Geboren wurde ich im Bezirk Unterwalden, ASSR der Wolgadeutschen. – Das Unglück ereilte unser Haus im Jahre 1938, als sie den Vater verhafteten. Bis heute ist uns über sein weiteres Schicksal nichts bekannt. In der Familie waren 8 Kinder. Auf dem Weg nach Sibirien wurde an einer Bahnstation versehentlich ein Waggon abgekuppelt und an einen Zug nach Kasachstan angehängt. In diesem Waggon befanden sich meine älteren Schwestern. Viele Jahre später, als wir einander endlich wiedergefunden hatten, erfuhr ich, dass der Ehemann einer der beiden Schwestern in einer Arbeitskolonne des NKWD ums Leben gekommen war. Ins Tajmyr-Gebiet kam ich ganz allein. Zwei Schwestern lebten im Turuchansker Bezirk, und Mama befand sich mit den kleineren Kindern in Sibirien. 1942 wurde eine Gruppe Sondersiedler an der Fischfang-Station Lajda im Ust-Jenisejsker Bezirk abgesetzt. Wir mußten uns den Beruf des Fischers aneignen. Zuhause an der Wolga war ich als Melkerin tätig gewesen; deswegen machte mir die neue Arbeit große Mühe. Unsere ganze Brigade, insgesamt 14 Personen, lebte in einem einzigen Zimmer; wir schliefen auf zweistöckigen Pritschen. In Lajda lernte ich meinen zukünftigen Ehemann kennen – August Jakowlewitsch. Nach dem Krieg zogen wir in die Siedlung Ust-Port um, wo wir in der Konservenfabrik arbeiteten. Und so leben wir auch heute noch in dieser Siedlung. Wir haben drei Kinder und sechs Enkelkinder großgezogen. Wir wären schon gern an die Wolga zurückgegangen, aber die 50 Jahre hier lassen sich auch nicht so leicht aus dem Leben verbannen.....
Aus den weiter oben beschriebenen Geschichten, die sich im Laufe von 2-3 Jahren ereigneten, erkennen wir Fälle, die in engem Zusammenhang mit dem Einfluß konkreter Abläufe in der Natur des Hohen Nordens stehen. Es ist wichtig, dies ausdrücklich anzumerken, um die Existenzbedingungen, die über Tod oder Leben der Menschen im Polargebiet entscheiden, zu verstehen und richtig zu bewerten. Ich möchte zwei Beispiele anführen, von denen ich eines bereits weiter oben erwähnt habe – die Rettung des Mädchens Maria durch den ewenkischen Rentierzüchter Kuropatow.
Zweites Beispiel: Eines Morgens, im Winter 1947, gehe ich in Dudinka zur Arbeit in der Lagerzone. Ich nähere mich dem Wachhäuschen, zeige meinen Passierschein, und da kommen mir durch das Tor Häftlingsbrigaden entgegen, die auf dem Weg zu ihren Hilfsarbeiten sind, genauer gesagt – zum Bau einer Schiffsanlegestelle am Ufer des Jenisej: aus Rundhölzern sollen sie dort Buhnen zusammenbauen, die dann mit Steinen gefüllt und in der warmen Jahreszeit mit Beton ausgegossen werden. Es war eine schwere Arbeit, und dazu noch an einem Ort, an dem man Wind und Frost ganz besonders ausgesetzt war – völlig ungeeignet für „Todgeweihte“. Und plötzlich sehe ich – alle Brigaden gehen an dem gefroren Körper eines toten Mannes vorbei, der in weißer Unterwäsche mit roten Flecken auf dem Hemd daliegt. Ich hielt an, aber der Wachmann brüllte: „ Geh’ weiter!“ – In unserer Abteilung für Wassertransport versammelten sich alle Häftlinge und erörterten den Vorfall, über den man seit dem Morgen mittels Lautsprecher folgendes mitgeteilt hatte. Eine Woche zuvor war aus unserer Lagerzone ein Gefangener geflohen. Vor drei Tagen war er im 40 km weiter flußaufwärts von Dudinka befindlichen Nikolskoje aufgetaucht. Übrigens, am Jenisej galt ein Gesetz, nach dem alle Bewohner der Siedlungen verpflichtet waren, über jeden auftauchenden „Fremden“ sofort die Verwaltung zu unterrichten. Zur Festnahme des Entflohenen wurden zwei bewaffnete operative Mitarbeiter auf Skiern ausgeschickt, die den zu Inhaftierenden am nächsten Morgen im Lager Dudinka abliefern sollten. Aber am Morgen wurde einer der Männer von einem Unglück heimgesucht – er bekam heftige Bauchschmerzen. Da begleitete der andere operative Mitarbeiter, obwohl er auf diese Weise die Dienstanweisungen mißachtete (denn einen Häftling mußten mindestens zwei Wachleute beaufsichtigen), den Gefangenen alleine. Unterwegs, wie das im Hohen Norden gelegentlich zu sein pflegt, kam ein gewaltiger Schneesturm auf, ein Tag nördlich des Polarkreises ist nur kurz, und so beschloß der operative Mitarbeiter sich ein wenig aufzuwärmen und auf halbem Wege in einer Fischerhütte Rast zu halten, in der sich ein Vorrat an Brennholz, eine Axt, Streichhölzer und Salz („das Gesetz der Tundra“) fanden. Als der Schneesturm begann, begriff der erkrankte Mitarbeiter, dass es besser war, all seine Kräfte zusammenzunehmen und den beiden hinterher zu gehen. Als es dunkelte, ließ das Schneetreiben ein wenig nach und er gelangte, ohne vom Weg abgekommen zu sein, zu der kleinen Fischerhütte. Er öffnete die Tür und sah folgendes Bild: in der Ecke liegt, blutüberströmt, mit eingeschlagenem Schädel und ohne Oberbekleidung sein Kollege; seine Waffe ist weg, in der Hütte ist es noch warm, im Ofen ist die Kohle noch nicht vollständig verglüht. Der Körper des Toten ist noch nicht völlig erkaltet, das heißt, der Mord hat erst vor kurzem stattgefunden. Ohne Zeit zu verlieren machte sich der zweite Mitarbeiter auf den Weg, um den Mörder zu suchen. Er holte ihn ein, als bereits die ersten Lichter von Dudinka in der Ferne aufleuchteten. Aus seiner Pistole erschoß er „beim Fluchtversuch“ am Holzeingschlagplatz den Mörder, der offenbar in Armeekleidung die Absicht gehabt hatte, unbemerkt in der zehntausend Einwohner zählenden Stadt Dudinka unterzutauchen.
Wie ereignete sich der Mord an dem operativen Mitarbeiter in der Fischerkate? Die Ermittlungsrichter kamen zu folgendem Schluß: der Operatiwnik hatte sich in eine Ecke gesetzt und dem Arrestanten befohlen, den Ofen einzuheizen. Nachdem der Wachmann seinen durchgefrorenen Körper erwärmt hatte, wurde er müde und schlief ein, und der Flüchtling erschlug ihn mit der Axt, als er merkte, dass diese Situation ihm die Möglichkeit gab, mit Leichtigkeit seine Freiheit wieder zu erlangen. Anschließend zog er die Armeejacke, die Hosen und Filzstiefel seines Wachbegleiters an, ließ seine Häftlingskleidung zurück und machte sich mit den Skiern in Richtung Dudinka auf. Die Leichen von Mördern und Flüchtlingen zur öffentlichen Ansicht für die vorbeigehenden Häftlingsbrigaden in Hemd und Unterhose an den Toren der Lagerzone liegen zu lassen, ist meiner Meinung nach nichts Ungewöhnliches, und es ist als Erziehungsmethode der Lagerverwaltung des Norilsker Arbeits- und Erziehungslagers richtig gewesen.
Der vorliegende Mord an dem operativen Mitarbeiter ereignete sich unter den Bedingungen einer kritischen Situation, die der Verbrecher für sich gewählt hatte. Die kritische Situation entstand in seinen Gedankengängen, als er den schlafenden Operatiwnik sah; er mußte eine Wahl treffen: den Mann töten (negative Situation) – oder ihn nicht töten (positive Situation, allerdings mit Haftverlängerung wegen seines Fluchtversuchs). Er wählte die erste Möglichkeit – zu töten. Eine kritische Situation besitzt stets zwei Seiten – positiv „+“ oder negativ „-„. Das hängt damit zusammen, dass bei einer kritischen Lage immer der Faktor Zeit anwesend ist (man muß sich innerhalb eines Augenblicks entscheiden, sonst ändert sich die Situation – deswegen ist sie ja auch kritisch).
Im ersten Beispiel befand sich die sterbende Frau, nachdem Rentierzüchter Kuropatow ihr den Vorschlag gemacht hatte, ihre kleine Tochter Maria mitzunehmen und auf diese Weise vor dem Hunger- und Kältetod zu retten, ebenfalls in einer Zwangslage: sie selbst kann das Kindchen nicht retten (negative Lage), aber sie kann es, indem sie es einem fremden, gutherzigen Menschen mitgibt (positive Lage),und so entscheidet sich die verzweifelte Mutter für die zweite Variante. Was verallgemeinern diese beiden angeführten Beispiele? Sie sind durch die grausame Natur in der Polarregion miteinander vereint, denn in beiden Fällen wird die Entscheidung eines Menschen in einer kritischen Situation getroffen, unabhängig von dem Vorzeichen „-„ oder „+“, wenngleich es so war, als ob die Natur selbst die Bedingungen für die Enstehung gegensetzlicher Situationen geschaffen hätte. Um einen Menschen tatsächlich in eine kritische Lage zu bringen, sind sowohl innere (zum Beispiel Krankheit), als auch äußere (beispielsweise die Umwelt) als Faktoren maßgeblich. In beiden Beispielen entstand die Zwangslage beim Menschen als Folge eines auf ihn einwirkenden äußeren Faktors – der Umwelt, genauer gesagt: der grausamen Natur des Hohen Nordens. Die Folgerichtigkeit der Entstehung von kritischen Punkten, aus denen die kritische Situation entstand, baute sich im ersten Fall nach folgendem Schema auf: Ankunft in Ust-Chantajka, Kälte; Bau einer Erdhütte; Hunger – Krankheit; verzweifelte Lage, Frost in der Erdhöhle; der Tod des Kindes ist vorherbestimmt; Auftauchen Kuropatows – Zwangslage – die Mutter ist bereit, ihr Kind wegzugeben „+“ - Kuropatow nimmt das Kind und rettet es so vor dem Erfrieren.
Im zweiten Beispiel entstand die kritische Situation konsequenterweise aus folgenden Ausgangspunkten: Flucht; Festnahme; Wachbegleitung aus der Siedlung Nikolskoje bis zur Fischerhütte, Kälte – Schneesturm; Wärme in der Kate; Schlaf des operativen Mitarbeiters; kritische Situation – Mord an dem schlafenden Wachmann; vorgetäuschte Freiheit – Erschießen des Flüchtlings. Wie wir sehen, ist ein und derselbe Faktor in beiden Fällen der Grund für die Zwangslage – die tödlich gefährliche Umwelt des Polargebiets, wenn der Mensch nicht bereit ist oder nicht die Möglichkeit besitzt, sich ihr zu widersetzen; dieser Faktor führte im ersten Beispiel zum Untergang der Frau in der gefrorenen Erdhütte, und im zweiten – ebenfalls zum Tode eines Menschen, allerdings während der Erfüllung seiner Pflicht. In beiden Fällen spielte die Natur des Polargebiets eine wesentliche Rolle, denn der Mensch stand ganz unter ihrem Einfluß und ihrer Macht.
In analogen Zwangslagen fanden sich durch den Willen des Kreml in den Jahren 1942-1948 auch die Sondersiedler, die durch die Macht der Polarnatur ihrem Untergang geweiht waren.