„Man muß die Russen zur Achtung des Eigentums erziehen“.
F.J. Lefort (1655-1699), Admiral unter Peter I.
Jurij bewahrte die Jahre der Repressionen mittels detaillierter Tagebuch-Aufzeichnungen über alle Ereignisse und Eindrücke in seiner Erinnerung. Es ist das Tagebuch eines Mannes, der nicht in der UdSSR geboren wurde; sein Leben und seine Eindrücke von der für ihn neuen Welt, der Natur, den Menschen und Behörden sind besonders für uns interessant, wenn wir den historischen Prozeß bewerten, in den er geraten war. Hier nun also die Aussagen aus Jurijs Tagebuch.
„!0.06.42. Aus der Ortschaft Galanino fuhren wir mit dem Raddampfer „Maria Uljanowa“ auf dem Jenisej bis zum Flußbahnhof Krasnojarsk; von dort ging es weiter ans rechte Flußufer, in den Bezirk der Bahnstation „Jenisej“. Wir waren erschüttet von dem Bild, das sich uns bot: ein Meer von Menschen – Sklaven, die bereits mehrere Wochen unter freiem Himmel auf ihr weiteres Schicksal gewartet hatten. Einen derart seltenen Anblick hatte ich zuvor noch nie wahrgenommen.
11.06.42. Am Abend versammelte sich an Deck des Leichters N° 15, der gegenüber dem krasnojarsker Flußbahnhof vor Anker lag, ein großer lettischer Chor, der über der verwunderten Stadt vierstimmig lettische Lieder erklingen ließ.
12.06.42. Die Schiffskarawane, die sich aus dem größten der Leichter (N° 15) und sieben kleineren sowie dem Bugsierschiff „W. Kuybyschew an der Spitze formiert hatte, bewegte sich mit dem repressierten Volk an Bord von Krasnojarsk den Jenisej weiter flußabwärts, während es mit dem Tuten seiner Schiffssirene die umliegende Gegend erfüllte. Dies war die erste Partie Menschen, die in den äußersten Norden des Tajmyr-Gebiets geschickt wurde.
13.06.42. Die Karawane warf ihre Anker in der Nähe von Jenisejsk. Die Letten befanden sich mit ihrem Chor alle auf dem Leichter N° 15. Abend für Abend konnte man am Ufer des mächtigen Flußes den Stimmen dieses Chors „lauschen“.
22.06.42. Stadt Igarka. Die gesamte Karawane wird desinfiziert. Die Letten feierten ihre Sonnenwendfeier, ihre Jani-Ligo-Nacht (ligo = sich wiegen; Anm. d. Übers.), und sie „wiegten sich“ die ganze Nacht hindurch. In Kurejka begann der Polartag – die Sonne ging nicht mehr unter.
24.06.42. Die kleine Siedlung Ust-Chantajka. Die Karawane liegt vor Anker. Das Abladen der ersten Partie Menschen, die im Tajmyr-Gebiet abgeliefert werden sollen, ist in vollem Gange. Insgesamt 105 Leute gehen an Land, darunter auch unsere Familie: Mama Natalia Viktorowna (geb. 1896), meine Schwester Ruta und ich – die Jankowitschs.
04.07.42. Unsere Familie wird in einer hundert Jahre alten Erdhöhle am steilen Jenisej-Ufer untergebracht, wo jetzt die medizinische Betreuungsstelle eingerichtet werden soll. Mama haben sie in ihrer Eigenschaft als Ärztin noch auf dem Leichter zur Leiterin der medizinischen Betreuungsstelle in der Siedlung ernannt. Aus Dudinka wurden mit einem Kahn Fischereigeräte und Fischerboote abgeliefert.
09.07.42. Heute findet die erste Lehr- und Probefahrt zum linken sandigen Ufer des Jenisej statt, um dort mit dem 500-Meter-Netz zu fischen. Unser Instruktor war Dmitrij Bogdanow aus der Fischfabrik Dudinka. Das Auswerfen des Netzes war erfolglos und die Fischausbeute gering – sie reichte lediglich, um die Fischer (8 Mann) für einen Tag mit Nahrung zu versorgen.
10.07.42. Abfahrt zum richtigen Fischen; Übernachtung mit einer schwarzen Wolke von Mücken und Stechfliegen in einer winzigen Holzbude mit zweistöckigen Pritschen und einem Eisenofen.
11.07.42. Wir sind zum Fischen hinausgefahren. Am Morgen begann auf dem Fluß ein heftiger Sturm. In aller Eile bringen wir Boote und Fässer in Sicherheit.
15.07.42. Wir sind zum Fischen hinausgefahren. Jetzt bläst bereits den vierten Tag ein starker Nordwind. Auf dem Fluß türmen sich die tanzenden Schaumkronen. Fischen ist unmöglich. Die ganze Kompliziertheit unserer Lage besteht darin, daß unsere gesamte Brigade bei der Abfahrt aus der Siedlung zwischen den großen Steinen ihre Bündel mit Proviant zurückgelassen hat. Und nun sind uns nach zwei Tagen die Fische ausgegangen, und Brot haben wir auch keines. Da beschloß Dmitrij Bogdanow mit drei Freiwilligen in die Siedlung zu fahren, um Brot zu holen (7 km entfernt, am anderen Ufer gelegen). Es fanden sich drei Männer: er selbst, ich und Leo Petri. Er stand am Steuerrad, Leo und ich saßen an den Rudern. In der Siedlung hatte man sich um uns schon Sorgen gemacht, und als als die Bewohner in der Mitte des tosenden Flußes unser Boot entdeckten – rannten alle ans Ufer. Alles fand sein gutes Ende. Zwei Stunden später, nachdem wir die gewünschten Lebensmittel erhalten hatten, fuhr unser Boot mit zwei Mann Besatzung wieder zurück; diesmal ohne mich, denn ich litt an einer schweren Darmerkrankung. Der Sturm hatte inzwischen merklich nachgelassen.
26.08.42. Ust-Chantajka. Zu den bereits 105 zuvor eingetroffenen Meschen wurden weitere 330 an Land gesetzt, vorwiegend Deutsche sowie 14 Letten aus Sigulda in Latgalien. Ich war empört über die Behörden, daß man die Leute so spät hierher gebracht hatte, und dazu noch mit kleinen Kindern. Es war ein gewaltiger Unterschied zwischen den Menschen aus dem Westen und denen aus der Union sichtbar: letztere, vor allen Dingen die Deutschen, besitzen Stiefel, Wattejacken, Jacken im Matrosenschnitt, während die Westler Stiefeletten, Seidenkleider und leichte Überjacken trugen. Hier zeigte sich die Umsicht und Vorsorge der Sowjetmenschen.
19.09.42. Ust-Chantajka. Erneut hat man uns eine Partie Sklaven der Sowjet-Behörden (135 Personen) zugestellt, unter ihnen 16 Letten mit Kindern. Auf dem Dampfer hat Mama ihre Freundin Skudra mit ihren drei Töchtern entdeckt. Sie wurden aber noch weiter in den Norden gebracht. Nun ist uns bekannt, daß man sie vorübergehend zum Überwintern in der Nähe von Ust-Port abgeladen und dann im Frühjahr 1943 auf dem Seewege, um die Halbinsel Tajmyr herum, an die Mündung des Flusses Chantajka gebracht hat.
20.09.42. Ust-Chantajka. Vier Bärtige sind mit einem Floß eingetroffen. Es stellte sich heraus, daß sie einer Expedition der Akademie der Wissenschaften der UdSSR aus Leningrad angehörten. Man hatte sie bereits im Frühling 1941 mitten in der Tundra abgesetzt, um dort die ganze Umgebung des Chantaika-Sees zu besichtigen und zu untersuchen. Ihr Funker war ertrunken. Zwei von ihnen zeigten sich äußerst musikalisch, und so sangen wir abends P.I. Tschaikowskys Symphonien.
Ich fuhr weiter zum Fischen hinaus, obwohl ich an Bauchgeschwüren litt; wir haben kein vernünftiges Schuhwerk. Ich helfe den Letten beim Bau von Erdhütten am Ufer des Flüßchens.
17.10.42. Ust-Chantajka. Mit dem letzten Kahn kehrte Mama aus Dudinka zurück. Der Jenisej war bereits mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, die unablässig weiter mit der Strömung flußabwärts kroch. Am 14.10.42 konnte das Boot mit den Lebensmitteln wegen des Eises schon nicht mehr am Ufer festmachen, und wir mußten, in unseren Fischerbooten sitzend, eine Schneise ins Eis schlagen, damit der Kahn hindurchfahren konnte. Alle Deutschen hatten sich warm in ihre von Zuhause mitgebrachten Sachen eingehüllt, während die Letten in ihrer Seidenkleidung herumliefen. Man brachte uns Pelzstiefel. Einige Letten erhielten ebenfalls welche; sie beschlossen sie bis zum Frühjahr zu verwahren, wenn man uns zurück nach Riga bringen würde – und dort würden wir dann in Formation durch die Straßen gehen (naiv waren die Leute – denn nur wenige von ihnen gelangten erst viele Jahre später dorthin).