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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussage des Karl Kühl (geb. 1926)

In Krasnojarsk schickten sie unsere Familie – Mutter Therese Kühl (geb. 1896), Schwester Albine Hess (geb. 1919), Schwester Hilde Kühl (geb. 1921), Karl Kühl (geb. 1926) und Schwester Olga Kühl (geb. 1929) Ende August 1942 mit dem Raddampfer „Maria Uljanowa“, aufgrund einer entsprechenden Mobilisierung durch das Kriegskommissariat, zur „Erschließung der Fischvorkommen in den sibirischen Flüssen“ in den Hohen Norden. Der völlig überfüllte Dampfer plätscherte mit seinen Rädern von einem Holzlager zum anderen; er legte dort an, damit wir mit unseren eigenen Händen das Brennholz für die Dampfmaschine an Bord aufluden. Besonders schrecklich war die Fahrt, als wir die Kasatschinsker Stromschnellen passierten – ein einziger Fehler des Steuermanns hätte auf einen Schlag mehrere hundert Menschen das Leben gekostet. Aber alles ging gut, denn sowohl der Kapitän als auch die übrige Besatzung waren zu dem Zeitpunkt nüchtern.

In der Siedlung Ananewskoje (65 km von Dudinka entfernt) setzten sie uns, etwas 200 Personen, hauptsächlich Frauen mit Kindern, Halbwüchsige, alte Leute, Wolgadeutsche, Letten und Finnen am kahlen und kalten Ufer des Jenisej aus. Es herrschte bereits der für die nördliche Region übliche Herbst, aber es gab keine Behausungen. Die Menschen suchten Rettung, in dem sie sich Erdhütten in den ewigen Frostboden gruben. Nach und nach wurden immer mehr Menschen krank, vor allem Kinder; ich kann mich noch gut daran erinnern, dass im Winter 1942 vor Hunger, Kälte und durch Krankheiten alle Kinder (mit Ausnahme eines einzigen) im Alter von unter 5 Jahren starben. Wir wurden weder mit Lebensmitteln noch mit Kleidung versorgt, denn eigentlich hätten wir noch während der schiffbaren Zeit des Jahres 1942 in Chatanga abgeliefert werden sollen. Aber das Seeschiff war nicht rechtzeitig eingetroffen, und so wurde unsere Weiterfahrt auf den Sommer des Jahres 1943 verschoben.

Was taten nun die 200 Menschen den ganzen Winter über? Ein Teil von ihnen kam um; damit nahmen sie den Behörden jegliche Sorge um sie; andere gingen zum Fischfang oder jagten Polarfüchse, Hasen und Rebhühner. Ohne lange nachzudenken, gründeten sie die Kolchose „Morgenrot“, und schon wurde das Leben ein wenig zuversichtlicher und zielgerichteter. Der Winter endete mit dem Verlust von 60 Menschenleben.

Bericht über die Ereignisse am Fluß Chatanga (der die Halbinsel Tajmyr von Norden her umspült).

Anfang Juli 1943 holte uns ein Seeschiff ab, in deren Frachträumen man uns unterbrachte und dann in Richtung Kara-See abtransportierte. Unterwegs erhielten wir eine einmalige, kümmerliche Verpflegung. Vor der Insel Dickson erwarteten uns bereits ein Eisbrecher sowie ein militärisches Patrouillenboot. Unser Weg führte uns um die Halbinsel Tajmyr mit seinem berühmten Kap Tscheljuskin, welches den nördlichsten Punkt der Eurasischen Festplatte darstellt. Aber nachdem wir bereits etwa zwei Tage und Nächte unterwegs gewesen waren, stellte sich heraus, dass unser Schiff in Dickson kein Trinkwaser getankt hatte, so dass wir aus diesem Grunde dorthin zurückfahren mußten und dabei ganze vier Tage und Nächte verloren. Kap Tscheljuskin ist der am schwersten zugängliche Ort auf der gesamten Nordmeer-Trasse von der Insel „Nowaja Semlja“ bis zur Bering-Straße. Sie ist ständig von Eisschollen versperrt, und der Eisbrecher hatte alle Mühe, um unserem Schiff die Durchfahrt zu ermöglichen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass diese Durchfahrt 20 Tage in Anspruch nahm.

Unser Schiff warf am 1. August 1943, 30 km flußabwärts von der Bezirkshauptstadt „Chatanga“ Anker; alle standen an Deck und sahen die leere Tundra, in der der Boden von Moos bedeckt und rund um die Uhr vom Sonnenlicht überflutet war. Ein unvergeßliches Bild. Nirgends befand sich irgendeine menschliche Behausung. Es gab dort keinen gewöhnlichen Wald. Lediglich zwei Leute standen am Ufer: uns begrüßte der Direktor der motorisierten Fischfangstation mit seinem Gehilfen. Aber die Schiffsbesatzung rief uns über Lautsprecher zum „Aussteigen“ auf, und unsere Gruppe, insgesamt 140 Personen, fand sich kurz darauf einsam und verlassen mit der nördlichen Natur wieder, ohne Unterkunft, am kahlen Ufer stehend, ohne warme Kleidung und Verpflegung. Es war ganz schrecklich, die hoffnungslosen und vom Schicksal gezeichneten Gesichter der alleinstehenden Frauen mit Kindern zu sehen. Aus dem dort wachsenden Ufergebüsch fingen sie an Laubhütten zu bauen, um sich wenigstens irgendwie vor den Milliarden von stechenden Insekten und Kriebelmücken in Sicherheit zu bringen. Am Horizont sah man eine Anhöhe und daneben einen niedrig gewachsenen Wald. Das flößte uns eine gewisse Zuversicht, denn wir hofften, dass wir uns dort Baumaterial beschaffen könnten.

Der Direktor der der motorisierten Fangstation organisierte die Belieferung mit Brot und Lebensmitteln aus der Bezirkshauptstadt „Chatanga“. Mein Freund und ich brachten unseren Leuten per Boot Säcke mit Brot. Später wurde ein Kiosk errichtet, wo die Menschen gegen Lebensmittelkarten und –rulons ebenfalls Eßwaren erstehen konnten. Die Löhne waren äußerst niedrig, und das Geld reichte nicht, um alle nötigen Lebensmittel zu kaufen. Deswegen litten viele Familien Hunger, etliche starben an Skorbut. Mich bewahrte vor dem sicheren Tod lediglich der Umstand, dass ich in der Fischfang-Brigade arbeitete und mich von Fisch ernähren konnte. Fische haben in den ersten Jahren mein Leben gerettet.

Hier am Chatanga-Fluß empfanden wir alle eine große Niedergeschlagenheit, weil wir uns am “äußersten Rand der Welt“ befanden. Am Jenisej gibt es immerhin über den Fluß eine Verbindung zur Eisenbahn-Magistrale und der Bezirkshauptstadt, aber hier befindet man sich buchstäblich in einer Sackgasse, in deren unmittelbaren Nachbarschaft, auf der Insel Nordwik, Leute im „Knast“ sitzen, die zu Haftstrafen von 100 und mehr Jahren verurteilt wurden. Natürlich sind das keine politischen Gefangenen, sondern Räuber, Mörder und Diebe eines höheren Kalibers, die ein derartiges Strafmaß aufgebrummt bekommen haben, während sie sich in Haft befanden. Die Bezirkskommandantur wies uns im Hinblick auf unsere Bewegungsfreiheit klipp und klar in unsere Schranken: sich außerhalb der Siedlung zu bewegen, ging nur mit Erlaubnis des Kolchosvorsitzenden, und wer in den Bezirk Chatanga wollte, mußten erst die Genehmigung des Kommandanten einholen.

Wir befinden uns also am „Rande der Welt“, und das bedeutet das Fehlen jeglicher Verbindung mit der Außenwelt. Sie sagen, dass Chatanga über eine Luftverkehrsverbindung mit Dudinka und Igarka verfügt, aber diese Möglichkeit ist für uns unzugänglich. Nachdem wir unsere Laubhütten gebaut hatten, begriffen wir ziemlich schnell, dass wir sie winterfest machen mußten. Dazu legten wir das Gerüst aus Zweigen und Ruten mit einer einen halben Meter dicken Moosschicht aus. Das war eine Neuerung im Vergleich zu den „Jenisejern“, die in den Boden krochen, nachdem sie sich Erdhütten geschaffen hatten. Unsere „Thermos-Nomadenzelte“ (die im Winter mit Schnee zugeweht waren), waren als Behausung viel hygienischer, wärmer und bequemer. Im zweiten Jahr errichteten wir in einer derartigen Konstruktionsweise sogar eine Baracke mit zwei Öfen an den Stirnseiten. Wir hatten Glück mit der Kolchos-Leitung. Die Verwaltung organisierte Arbeitsbrigaden: Fischer, Bauarbeiter, Trasnportarbeiter und einen Wirtschaftshof.

Außerdem wurden die Fischer an stürmischen Tagen mit für die Bauarbeiten herangezogen. Es war nämlich so, dass wir mit der Zeit zur Konstruktion von aus Brettern zusammengehauen Häusern übergingen; die bekamen wir von den hier befindlichen Baumstämmen mit einem Durchmesser von 14 cm. Hilfreich waren auch havarierte, fortgeschwemmte Stämme, die an uns vorüberschwammen. Sie stammten von im Sturm weiter am Oberlauf des Chatanga-Flusses zerstörten Flößen. Allerdings hatten nur 30-40% der dorthin gebrachten Menschen eine Garantie auf einen ständigen Arbeitsplatz – es gab etliche Arbeitslose. Dank eines von der motorisierten Fischfang-Station erhaltenen Kredits für Fischfang-Utensilien und –Gerätschaften (Schleppnetze und andere Netze) lernten unsere Fischer mit Hilfe ortsansässiger Fachleute irgendwie das Fischerhandwerk. Es kam sogar vor, dass ein einziger Tauchgang des Netzes 12 Zentner Hering auf einen Schlag einbrachte. Sehr traurig ist nur die Tatsache, dass die als Fischer tätigen Sondersiedler am Chatanga in Bezug auf den Preis für den abgegebenen Fisch an der Fischannahmestelle so schändlich betrogen wurden:im Vergleich zu den Jenisej-Preisen war er durchschnittlich um 20-40% niedriger veranschlagt und gestattete es den Fischern nicht, damit ihre vollständige Versorgung mit Lebensmittelkarten zu sichern. Insgesamt gesehen war die Fangquote während der jeweiligen Fisch-Schwärmzeit (Hering, Weißfisch, Omul, große Maränen, Schnäpel und, eher selten, auch sibirische Weißlachse und Tajmen-Lachse) hoch, was unserer Kolchose die Möglichkeit verschaffte, jedes Jahr das Plansoll zu erfüllen. Mit den Schleppnetzen wurde barfuß gefischt, und zwar bis in den Oktober hinein, als das Ufer bereits unter einer Schneedecke lag, aber in dem mit Eismatsch bedeckten, eisigen Wasser schien es wärmer zu sein – sie verließen es nicht.

Neben anderen Organisationen des Bezirks Chatanga machte unsere Kolchose als eine der besten von sich Reden. Und ausgerechnet dieser Umstand kostete uns hier einen einjährigen, zusätzlichen, aber für uns völlig nutzlosen Aufenthalt als Sondersiedler – die Bezirksbehörden hielten unsere bereits 1956 erfolgte Rehabilitation vor uns geheim, indem sie uns erst ein ganzes Jahr später, im Jahre 1957, Mitteilung darüber machten; die Bezirks-„Herren“ wollten in ihrer profitablen Fischwirtschaft nicht eine der besten Kolchosen verlieren. Als die Kolchose 1957 liquidiert wurde, war auf ihrem Konto bei der Staatsbank die Summe von einer Million Rubel eingetragen (das war zu jener Zeit ein ungeheuer großer Betrag), allerdings wurde dieses Geld nicht an unere Kolchose ausgehändigt und auch nicht unter den Kolchosarbeitern verteilt – man füllte damit in illegaler Weise ganz einfach das Chatanger Budget auf.

Unser relativer Wohlstand am Chatanga in den 1950er Jahren kam aufgrund unserer harten Arbeit zustande, mit der wir in den Jahren 1943-1946 die Siedlung errichteten, uns dann dem ständigen Fischfang widmeten (2 Brigaden mit zwei 300-m-Schleppnetzen für 8 Leute) und die Arbeit generell in unserem gesamten Wirtschaftsbereich hervorragend organisierten. Zu Opfern innerhalb der Reihen der Unseren wurden hauptsächlich Frauen mit Kindern und Arbeitslose. Bei den „Chatanga“-Sondersiedlern ging der Prozeß der Erschließung einer neuen Siedlung am „Rande der Welt“ aufgrund der bedrückenden Isoliertheit der Menschen von der übrigen „Welt“ und der denkbar schlechten Versorgung mit Waren und Werkzeugen, nur langsam vonstatten. Denn das, worunter unsere Gruppe ganz besonders zu leiden hatte, war die Tatsache, dass wir uns insgesamt zweimal eine Behausung selber bauen und irgendwie überwintern mußten: das erste Mal 1942 in Ananewsk, und das zweite Mal 1943 in Chatanga. Kenntnisse über die richtige Handhabung des Fischfangs erhielten wir bei unserer Ankunft in Chatanga erst im dritten Jahr – es gab keine Instruktoren; die Menschen konnten nicht wissen, wie ein Schleppnetz oder die anderen Netze konstruiert waren, ihnen war nicht bekannt, dass man zum Netzeflicken spezielle Nadeln benötigte, geschweige denn, wie man solche Netze knüpft oder repariert.

Die Urheber unserer Verschleppung nach Chatanga haben sich im Hinblick auf die benötigten Arbeitsplätze gewaltig verrechnet – 30-40% der arbeitenden Hände wären ausreichend gewesen. Aber die Anzahl so vieler überflüssiger Menschen führte letztendlich zu einem Anstieg der Sterblichkeitsrate aufgrund von Hunger, Kälte und Skorbut. Die Schwierigkeiten des Sichzurechtfindens im Leben und der Unterbringung an einem Arbeitsplatz an unserem neuen Aufenthaltsort hatten ihre Ursache auch in dem ungünstigen (schlechten) demographischen Bestand unserer Bevölkerung: Kinder und Frauen bis 16 Jahre – 90%, Männer ab 16 und älter – lediglich 10%. Welche schweren Außenarbeiten konnten diese Menschen unter den Bedingungen einer grimmigen Natur schon ausführen, wenn im Sommer die Mücken ausschwärmten und im Herbst und Winter barfuß im eisigen Wasser, ohne geeignete Kleidung, gefischt werden mußte. Die Leute waren völlig verzweifelt. Es kam sogar zum Selbstmord: plötzlich schreit meine Mama – „Karl, hol schnell ein Messer und schneide den Strick durch! Rette die Frau!“ Es gelang, die von Hoffnungslosigkeit gezeichnete Frau, ins Leben zurückzuholen. 1957 fuhr sie „aufs Festland“. Besonders litten die Letten, unter denen gleich mehrere Familien vollständig ausstarben. Meine Mama starb 1946. Die Frauen konnten für ihre Familien nicht selbständig eine Behausung gewährleisten. Wir verfügten über keinerlei medizinische Betreuung, und das ist auch nicht verwunderlich – schließlich hätte man für die Einrichtung einer medizinischen Betreuungsstelle spezielle Räumlichkeiten und eine Wohnung für den Arzt benötigt.

Bei uns, ebenso wie auch überall woanders, herrschte die Losung „Mehr Fisch für die Front“, und das bedeutete eine scharfe Kontrolle der Fischer – sie erstreckte sich vom Fischfangplatz bis zur Fischabnahmestelle und machte jegliches Beiseiteschaffen von Fisch unmöglich. Deswegen hungerten die Menschen, die keinen dauerhaften Arbeitsplatz besaßen, so dass manche buchstäblich mit ihrer gesamten Familie ausstarben. Deutsche Familien und diejenigen, die aus dem Baltikum kamen, hatten ebenfalls sehr zu leiden, denn sie konnten kein Russisch. Das erwies sich als großes Hindernis bei der Suche nach Arbeit – vor allem im Warmen. Insgesamt gesehen bezahlte unsere Gruppe das stalinistische Regime in den 15 Jahren ihres Aufenthalts (1942-1957), während sie das Chatanga-Becken „urbar“ machte, in Form von hunderten von Menschenleben (50% seiner Mitbürger).

Unsere übriggebliebene Familie, zwei meiner Schwestern und ich, verließen Chatanga 1957 und fuhren nach Suchobusimo in der Region Krasnojarsk, nachdem wir 15 unserer besten Jugendjahre für die ziellose Erschließung der Fischvorkommen im Hohen Norden der Halbinsel Tajmyr hergegeben hatten und mir, meiner Mutter und den den Schwestern die Gesundheit genommen worden war. Seit 1992 lebe ich mit der Familie in Deutschland unter der Anschrift: Karl Kühl, Bjorringbrostr. 47, 23812 Wahlstedt. Tel. 04554-5934.

Aufgezeichnet von Leo Petri nach dem Wortlaut des Karl Kühl

 


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