Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussage des Lewin Loch (1926-1996), verdienter Arbeiter der Fischwirtschaft Rußlands, Delegat des Kongresses der Deutschen aus der ehemaligen UdSSR, Abgeordneter des nationalen Tajmyrer Rats der Volksdeutschen.

(Auszug aus einem Artikel von L. Loch „Die Tragödie wird sich nicht wiederholen,
wenn man sich ihrer erinnert ...“ in der Zeitung „Tajmyr“ vom 28. August 1988).

„Es ist nicht schrecklich alt zu werden, sondern zu veralten“. Prinzip.

„Meine Erzählung muß mit dem Zeitpunkt beginnen, als die stalinistischen Repressionen in mein Leben hereinbrachen. Das war am 17. Juni 1938, als sie meinen Vater, Schmied am der Motoren- und Traktoren-Station, direkt am Schmiedeherd verhafteten. Er geriet in ein Konzentrationslager der Verwaltung für den Bau Nischnij Tagils. Erst 19 Jahre später konnte ich ihn im Tajmyr-Gebiet wiedersehen. Uns war der Stempel „Familienmitglieder eines Volksfeindes“ aufgedrückt worden. Als 15-jähriger arbeitete ich in Esaulowo, Region Krasnojarsk, als Pferdepfleger in einer Kolchose, als Schuhmacher und bei der Holzbeschaffung in der Taiga, am Fluß Mana. Vor der Verschickung ins Polargebiet mußten sich die Sondersiedler vor dem Dorfrat versammeln. Dann nahm der Kolchos-Vorsitzende Timofejew mit seinem Gefolge den Leuten alles weg, was ihm in den Sinn kam (Kleidung, Schuhe, Geschirr, Inventar ...),, wobei er verkündete, daß diese ganzen Dinge nicht nötig seien, denn man würde sie lediglich für drei Monate fortschicken. Eine derartige Willkür hatte niemand erwartet. Abtransportiert wurden sie alle in den Frachträumen von Leichtern und Lastkähnen – unter Aufsicht. Es gab insgesamt zwei Karawanen mit jeweils 8 Schiffen und den beiden Bugsierschiffen „Molotow“ und „Kalinin“. Unsere Karawane traf am 28. Juni 1942 in Dudinka ein, wo man anfing die Leute zu verteilen. Ein Teil der Familien, darunter auch unsere, hatte das Glück nach Ust-Port zu kommen. Dort schickte man uns von der Siedlung zur Fischfang-Station „Chetskije Peski“. Das liegt am Jenisej, 18 km weiter südlich von Ust-Port. Wir wurden im blanken Sand abgesetzt. Wir fanden uns auf einer Insel wieder, die im Frühjahr bei Hochwasser überschwemmt wird. Davon berichtete uns ein mit seinen Rentieren vorbeiziehender ewenkischer Ureinwohner. Er präzisierte die Angaben sogar noch: ich werdet alle vom Eisgang mit fortgerissen werden und umkommen. Später wurden wir auf verschiedene Siedlungen verteilt. Sie gaben uns weder Baumaterial noch Werkzeuge. Wir mußten ohne jeglichen Schutz vor Regen und Mücken auskommen. Gerettet wurden wir nur dadurch, daß unter uns zwei Alte lebten, die sich mit dem Bauhandwerk auskannten. Sie fanden ein havariertes Floß, nahmen die Hölzer, gruben sie als Pfosten in die Erde ein, stellten einen zweireihigen Flechtzaun her und schütteten den Raum zwischen den Stäben mit Sand zu. Sie gruben sich in den Boden ein, um so irgendwie ihre Überwinterung sicherzustellen. Es gab keine Lampen, keine Laternen; den Winter verbrachten sie mit Kienspänen für die Beleuchtung und mit dem Gestrüpp von Erlen und Purpurweiden zum Heizen.

In Chetskije Peski fingen wir Fisch unter der Leitung von spezialisierten Brigadeführern, die extra aus Astrachan hierher mobilisiert worden waren, um die Sondersiedler zu unterweisen.
Im Sommer fischten wir mit ausgeworfenen, 800 m langen Schleppnetzen, die an der Flügelseite bis zu 18 m hoch waren. Eine Schickt bestand aus 16 Mann (Frauen und Halbwüchsigen). Nach 12-stündiger Arbeit wurde die Ausbeute mit Booten in der Konservenfabrik in Ust-Port abgeliefert. Im Herbst setzten wir das Fischen mit dem Schleppnetz unter unglaublichen Bedingungen fort. Bis zum 10. Oktober mußten wir unsere Arbeit barfuß erledigen, bis das ganze Ufer mit Schnee bedeckt war. Du steigst aus dem Wasser, setzt einen Fuß auf den Schnee – und hinterläß im selben Moment einen Eisabdruck!

Seit jener Zeit ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, aber jeder kann sich noch an diese bittere Zeit erinnern. Mitunter hatten unsere Brigadeführer Mitleid mit uns; dann wollten sie nicht, daß wir im Sturm oder bei klirrender Kälte zum Fischen ausfuhren, aber die Macht lag beim Bevollmächtigten, und der zwang uns nach Kräften zu arbeiten. Er machte an niemanden Zugeständnisse, das Gefühl dafür war ihm abhanden gekommen. Dabei sagte er: je mehr umkommen, desto besser! Obwohl die Leute im Winter keine warme Kleidung zur Verfügung hatten, mußten sie mit aufgestellten Netzen unter dem Eis fischen. Im ersten Jahr wurde der Fischfang vom staatlichen Fangbetrieb der Ust-Porter Konservenfabrik geleitet. 1943 wurden im Ust-Jenisejsker Bezirk für die Sondersiedler Fischfangkolchosen geschaffen. Man bildete getrennte Wirtschaften für Letten, Kalmücken und Deutsche. Unser gewerblicher Fischfang wurde in die Kolchose „Gardist“ eingegliedert.

Allerdings blieb die öffentliche Aufsicht der Sonderkommandantur erhalten. Wir besaßen keinerlei persönliche Dokumente, keine Ausweise, die unsere Identität hättenbestätigen können. Die Anmeldung und Kontrolle über uns wurde vom Kommandanten in speziellen Journalen vermerkt. Es war sogar verboten, sich zurm Beerensuchen in die Tundra zu entfernen. Wenn ein Kranker nach Dudinka zum Chirurgen mußte, war er gezwungen so lange zu warten, bis einer der Kommandantur-Mitarbeiter den Kranken begleiten konnte. Manchmal dauerte die Wartezeit mehr als ein Jahr, wie es mit mir der Fall war. Von den Deutschen verlangten sie in der Kommandantur eine schriftliche Erklärung darüber, dass sie bis ans Ende aller Tage nicht wieder in ihre Geburtsorte an der Wolga zurückkehren würden. Mit unserer Unterschrift sollten wir uns verpflichten, für immer auf unserer in der Heimat zurückgelassenen Werte (Haus, Hofgebäude, Vieh, Geflügel und anderen Besitz) zu verzichten. Und sofern noch jemand eine Quittung über all diese Habseligkeiten besaß, so wurde sie im nun einfach fortgenommen. Man mußte eine Menge Spott und Erniedrigungen hinnehmen. Es fällt heute sogar schwer sich daran zu erinnern, wie sich die Mitarbeiter von KGB und MGB – Anosow, Karmanow und Nellin - uns gegenüber verhielten ... Unter solchen Bedingungen habe ich 5 Jahre gearbeitet. Aber die Jugend holte sich das Ihre. Wir bemühten uns viel zu singen, organisierten Tanzveranstaltungen. Bei mir fanden sich eine Balalajka und eine Gitarre. Auch andere hatten noch Musikindstrumente – eine Mandoline und eine zweite Balalajka. So stellten wir unser eigenes Orchester auf, das auch zum Tanz aufspielte.

Wir verdienten sehr wenig; erst später erfuhren wir, dass man uns bestohlen hatte. Häufig mußten wir unsere Lebensmittelkarten für ucker, Butter, Tabak und Tee verkaufen, um Brot zu erstehen. Selbst unter diesen Bedingungen unterzeichneten alle die Staatsanleihen, damit nur das Ende des Krieges schneller näherrückte. Auf der Wahlversammlung der Kolchose „Gardist“ im Jahre 1947 wurde ich zum Vorsitzenden gewählt. Das kam für mich völlig unerwartet. Vier Jahre leitete ich die Kolchose. Die Sache lief, und vorder Arbeit schreckten wir nicht zurück. Niemand weiß, wieviel Hohn und Spott die Menschen durch alle möglichen Leiter, Mitarbeiter der Sonderorgane, usw. hier schon ertragen hatten. Wie dem auch sei, in der Kolchose „Gardist“ starb über einen Zeitraum von 10 Jahren niemand, während im Ust-Jenisejsker Bezirk viele an Skorbut starben. Die Kolchose „4. Fünfjahresplan“ an der Fischfang-Station Nosonowsk war dagegen ein wahres Totenhaus. Bis 1947 kam bei den Deutschen nicht ein einziges Kind zur Welt, die Geburtenrate war für fünf Jahre völlig zum Stillstand gekommen. Nachdem ich erfolgreich die 11. Klasse an der Abend-Mittelschule absolviert hatte, wollte ich in Nowosibirsk weiterstudieren, aber ich konnte nicht – bloß weil ich der deutschen Nationalität angehörte. Seit den sechziger Jahrenbin ich nun Mitarbeiter bei der regionalen Zeitung. Ich schrieb über die behutsame Haltung gegenüber dem Tajmyrgebiet, das für uns, die wir hier nicht einmal aus freiem Willen hergeraten sind, zur zweiten Heimat wurde. Es ist tröstlich, dass zum ersten Mal in der Presse des Hohen Nordens von den Schicksalen der Sondersiedler aus dem Wolgagebiet die Rede war, dass das Thema der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit in Bezug auf die Rußland-Deutschen und aller repressierten Völker in den Masseninformationsmitteln unserer Halbinsel und in der Region Krasnojarsk seinen Platz gefunden hat. Doch es gibt noch eine Menge ungelöster Fragen in puncto Wiederbelebung der Geistlichkeit und der nationalen Kulturen. Diese Pflicht, diese Schuld vor den Opfern des Totalitarismus ist mit nichts zu bezahlen, sie verlangt das Handeln all derer, die sich ihrer nationalen Wurzeln erinnern und die Rechte jedes unserer kleinen und großen Völker respektieren und achten.

 


Inhaltsverzeichnis

Zum Seitenanfang