„In einem großen Holzhaus lebten zwei Brüder: mein Vater Johannes Felk mit seiner Familie (5 Kinder) und sein Bruder David Felk, ebenfalls mit seiner Familie (6 Kinder). 1929 wurden, wie zahlreiche andere Dorfbewohner auch, beide Brüder mitsamt ihren Angehörigen im Rahmen der staatlichen Kollektivisierungsmaßnahmen in die Steppe verschleppt, etwa 30 km von unsererm Großdorf Kind entfernt. Die gesamt persönliche Wirtschaft, das ganze Vieh, gingen in Kolchosbesitz über. In der Steppe fingen die Leute an, sich Häuser aus ungebrannten Lehmziegeln und Strohmischungen zu bauen. Später arbeitete unser Vater als Vogelzüchter in der Kolchose; es gab dort über 1000 Truthähne und 800 Gänse. Alle Familienmitglieder halfen ihm; auch sie befaßten sich mit Geflügelzucht. Das neu errichtete Dorf nannten die Bewohner zunächst „Kind-2“, später „Brunnengraben“, und in einem Kilometer Entfernung hieß es „Dammgraben“. Dort gab es lediglich drei Häuser, drei Familien, einen kleinen See in unmittelbarer Nähe, zwei große Weidenbäume und fünf junge Bäumchen. Das war ein Ort wie im Märchenbuch, aber nicht lange. 1934 starb Mama im Alter von 43 Jahren an Krebs. Die Schule in Brunnengraben war auf sieben Schulklassen ausgerichtet; ich beendete sie 1941. Russisch lernten wir als Fremdsprache und wir sprachen sie mir schlecht als recht. Damals war es mein Wunschtraum Lehrerin zu werden, und obwohl bereits seit dem 22. Juni der Krieg im gange war, fuhr ich dennoch Anfang August nach Marxstadt, legte mit Erfolg meine Aufnahmeprüfung am pädagogischen Technikum ab und schrieb mich dort ein. Glücklich kehrte ich nach Hause zurück, in der vollen Hoffnung, dass mein Traum in Erfüllung gehen würde.
Aber leider kam dann, am 28. August 19412, der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR heraus, der alles mit einem Schlage veränderte. Ich war damals 14 Jahre alt, und wie ich mich jetzt erinnere, war das ganze Volk in einer völlig verzweifelten Lage. Warum, weswegen und wohin wollten sie uns umsiedeln? Was war das nur für eine Tragödie! Tausende und abertausende Spione und Diversanten sollten unter uns sein? Aber wieso ist mir denn nicht ein einziger begegnet? Was soll aus unserer Ernte werden, die so sorgfältig vorbereitet wurde und sich noch auf den Feldern befindet? Alles wird nun dem Verderb ausgelifert sein – auch das Vieh! Was für einen Schaden, was für einen Verlust erleidet der Staat dadurch! Natürlich hatte keiner von uns eine Vorstellung davon, was für Pläne unsere Gebiete mit uns hätten, wie sie eine so große Anzahl Menschen unseres leidgeprüften Volkes bestrafen konnten. Am 17. September 1941 transportierten sie uns nach Sibirien ab. Hier schreibe ich nun diese Zeilen und erinnere mich an jene Zeit zurück; kalte Schauer laufen mir über den Rücken. Wie leicht haben wir Kinder damals die Sache genommen, und wie mag es wohl unseren armen Eltern zumute gewesen sein? Konnten sie überhaupt in den Nächten im Güterwaggon Ruhe finden und auch nur ein Auge zutun – aufden harten Pritschen, während der 20 Tage dauernden Fahrt? Einmal am Tag wurden für jeden eine Tasse Brühe und ein wenig Brot ausgegeben. Es gab keine Information darüber, wohin sie uns brachten.
Anfang Oktober trafen wir in Krasnojarsk ein; von dort schickten sie uns weiter in das Dorf Sosnowka, Mansker Bezirk. Hier waren wir als ungelernte Arbeiter in einer Kolchose tätig, und wenn sie uns dort gelassen hätten, dann hätten wir wohl kaum Hunger gelitten; aber bereits im Jahre 1942 verschleppte man uns ein zweites Mal – diesmal ins Tajmyr-Gebiet, zum gewerblichen Fischfang, dorthin, wo der Jenisej in die Kara-See mündet. Drei aus unserer Familie – die älteste Schwester Karoline (geb. 1913), Ida (geb. 1921) und Bruder David (geb. 1923) hatten sie noch im Juni 1942 in eine NKWD-Arbeitskolonne mobilisiert, während sie uns Sieben nun zur Anlegestelle in Krasnojarsk brachten und uns dort unter freiem Himmel am Ufer festhielten: wir sollten mit Tragen Salz auf einen Leichter verladen, und dafür erhielten wir einmal am Tag ein Täßchen Brühe und etwas Brot. Mein Vater, meine Stiefmutter, ihre Tochter Olga mit ihrem einjährigen Säugling, ich (15 Jahre alt), Irma (11), Hilda (6) und die anderen Leute sahen die ganze, um uns herum herrschende Unordnung, aber alle hatten Angst, schwiegen und schlosen ihren unerklärlichen Kummer in ihren Seelen ein.
Als sie uns schließlich auf ein Motorschiff verfrachteten, kam sogleich wieder die Ungewißheit auf: wohin würden wir fahren? Und es kam uns so vor, als führen wir in die Unendlichkeit. Da man von den Behörden nur Schlechts erwarten konnte, waren die Menschen untereiander der Meinung: „Sie werden uns wohl bis zum Meer bringen und uns dann, mitsamt dem Dampfer, versenken“. Aber das wäre ein viel zu schneller und teurer Tod gewesen, wir waren hoffnungslos unserem Untergang unter elenden Lebensbedingungen geweiht.
In der Siedlung Potapowo setzen sie unser Familie und noch sehr viele andere am nackten fer aus, als bereits die kalte Jahreszeit hereingebrochen war, ein heftiger Wind wehte und es die ersten Schneestürme gab: die Leute waren verzweifelt, sie wußten nicht wohin; und da begannen sie sich Erdhütten auszugraben, treffender gesagt - Höhlen im ewigen Frostboden. Dabei vergossen sie viele Tränen, und es gab auch Opfer. Zweiundzwanzig Höhlen wirden so in den Berg gegraben, von denen unsere die allererste in der Gegend war. Alte oder kranke Männer, Knaben jünger als 15 und Kinder (unsere Sklavenarbeiter) brachten Moos und Buschwerk aus der Tundra herbei. Es gibt keine Worte, um das unmenschliche Verhalten gegenüber den unschuldig leidenden, unglücklichen Mensche zum Ausdruck zu bringen.
Irgendwann Anfang Oktober lam aus Igarka ein Floß mit Baumaterialien angeschwommen, das sogleich mit Eis bedeckt war, und da es so tief im Wasser lag, mußten wir es entladen und alles etwas weiter nach oben ans Ufer ziehen.Die naß gewordenen, schweren Bretter und Balken – alles, was man nur irgendwie anheben konnte, wurde nach oben getragen. Ich war nicht so groß und mußte mit Papa die viel zu schwere Last auf den Schultern tragen. Papa hatte furchtbates Mitleid mit mir, denn ich war ja viel kleiner als er, so dass das meiste Gewicht auf meinem Körper lag. Während des Winters wurde das gesamte nicht eingefrorene Material von unseren Leuten in Sicherheit gebracht. Und nun, um das verbliebene Material vor dem bald einsetzenden Eisgang zu retten, mußte man am Ufer an fünf Stellen tiefe Gruben im ewigen Eis ausheben und dort große hölzerne Spulen, damit man das Floß während des Eisgangs mi Hilf von Stahltrossen zurückhalten konnte. Wie unendlich viel Mühe wurde von unserem hungrigen, nur unzureichend bekleideten Volk aufgewendet, und schon bei der allerersten Bewegung des Eises auf dem Jenisej wurde die gesamte Absperrung mit der Strömung fortgeschwemmt. Noch vor Beginndes Eisgangs hatte man um das Floß herum schmale Gräben ins Eis hineingemeißelt, um so das Holz zu retten, aber das Wasser war immer wieder gefroren. Niemand registrierte unsere harte Arbeit, und sie erwies sich als völlig nutzlos und umsonst.
Wir bauten Erdhütten und zogen mit jeweils zwei Familien ein. Unsere Nachbarn in der Hütte war die Familie Papst – vier Personen und wir drei: Papa, Irma und ich. Für die Türen und Fenster erhielten wir Rahmen; wir bekamen sogar Ziegelsteine, aber nur, um damit einen Herd zu bauen. Jung und Alt waren emsig am Werk, um ihr Leben in Sicherheit zu bringen, und dabei dachten sie in erster Linie and die kleine Kinder und die Alten, die sie vor der Kälte schützen wollten. In die Erdhütte, die wir gebaut hatten, paßten 10 Personen, und in der Mitte stand der Herd. Es herrschte eine schreckliche Enge, und es gab eine Unmenge Läuse. Tringwasser wurde aus Schnee gewonnen, Licht machten wir mit Hilfe von Holzspänen. In dieser langen Zeit der Polarnächte bekam man drei Monate lang kein Tageslicht zu sehen. Es gab weder eine Waschgelegenheit noch eine Toilette.... Eine Skorbut-Epidemie brach aus – eine schreckliche Krankheit. Zahlreiche Erdhöhlen waren schon bald leer und verlassen. Man konnte die Toten nicht bestatten, sie wurden im Schnee verscharrt.
Nach der „Bauerei“ begann man damit, eine gewerbliche Fischfang-Kolchose zu organisieren; sie erhielt wie zum Hohn den Namen „Neues Leben!“ Fritzler wurde ihr Vorsitzender, unser Mann von der Wolga, er konnte ganz gut Russisch und war sehr bemüht, uns allen zu helfen; aber bald wurde er seines Amtes enthoben und verschwand; wohin er kam und aus welchem Grund – das blieb unbekannt. Die Arbeitenden erhielten 600 Gramm Brot, Alte und Kinder jeweils 400 Gramm – und das war alles! Das Brot war schwer wie Stein. Alle wurden von Krankheiten befallen. (Erinnern Sie sich, werter Leser: selbst der Häftling im System des GULAG bekam eine merklich höhere Ration zugeteilt).
Nachdem der Jenisej eisfrei geworden war, begann der Fischfang; dazu nutzte man kleine hölzerne Ruderboote. Der Jenisej war hier mehr als 3 km breit, für uns war die ganze Situation etwas Unbekanntes, und so kamen bei Stürmen und hohem Wellengang Tag für Tag Menschen ums Leben. Später fing man dann an, mit großen Schleppnetzen zu fischen; dazu wurden am linken Ufer des Jenisej kleine Bretterbuden mit einem Eisenofen und Pritschen errichtet. Ein Schleppnetz wurde für insgesamt drei Brigaden mit je 7 Mann zugeteilt – alles noch Kinder, ab 15 Jahren und etwas älter. Das Schleppnetz trocknete fast nie; Tag und Nacht, bei gutem und bei schlechten Wetter – wir wurden ständig kontrolliert, damit wir das Wasser nur nicht mit einem falsch aufgestellten Netz „durchseihten“. Mit Ausnahme unseres Kolchos-Vorsitzenden Fritzler interessierte sich niemand dafür zu erfahren, weshalb bei unserem Schleppnetz das eigentliche Netz nicht richtig aufgestellt war. Immer wenn wir die Vorrichtung aus dem Wasser zogen, dann wickelte sich das Netz, je näher wir dem Ufer kamen, immer stärker um die Schwimmer und Gewichte, so dass der große Fangkorb, in dem sich die hineingeschwommenen Fische sammeln sollten, sich nicht vollständig schloß und alle Fische durch die obere Öffnung des Schleppnetzes wieder herausschwimmen konnten. Fritzler versuchte uns irgendwie zu helfen, aber er wurde einfach still und heimlich von seinem Posten entfernt, ohne dass man den Kolchosarbeitern eine Erklärung dafür gab.
Besonders schlimm war für uns im zweiten Winter 1943-1944 der Skorbut, der die Menschen erbarmungslos dahinraffte. Oft gab es kein Geld, um uns die spärliche Ration Brot zu kaufen. Deswegen wagte unsere älteste Schwester Karoline, die in Karaganda im Schacht arbeitete, es, Geld für uns zu sammeln und uns per Post 500 Rubel zuzuschicken. Wir warteten händeringend darauf, aber irgendein übel gesinnter Mensch riß siich das Geld unter den Nagel, so dass wir es nie zu sehen bekamen. Wer nie waren Hunger am eigenen Leib erfahren hat, kann sich nicht vorstellen, wie schlimm und schmerzlich das ist. Nachdem uns die Stiefmutter mit den Kindern verlassen hatte, waren wir in unserer Erdhütte noch sieben Personen (die vier Mitglieder der Familie Papst und wir drei – Papa, Irma und ich).
Papa konnte bereits 1943 nicht mehr arbeiten. Acht Monate lang lag er krank in der Erdhütte, ohne Behandlung, ohne Licht. Im April 1944 starb er. Er ließ uns beiden Schwesterchen (12 und 16 Jahre alt) allein zurück ... Gott sei Dank, dass uns die älteste Schwester Ida ausfindig machte und uns aufforderte, zu ihre zu kommen – noch 400 km weiter nördlich, auf die Halbinsel Tajmyr, in die Siedlung Karaul, wo bereits die Bucht zur Kara-See anfängt.
1944, nach dem Tode unseres geliebten Papas, erhielten Irma und ich die Erlaubnis vo Potapowo nach Karaul zur Ida zu fahren, die mit einem zwanzig Jahre älteren Russen verheiratet war, der bei der Fischerei-Aufsichtsbehörde tätig war. Idas Mann besaß 10 eigene Schlittenhunde, um die ich mich nun sorgte, die ich fütterte; ich fing an, bei ihnen als Treiber zu arbeiten. Ich mochte die Hunde, weil sie so großartige Arbeit leisteten und zärtlich waren. Ich arbeitete mehr als ein Jahr bei ihm und war gewissenhaft und folgsam, bis er damit begann, mich als „Faschistin“ zu beschimpfen. Da gab ich meine Arbeit bei ihm auf und fand eine neue Tätigkeit als Reinmachefrau in der Schule, wo ich bei einer Frau mit drei Kindern unterkam. Mein ganzes Leben lang fand ich immer schnell Kontakt zu anderen Menschen. Als ich in der Schule arbeitete, mochte ich sehr gern zeichnen; ich fing an in der Schule Wanderbanner, Losungen für die Fest- und Feiertage sowie Plakate zu malen. Mein „künstlerisches Schaffen“ wurde sehr geschätzt, und man versetzte mich als Rechnungsführerin in die Buchhaltung der Bezirksabteilung für Volksbildung. Hier entwickelte ich mich mit Gottes Hilfe nicht tageweise, sondern stündlich voran; ich hatte keine russische Bildung genossen, aber ich las nun viel auf Russisch, schaute mir aufmerksam an, wie jedes Wort geschrieben wurde. Nach zwei Jahren beendete ich den eineinhalb Jahre dauernden Moskauer Fernkurs zur Höherqualifizierung von Buchhaltern im Medizinwesen; in diesemZweig arbeitete ich anschließend insgesamt 35 Jahre - bis zur Rente: als Ober- und Hauptbuchhalterin bei Gesundheitsbehörden.
Auf einem bis heute erhaltenen Foto trage ich Kleidung, wie sie im Nordpolargebiet üblich ist: eine Art Unterziehmantel, innen aus Fell und Wolle, mit Kapuze und angenähten Fäustlingen aus Rentierfell und Rentierstiefel; ich sitze in der ersten Reihe, rechts am Bildrand. In so warmer Kleidung übernachtete ich einmal mit dem Hundegespann bei heftigem Schneesturm unter freiem Himmel auf dem Eis des Jenisej. Ich war damals 17 Jahre alt und beförderte Fisch von der Siedlung Munguj (45 km von Karaul entfernt). Wie ich ebreits sagte, geriet ich also in einen Schneesturm; man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Ich hatte Angst, dass ich auf irgendeinen Nebenarm des Jenisej geraten könnte, und so blieb ich stehen, um an Ort und Stelle zu übernachten. Die Hunde lagen alle um mich herum, so dass ich gar nicht einschlafen konnte, und als es am Morgen hell wurde stellte sich heraus, dass ich mich gar nicht weit von der Siedlung „Tolstyj Nos“ befand, die 7 km von Karaul entfernt liegt.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es in Karaul viele politische Gefangene nach § 58 des Strafgesetzes der RSFSR gab, die zu ihrer Zeit mit Stalin zusammengearbeitet hatten. Das waren kluge Leute. Mit einem von ihnen, er hieß mit Nachnamen Lasarew und war ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Allrussichen Komunistischen Partei (Bolschewiken), unterhielt ich mich oft und grämte mich immer darüber, dass ich nicht vernünftig zur Schule gehen konnte; was sollte denn ohne Ausbildung aus mit werden; ich war doch schon 17 Jahre alt. Da gab er mir den folgenden lehrreichen Rat: „Du, Maria, vermagst immer Gut und Böse voneinander zu unterscheiden; nimm all das Gute und verbanne alles Schlechte – dafür braucht man kein abgeschlossenes Universitätsstudium -, und du wirst ein guter Mensch werden“. Später, als wir den Norden bereits verlassen hatten, schribe ich immer dann, wenn ich einen neuen Arbeitsplatz antrat, in meine autobiographischen Daten, dass ich 10 Schulklassen in russischer Sprache absolviert hätte.
Es ist sehr schwer seine Erinnerungen aufzuschreiben.Aber Gott sieht, dass ichdie Wahrheit geschriebenen habe, mit der Hoffnung, dass auch meine Erinnerungen die weißen Flecken in der Tragödie der Rußland-Deutschen im Tajmyr-Gebiet ausfüllen können. In der Erinnerung an unser Leben dort sind meine Geschwister Irma und Jakob Schmal geblieben.