus in die Bucht warf – mitsamt Oberbekleidung und Stiefeln, aber es gelang mir, zur Schaluppe zurückzuschwimmen und mich in Sicherheit zu bringen. In der gesamten Fangstation gab es nicht einen einzigen Rettungsring oder ähnliches. Aus diesem Grunde kam eine Fischer-Einheit ums Leben. Und das Merkwürdige daran war, dass dieser Vorfall niemanden in Besorgnis versetzte, dass danach keine Maßnahmen ergriffen wurden – menschliches Leben war hier keinen Heller wert. In puncto Gefährlichkeit beim Fischfang bei Sturm, mit Netzen und einem Segelboot, befanden wir uns in einer Gefahrenzone, denn auf eine derartige Arbeit waren wir hier zum ersten Mal gestoßen; und es kam auch zu einem neuerlichen Unglücksfall - in einem schwerem Sturm, als die Bucht schon kurz vor dem Zufrieren war, kamen 7 Fischer ums Leben.

Unsere aus 13 Mann bestehende Brigade ernährte ich mit gutem, reinrassigem Fisch. Das erfuhr der Vorsitzende der Kolchose; er verbot uns daraufhin, Fisch mit nach Hause zu nehmen, obwohl Fisch im Überfluß vorhanden war, weil es an der Fischabgabestelle nicht genügend Salz zum Konservieren gab. Die Fischer rebellierten und beschlossen, an einem der nächsten stürmischen Tage diesem Mann eine Lehre zu erteilen. Aber um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, machten unsere Frauen ihn mit selbstgebrautem Bier betrunken und versteckten ihn dann vor den Fischern. Er wurde nie mehr gesehen – man entließ ihn aus seinem Amt.

Unsere Bauleute hatten die Häuser schnell zusammengebaut, aber wegen des ständigen Mangels an Holz und des feuchten Baumaterials stieg die Temperatur in einer solchen Behausung bei Einbruch des Winters nicht über minus 7 Grad. Brennmaterial wurde nur zum Essenkochen verbraucht.

Unter den an der Jenisej-Bucht herrschenden Bedingungen, wo deren breiteste Stelle eine Entfernung der beiden Uferseiten von 60 km erreicht, ist es während der häufigen Schneestürme besonders gefährlich. Um sich irgendwie vor der häuslichen Kälte zu schützen, unternahmen wir mit einem Freund den Versuch, vom anderen Ufer Holz herbeizuholen. Das Risiko, die 120 km hin und zurück zu bewältigen, hätte beinahe zu unserem Verderb geführt, denn es kam ein schwerer Schneesturm auf, und wir befanden uns ohne Kompaß inmitten der „Milchsuppe“. Wir waren bereits kurz vor dem Erfrieren, als wir einem ortsansässigen Jäger begegneten; er rettete uns und brachte uns in die Siedlung zurück. Heute kann man sich nur darüber wundern, wie es möglich war, dass eine so große Masse Menschen ohne entsprechende Kleidung, ohne das notwendige Brennmatrial einfach in den Hohen Norden gebracht wurde, wo das Vorhandensein von Brennholz die Grundvoraussetzung für das Überstehen des 9 Monate dauernden, harten Polarwinters darstellt. Dieses verbrecherische Handeln seitens der Behörden mußten die Sondersiedler teuer bezahlen – innerhalb von nur 2 Jahren lagen bereits 20-30% von ihnen hier im ewigen Eis, unweit des Eismeers. Es ist noch ein zweiter Vorfall in der Erinnerung geblieben, bei dem wir ebenfalls in einen Schneesturm gerieten: im Frühjahr, während des Eisfischens, fuhr die gesamte Brigade ins Fahrwasser der Bucht hinaus, etwa 10-15 km von beiden Ufern entfernt; da brach plötzlich ein furchtbarer „schwarzer“ Sturm los, wenn man um sich herum die Hand vor seinen Augen nicht mehr sehen kann. Einen Kompaß gab es nicht, man konnte sich höchstens an den Nasenspitzen orientieren, und der Wind änderte sich innerhalb von 24 Stunden um 360 Grad. Die Brigade war 18 Stunden ohne Pause unterwegs und fand sich schließlich an der Stelle wieder, von der sie losgefahren war. Meine Mama hatte während des gesamten Sturms zuhause bei offener Tür im Windfang gestanden, gebetet und Gott um Hilfe angefleht. Die Brigade kehrte ans Ufer zurück und ging zufuß weiter. Nachdem sie die Fischannahmestelle erreicht hatte, waren es noch 3 km bis zur Siedlung, die sie fast im Laufschritt zurücklegten. Ich meine, dass meine Mama uns das Leben gerettet hat; sie hat uns irgendwie mit ihren Gebeten Signale geschickt.

Als im Frühling die Sonne wieder zu sehen war, „erblindete“ die Brigade für einige Tage, als sie das erste Mal aufs Eis hinaus ging, denn keiner von uns wußte, dass es nötig war, die Augen vor dem grellen, weißen Schnee zu schützen; ihre Augen erlitten Verbrennungen, was erhebliche Schmerzen verursachte. Bei mir hat sich bis heute lebenslänglich das linke Auge immer wieder „bemerkbar“ gemacht. Mit diesen drei kurzen Episoden beendet A.Brunner seine Erinnerungen an das Tajmyr-Gebiet“.

Zum Abschluß ihrer Tajmyrer Eindrücke schrieb seine Schwester: „... du hast die unheilbringenden Bedingungen, denen die Wolga-Deutschen, ehemaligen Baltikumsbewohner, Finnen und Juden „am Ende der Welt“ ausgesetzt waren, wahrheitsgemäß dargestellt“. Nach dem Tode des „Vaters aller Völker“ trennten sich mein Lebensweg und der meiner Schwester – ich wohne jetzt in Moskau und Erna in Deutschland“.


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