„Wer die Opfer vergißt, der wird ein zweites Mal sterben“.
G. Widder
Beide sind Deutsche aus dem Wolgagebiet, die am 24. Juni 1942 in Ust-Chantajka abgeliefert wurden. Brigitta, und später auch Alexander, arbeiteten als Fischer in der „Petri-Brigade. Und hier ihr Bericht: „Mit Eintreffen der dritten Partie Sondersiedler im September 1942 erhöhte sich die Einwohnerzahl von Ust-Chantajka auf 450 Personen. Diese Menschen wurden auf Dachböden, in Abseiten und Rumpelkammern sowie in Zelten am Ufer des Jenisej untergebracht. Um sich vor der Kälte in Sicherheit zu bringen, begannen die der Willkür des Schicksals überlassenen Menschen in vorhandene Erdniederungen Erdhütten zu graben. Die Finnen in einer Erdsenke mit einem steinalten Friedhof, Deutsche und Letten – etwas näher zum Fluß hin. Es enstanden ganze Straßenzüge mit Erdhütten. Die Brigaden, die sich aus Frauen zusammensetzten, die alle in irgendwelche Lumpen gehüllt waren, zogen Baumstämme ans höher gelegene Ufer, welche mit Baumaterialien beladene Flöße aus Igarka dorthin gebracht hatten; und die Kinder schleppten und zerrten Bodenbretter, Holzleisten, Rahmen usw. herbei.
Im Winter 1942-1943 wurde mehr als die Hälfte der Bevölkerung durch Kälte, Hunger und Skorbut in den Tod gerissen. Eltern starben, Kinder überlebten; manchmal starben auch ganze Familien aus. Die Menschen waren dermaßen geschwächt, daß sie nicht mehr die Kraft besaßen, die verwaisten Kinder aus den Erdhütten zu holen. Eine Erdhöhle wurde geräumt, und man trug die sterbenden Kinder in Körben hinaus. Die Särge wurden von zwei alten Männern angefertigt, aber natürlich kamen sie mit der Arbeit nicht nach. Auf dem „Friedhof“ wurde ein Massengrab ausgehoben; dorthin transportierten die Bestattungsbrigaden die Särge. In der Nacht nahm man die Toten heraus, damit man „die Nächsten“ hineinlegen konnte. Es kam nicht selten vor, daß Verwandte einen ihrer Verstorbenen versteckt hielten, um die ihm laut Lebensmittelkarte zustehende Brotration zu erhalten. Als der Frühling näherrückte und die Menschen anfingen, aus ihren Erdhöhlen wieder zum Vorschein zu kriechen, da waren sie schwarz vom Ruß, aufgequollen von Hungerödemen und an Skorbut erkrankt – man konnte sie überhaupt nicht wiedererkennen.
Einmal im Monat waren die Sondersiedler verpflichtet, sich beim Kommandanten der NKWD-Sonderkommandantur zu melden und registrieren zu lassen. Jedes Mal mußten wir uns von ihm anhören: „Hier bleibt für immer hier; falls ihr versucht zu fliehen – werdet ihr erschossen“. Aber wohin sollten wir denn im Hohen Norden schon laufen?“
Zu diesem Zeugenbericht der beiden Wakkers möchten wir hinzufügen, daß 1948, nachdem der Krieg bereits drei Jahre beendet war, als alle repressierten Völker die Abschaffung oder zumindest eine Lockerung ihres Repressiertendaseins erwarteten, der Kreml einen unerhörten Ukas verabschiedete: „Es wird festgelegt, daß die durch das Oberste Organ der UdSSR während des Großen Vaterländischen Krieges in entlegene Regionen der Sowjetunion durchgeführte Aussiedlung von Tschetschen, Karatschewo-Tscherkessen, Inguscheten, Balkarier, Kalmücken, Deutschen, Krim-Tataren und anderen, auch unter der besonderen Berücksichtigung der Tatsache, daß während ihrer Umsiedlung keine Fristen für die Dauer ihrer Umsiedlung genannt worden waren, für immer gilt und die genannten Personengruppen kein Recht auf Rückkehr an ihre vorherigen Wohnorte besitzen. Für eigenmächtiges Sichentfernen (Flucht) aus den Orten der Zwangsansiedlung unterliegen die Ausgesiedelten der strafrechtlichen Verfolgung und Verantwortung. Die Strafe für ein derartiges Verbrechen wird auf 20 Jahre Zwangsarbeit festgelegt. Personen, die sich des Versteckens flüchtiger Aussiedler schuldig gemacht haben oder ihnen Hilfe gewähren ..... werden mit einem Freiheitsentzug von 5 Jahren bestraft..... Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, N. Schwernik; Sekretär des Obersten Sowjets der UdSSR, A. Gorkin. Moskau, Kreml, 26. November 1948.
Wenn wir einmal annehmen, daß der „streng geheime“ Ukas des Präsidiums des
Obersten Sowjets der UdSSR über die strafrechtliche Verantwortung wegen Flucht
aus den für immer angeordneten Zwangssiedlungsorten von Personen, die während
des Großen Vaterländischen Krieges in entfernte Bezirke der Sowjetunion
ausgesiedelt wurden, und aus dem wir weiter oben ein Zitat angeführt haben, als
Dokument auf Staatsebene verfaßt wurde, so ist es jedenfalls hinreichend
fehlerhaft (s. den Anfang des Textes). Es wird darin der für Sondersiedler neue
Begriff „Ausgesiedelte“ eingeführt, der früher keine Anwendung fand. Aber das
betrifft wohl die Beamten, die den Text schrieben. Doch was ist das für ein
Inhalt !!!
Eine derartige Grausamkeit gegenüber völlig unschuldigen Menschen hatte die Welt zuvor noch nicht kennengelernt. Dabei, und das ist besonders interessant, war der Ukas eine Folge anderer, zuvor verfaßter Ukase (wie beispielsweise der vom 28. August 1941). Die zum Teil schon 7 Jahre zurücklagen und es im Jahre 1948 überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, sie zu verabschieden. Ich kann mich noch gut an jene Zeit erinnern, als man mich in der krasnojarsker Sonderkommandantur mit diesem Ukas bekannt machte und ich dies dann quittieren sollte. Ich unterschrieb es ganz ruhig, denn ich glaubte nicht an seine Realität.
In der Tat verhielt es sich so, daß ich bis zum Jahr 1956, als die Sondersiedler aus der Meldepflicht entlassen wurden, keinen einzigen Fall bestätigen kann, bei dem dieser Ukas in irgendeinem Strafverfahren zur Anwendung gelangte. Es gab lediglich einen Fall, der mir zu Ohren kam. Bei unserem Bekannten Wladimir Dering (geb. 1925) war die Mutter schwer erkrankt, und er reiste aufgrund der gebotenen Eile ohne die Erlaubnis der Sonderkommandantur von Krasnojarsk in die Stadt Kansk (250 km entfernt). Unterwegs, bei einer Kontrolle der Eisenbahn-Fahrkarten nahm der Schaffner ihn fest. W. Dering wurde zu 20 Jahren verurteilt. Aber 1953, nach Stalins Tod, wurde er unverzüglich in die Freiheit entlassen, nachdem er wegen „Flucht“ drei Jahre im Lager gesessen hatte. Um der Gerechtigkeit willen fand der genannte Ukas keine breite Anwendung, denn die Kommandanten der Sonderkommandanturen glaubten selber nicht an seine Notwendigkeit. Sie kannten „ihre Pappenheimer“, und bei geringfügigen „Übertretungen“, wenn die Sondersiedler sich gelegentlich von einem Dorf ins andere begaben, drückten sie einfach beide Augen zu.
Wie sich aus dem Gesagten schlußfolgern läßt, wollte der Kommandant in Ust-Chantajka die Menschen offensichtlich in Angst und Schrecken versetzen, in dem er ihnen „bei Flucht“ den Tod durch Erschießen versprach, der im Ukas überhaupt keine Erwähnung findet. Offenbar waren 20 Jahre Zwangsarbeit für ihn kein Todesurteil, sondern lediglich eine qualvolle Zeit, die man überleben konnte, aber er wollte nichts als den Tod. Das Nachkriegsregime im Lande setzte die Politik des „Schraubenfestziehens“ fort.
Es ist nur allzu schade, daß unsere liebe Kitja-Brigitta Wakker (Hinz), die im August 2002 in Dudinka verstarb, nicht mehr unter uns Lebenden weilt. Sie machte mehrere schwierige Operationen durch. Während unseres Aufenthalts in Dudinka sahen Kitja und ich uns im Krankenhaus – eine bedauernswerte Frau: sie konnte nur mit Hilfe ihere Augen sprechen; als sie mich und Viktoria erblickte (das erste Mal nach 60 Jahren), freute sie sich unheimlich, Tränen traten in ihre Augen, aber sagen kann sie nichts, denn in ihrer Kehle befindet sich ein Sauerstoffschlauch. Sascha (ihr Ehemann), Elsa und Lilia mit Wolodja (ihre beiden Töchter und Lilias Mann) besuchten Kitja ständig und hielten sich bei ihr auf. Als wir aus Dudinka abreisten, verabschiedeten wir uns in aller Herzlichkeit von Kitja und wünschten ihr eine baldige Genesung. Und plötzlich, zu der Zeit waren Viktoria und ich gerade in Moskau, kommt von Elsa ein Telegramm, in dem sie uns Kitjas Tod mitteilt. Unverzüglich gaben wir an ihren Ehemann Sascha folgendes Telegramm auf: Dudinka, Region Krasnojarsk, Straße des 40. Jahrestages des Sieges Nr.1, Wohnung 15, Wakker. Liebe Sascha Elsa Lilia Wolodja Söhne Irma Mischa Belmann Walentina Wladimirowna Kornejewa Olga Pawlowna Predtetschenskaja Nina Anatoljewna. Gerade erst aus Nowosibirsk abgeflogen, erfuhren wir von Kitjas Tod. Bringen unser tiefstes Mitgefühl anläßliches dieses unwiderbringlichen Verlusts zum Ausdruck Punkt Eine großartige Arbeiterin, eine im Norden bekannte Frau des öffentlichen Lebens, Patriotin des Tajmyr, Naturforscherin, studierte Tierärztin, dreifache Teilnehmerin an der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft, geehrt mit goldenen Medaillen, die in all den schweren Jahren unseren Leuten in Ust-Chantajka, Potapowo, Dudinka ihre Hilfe zur Verbesserung des Lebensstandard erwiesen hat, ein lieber guter Mensch, Mutter einer großen Familie Punkt Der Tod unserer über alles geliebten Kitja wird in den Herzen vieler Nordbewohner mit bitterer Trauer aufgenommen Punkt Wir bitten euch, uns auch symbolisch als zu den Trauergästen gehörend zu zählen, welche der lieben Kitja während der Trauerprozession das letzte Geleit geben Punkt Möge das Gedenken an Kitja, eine der ersten Mitwirkenden an der Entwicklung der Tierwelt des Hohen Nordens, viele Jahre währen Pu kt Wir werden Kitka in unserer Familie ein ewiges Andenken bewahren. Kuß und feste Umarmung Leo und Viktoria Petri 05 08 2002 Moskau.
Kein einziges Mitglied der ehemaligen „Petri“-Fischfang-Brigade ist heute noch am Leben, ab in der Erinnerung der Menschen sind sie fest verankert.