Zeugenbericht aus dem Museumsboten des Tajmyrer Heimatkunde-Museums (Ausgabe
1,
Stadt Dudinka, 2001), in dem die Direktorin des Museums – O.P. Kornejewa – und
die Leiterin der Abteilung für Geschichte – N.A. Predtetschenskaja über
Archivangaben und die Erinnerungen von Augenzeugen der Tragödie im Tajmyr-Gebiet
in den 1940er Jahren berichten.
Im Tajmyrer Staatsarchiv wird ein schriftlicher Bericht der Ärztin Obtschinnikowa verwahrt, der nach der im August 1943 durchgeführten medizinischen Untersuchung des Sonderkontingents im Tajmyr-Gebiet verfaßt wurde. Die Gründe für die hohe Sterblichkeitsrate lagen ihrer Meinung nach darin, dass die Menschen weder eine Behausung noch warme Kleidung besaßen; ferner herrschte Hunger, sie waren nicht an das Klima gewöhnt und es brachen epidemische Erkrankungen aus. Den ersten Polarwinter 1942-43, der für sie am allerschlimmsten war, erinnern die Sondersiedler als Alptraum. Särge gehörten praktisch zum Inventar, man benutzte sie um die Toten von Zuhause bis in ihre Schneegrab zu tragen ... Es gab keine Bretter, die Menschen waren kraft- und willenlos. Danach wurden die Leichen zu Stapeln aufgeschichtet. Deutsche, Letten, Litauer, Finnen und Ukrainer, Kinder Frauen und alte Leute waren vor Kälte erstarrt. Zu den Schlußfolgerungen der inspizierenden Ärztin und den Zeugenaussagen der Überlebenden kann man nur ergänzend sagen, dass sich die Sondersiedler in Ust-Chantajka und Potapowo in genau einer solchen Lage befanden.
Ferner teilt N.A. Predtetschenskaja mit, dass „im ersten Winter 1942-43 der ortsansässige Ewenke – N. Kuropatow – zu einer verhungernden Frau kam. Als er den erbärmlichen Zustand der Frau sah, schlug er vor, ihre Tochter mitzunehmen. Die Mutter war einverstanden. Die kleine Maria hatte Glück. Sie überlebte. Der neue Vater verhielt sich ihr gegenüber liebevoll und kümmerte sich um sie. Der betreffende Rentierzüchter ist schon lange nicht mehr am Leben, aber die Menschen, die in dieser unheilvollen Zeit ins Tajmyr-Gebiet verschleppt wurden, haben ihn bis heute in guter Erinnerung behalten“. Der ehemalige Häftling W. Pirz gestand, daß die Sonderansiedlung für ihn eine viel schlimmere Bestrafung darstellte, als der GULAG. Im Tajmyr-Gebiet mußte man unter der Aufsicht der Sonderkommandantur arbeiten und am eigenen Leib alle erdenklichen Entbehrungen erfahren, die auf das Los der Sondersiedler entfielen, welche in den äußersten Norden verschleppt worden waren. Im Lager hatte der Gefangene immerhin ein Dach über dem Kopf, er besaß Kleidung, es gab eine Heizung und dreimal am Tag eine Lebensmittelration. All das bekam die große Masse der Sondersiedler nicht. Für Frieda Muss, die nach Potapowo geriet, stehen die schwerwiegendsten Erinnerungen mit dem April des Jahres 1943 in Zusammenhang, als in ihrer Familie, im Laufe eines einzigen Monats, ein Mitglied nach dem anderen verstarb – zuerst die Mutter, dann ihre zwei Brüder und schließlich die Schwäegerin mit ihrem Kind. In der Siedlung Nikandrowsk im Ust-Jenisejsker Bezirk, schieden, wie Maria Zwetich, Einwohnern der Siedlung Ust-Port, berichtet, von 56 Menschen 11 bereits im ersten Winter aus dem Leben. Besonders schlimm war die Situation für alleinstehende Personen und verwaiste Kinder, die später in Kinderheimen und Waldschulen untergebracht wurden.
„Dem Wesen nach waren wir aus dem Leben gestrichen, ausgelöscht, denn für diejenigen, die in der Heimat blieben, galten die Sondersiedler als verschollen“, erinnert sich G. Kroders. „Es ist schwer die richtigen Worte zu finden, um jene Leiden, Erniedrigungen, Kränkungen und den an uns begangenen Verrat, sowohl in moralischer als auch in physischer Hinsicht, zu vermitteln, alles, was wir unter der Aufsicht der Sonderkommandantur im Hohen Norden durchmachen mußten“, - sagte L. Loch in seiner Rede auf dem 1. Kongreß der Deutschen in Moskau im Oktober 1991 mit Bitterkeit und Schmerz in der Stimme – und er sprach damit im Namen aller Wolgadeutschen.