Zu seinem Bericht über die 1940er Jahre machte Jurij Jankowitsch (Riga) im Juli 2003 noch eine zusätzliche Zeugenaussage, die sich auf die heutige Zeit bezieht – natürlich mit neuen Ansichten im Hinblick auf die Bewertung der Tajmyrer Tragödie. Weiter unten zitieren wir einen interessanten Auszug daraus. „Auf den Spuren der Ereignisse“, dargestellt in dem Artikel „Die weißen Flecken des Tajmyr. Eine Tragödie“. Dr. Leo und Viktoria Petri.
„Vor mir liegen die mir von den Freunden aus Hamburg zugesandten turnusmäßigen Ausgaben der Zeitung „Heimat – Rodina“: 3, 4, 5 und 6 des Jahres 2003, in denen ein Artikel von Dr. L. und V. Petri mit dem Titel „Die weißen Flecken des Tajmyr. Eine Tragödie“ abgedruckt ist. Ich konnte gegenüber dem Thema dieses Berichts über die Ereignisse, die sich 60 Jahre zuvor abgespielt hatten, nicht gleichgültig bleiben, denn ich war unfreiwilliger Zeuge und auch Opfer der tragischen Geschehnisse jener Zeit. In dem Artikel geht es um die berüchtigte Anordnung der Kreml-Mächtigen vom 6. Januar 1942 über die Entwicklung der Fischindustrie in den Flußbecken Sibiriens und des Fernen Ostens sowie um die Folgen, welche dieser Befehl nach sich zog. Über diese abenteuerliche Epopoe wurden bereits zahlreiche Erinnerungen aufgeschrieben, aber jede von ihnen lüftet einen neuen Vorhang an Fakten, welche die russischen Machthaber am liebsten möglichst schnell und umfassend vergessen würden.
Und hier sind neue Tatsachen, so, wie sie in dem erwähnten Artikel mit einer tiefgreifenden Analyse und weitreichenden Argumenten im Hinblick auf die Unbesonnenheit und die verbrecherischen Eigenschaften jener Verfügung veröffentlicht wurden. Jede beliebige allgemeine Anweisung in der Sowjetunion wurde vorort (in den Städten, Dörfern, Kolchosen) schnellstmöglich übernommen und umgesetzt – ohne Nachdenken, ohne langes Zögern. Und überall war man bemüht, die betreffenden Entscheidungen zu realsieren und sogar überzuerfüllen, vor allem dann, wenn es um die Mobilisierung und Verhaftung von Menschen ging – und das nur, um selber unbeschadet und am Leben zu bleiben. Man muß dabei berücksichtigen, dass damals Kriegszeiten herrschten und die örtlichen Behörden sich mit Freude darauf stürzten, diese Anordnung von oben durchzuführen. Man begann zunächst damit, Fischfang-Konzerne mit einem großen Personalbestand und zahlreichen, von Bevollmächtigten gelenkten, Unterabteilungen ins Leben zu rufen, mit Revierleitern, Aufsehern, Instrukteuren, einer Fischfangflotte, deren Dienstpersonal selbstverständlich aus den Reihen freier Mitarbeiter kam, usw,.Alle von ihnen waren im Besitz einer sogenannten Freistellungsbescheinigung, die sie von der Einberufung in die Armee befreite, und all diese großartigen Organisatoren erhielten eine Sonderration. Na schön – die Oberschicht war erstmal geschaffen, aber wer würde jetzt die ganzen schmutzigen Arbeiten erledigen, damit diese gesicherten Würdenträger im Hinterland, fern der Front, in Ruhe und Frieden leben konnten? Und da kommt das machtvolle NKWD den Parteiorganen zur Hilfe. Im Krasnojarsker Regionalkomitee der Partei leitete der Sekretär des Regionskomitees Tschernenko die Durchführung der Anordnung, eben jener, der vor seinem ruhmlosen Ende zur erste Persönlichkeit der Partei wurde.
Wie kam es dazu? Hier ein Auszug aus meinem Tagebuch (die Aufzeichnung wurde am 10. Juni 1942) getätigt. „Als sie heute morgen unser Familie aus dem Pirowsker Bezirk in Krasnojarsk ablieferten und anschließend zum rechten Ufer des Jenisej in den Bezirk der Bahnstation Jenisej brachten, erstarrten wir buchstäblich vor diesem erschütternden Anblick, der sich vor unseren Augen eröffnete. Auf der ausgedehnten Lichtung wogte eine riesige Menschenmenge – mehrere tausend an der Zahl. Die Menschen saßen, standen, gingen, umgeben von ihren Habseligkeiten. Ein derartiger Anblick hätte so manchen Kinoregisseur neidisch gemacht, der eine derartige Menschenmasse benötigt hätte, um eine Sklavenszene darzustellen. Man konnte verschiedene Sprachen wahrnehmen, aber die meisten von ihnen waren Deutsche, weniger Letten. Es gab auch Bessarabier, Ukrainer, Finnen und einige wenige Russen, die schon früher enteignet worden waren. Das war das Resultat der Deportationen aus den okkupierten Gebieten Polens im Jahre 1939 und dem Baltikum 1941. Sie wurden ausgesiedelt und miteinander vermischt – alle Deutschen aus dem Wolgagebiet und anderen Orten der Sowjetunion, Kalmücken, Inguschen, Tschetschenen und alle Krim-Tataren. Niemand erwartete diese ganze Menschenmasse, denn es waren sowieso schon nicht genügend Behausungen für die Ortsansässigen vorhanden, bei denen es sich ebenfalls um ehemalige Umsiedler handelte. Die neu Umgesiedelten erwiesen sich als gänzlich überflüssig. Jetzt hatten die örtlichen Behörden es sehr eilig, eine neue abenteuerliche Verfügung umzusetzen, und sie schickten diese überzähligen Leute in, weiß der Teufel, was für eine entlegene Gegend. Wenn diese tatkräftigen, sachkundigen und energiegeladenen Menschen im Sommer in ihren Dörfern umhergeschwirrt waren, um dem Hunger zu entgehen, so gab es im Polargebiet keinen Gartenanbau, und wenn die Menschen nichts zu essen haben, dann sterben sie. Diese ganze, tausende von Leuten zählende Masse wurde wie Ware auf acht Leichter und Barken verlagen und schwamm dann gen Norden. Ein derartiger Massentransport kostenloser Arbeitskräfte in den Norden hatte bereits in den 1920-er Jahren begonnen - bei der Erschließung der Norilsker Bergwerke, der Stadt Igarka und anderer Gegenden.
Die Siedlungsorte am Jenisej wurden „Stankas“ genannt, und man errichtete sie an den kahlen Ufern des Jenisej und der Podkamennaja Tunguska in Abständen von jeweils 50-100 km.
In dem genannten Artikel wird das Aussetzen der Menschengruppe – 105 Personen – am 24. Juni 1942 in der Stanka Ust-Chantajka beschrieben, wo die Behörden später eine Fischfang-Kolchose organiserten. Entsprechend den vorhandenen Fanggerätschaften wurden 3 Brigaden zu je 16 Mann aufgestellt – insgesamt 48 Leute. Die übrigen wurden bei allen möglichen Hilfsarbeiten eingesetzt. Wie L. und V. Petri anmerken, war ein Großteil von ihnen völlig überflüssig, denn das Absetzen der Menschen war ganz spontan geschehen, ohne Berücksichtigung der Tatsache, ob es auch genügend Arbeitsplätze für sie gab, ganz zu schweigen von dem Tatbestand, dass keinerlei Unterkünfte für sie vorhanden waren. Man hätte sich um Wohnraum für die Menschen kümmern und ihnen Arbeitsplätze sichern müssen. Aber die Beamten im Regionskomitee der Partei wollten im Schauder des Verbrechens die überzähligen Menschen in den Kolchosen der Region loswerden. Und es kamen immer neue Schiffskarawanen angeschwommen. Im Juni waren schon die Erwachsenen und Halbwüchsigen eingetroffen, und nun kamen auch noch ausnahmslos alle Alten und Kinder.
Plötzlich, am 26. August 1942, wurden in Ust-Chantajka weitere 230 Mann abgesetzt, und am 19. September, unmittelbar am Vorabend des vollständigen Zufrierens des Flusses – noch einmal 115 Sklaven, darunter 40 Kinder im Schul- und Vorschulalter. Das waren insgesamt 450 Personen. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Finnen und Deutsche aus der Stadt sowie dem Gebiet Leningrad. Hier wurden Menschen mit ihren Kindern aufgrund ihrer Nationalitätenzugehörigkeit auf verbrecherische Weise tödlichen Bedingungen ausgesetzt. Offenbar wußten die Behörden ganz genau, dass die Leute nicht überleben würden, aber sie hatten es nicht mehr rechtzeitig geschafft, sie bis nach Dickson zu bringen. Ust-Chantajka verwandelte sich in einen einzigartigen Schuttabladeplatz für überflüssige Menschen, die schnell anfingen, sich in die Hügel hineinzugraben und sich mit Hilfe krummgewachsener Tundra-Birkenhölzer, Grassoden und Moos eine Erdhütte zu bauen. Aber das rettete sie nicht. Ganze Familien erfroren und starben aus, vor allem Leningrader. Zum Frühjahr 1943 waren nur noch 200 Menschen am Leben. Ich mußte am Abtransport der Leichen und ihrem vorübergehenden Eingraben im Schnee teilnehmen. Im Sommer wurde dann dieser ganze Leichenberg in Massengräbern bestattet. L. und V. Petri haben ganz richtig gerechnet, wenn sie sagen, dass 3,5 mal so viele Menschen in den Hohen Norden gebracht wurden, als man tatsächlich für den Fischfang dort benötigte, wobei man des weiteren berücksichtigen muß, dass die Fangsaison sich insgesamt nur auf dreieinhalb Monate erstreckt und das Eisfischen im Winter eine äußerst unproduktive Maßnahme ist.
Drei Finnen, deren Familien verstorben waren, beschlossen, im Winter von Ust-Chantajka nach Dudinka zu fliehen. Sie kamen bis zur Siedlung Agapitowo (35 km flußaufwärts von Ust-Chantajka). Zwei von ihnen fielen auf dem Eis des Jenisej hin und erfroren, der Dritte kehrte um und kam wieder zurück. Uns kam eine schreckliche Nachricht zu Ohren. Bereits unmittelbar vor dem endgültigen Zufrieren des Flusses hatte man gleichzeitig 500 Personen mit dem Dampfer „M. Uljanowa“ nach Agapitowo gebracht, denn es gab keinen anderen Ort, an dem man sie hätte abladen können, aber vor allem wurde der Jenisej mit einer immer dickeren Eisschicht bedeckt. Man gab sechs Zelte an sie aus – und das war alles. Dann vergaß man sie vollständig. Bis zum nächsten Frühjahr waren dort fast alle umgekommen. Kinder froren an den Holzpritschen fest, nur mit Mühe ließen sie sich losreißen und wurden sofort vor dem Zelt im Schnee eingegraben. Zu Beginn des Frühjahr schaffte es einer von ihnen, sich bis nach Igarka zu schleppen (150 km), und der Kommandant der Sonderkommandantur fragte seelenruhig – ist denn da überhaupt noch jemand am Leben geblieben? Jegliche Kommentare sind hier überflüssig. Die furchtbare Nachricht von der Tragödie in Agapitowo verbreitete sich in allen Stankas am Unterlauf des Jenisej. So etwas sieht man nicht einmal im schlimmsten Alptraum. Das war ein wahrer Müllabladeplatz für unschuldige, überflüssige Menschen.
Der nächste vorübergehende Menschenstrom ergoß sich über den Bezirk Ust-Port und Sopkarga, denn der zugefrorene Fluß verhinderte den Weitertransport der Betroffenen über den Seeweg in die Bucht von Chantanga. Aber im Sommer 1943 holte man die Leute wieder zusammen, verlud sie auf ein Seeschiff und brachte sie in die Koschewnikow-Bucht; von dort verteilte man sie mit kleinen Lastkähnen überall am Ufer des Chatanga-Flusses. Kürzlich brachte Professor J.Bense, der sich ebenfalls in diesem Transport aus Sopkarga befand, in Riga ein Buch mit seinen Erinnerungen heraus. Es trägt den Titel „Im Vorraum der Hölle“. Schauer laufen einem über den Rücken, wenn man dieses Buch liest und selbst an jene Jahre zurückdenkt. Und wieder waren ein Großteil der Betroffenen dieser Umsiedlungsktion Deutsche und Letten.
Eine Delegation des Rigaer Okkupationsmuseums besuchte 1992 die Polarregion und unternahm extra eine Fahrt mit dem Kutter nach Agapitowo – dem großen Todeslager. Dort, am hochgelegenen Ufer, errichteten sie ein 5 Meter hohes Kreuz, das sie an Ort und Stelle aus am Ufer herumliegenden Baumstämmen entstehen ließen. Später (im Jahre 2006) wurde ein 10 Meter hohes Metallkreuz auf Initiative von Wacker, L. Petri und V. Petri auch in Ust-Chantajka errichtet.
Bis heute ist nicht bekannt, wieviele Menschen damals insgesamt im Tajmyr-Gebiet ums Leben kamen. Anhand des Beispiels von Ust-Chantajka und Potapowo haben L. und V. Petri, errechnet, und diese Zahlen wurden auch von einem Wissenschaftler ermittelt, dass die Sterblichkeitsrate innerhalb von drei Jahren bei 70% lag, d.h. etwa 6400 der auf die Halbinsel Tajymr transportierten Frauen, Kinder und alten Leute. Wer trägt dafür die Verantwortung? Wen soll man dafür vor Gericht stellen? Niemanden!!!
Ich rechne es den Eheleuten L. und V. Petri hoch an, dass sie die Zeit und die Willensstärke fanden, diese nördlichsten Gegenden der Katastrophe noch einmal zu besuchen und der dort umgekommenen, einst mit ihnen befreundeten Alters- und Leidensgenossen zu gedenken. Es war nicht einfach, aus den damaligen Fischfang-Orten lebend und gesund herauszukommen. Leo Petri schaffte es vom Fischer zum Wissenschaftler, und Viktoria wurde Hauptbuchhalterin in einer riesigen Unionsvereinigung für Elektromontagen. Ich hatte im Hohen Norden vorwiegend mit Deutschen zu tun, mit denen ich auch zusammenarbeitete. Das waren ordentliche, ausschließlich arbeitsfähige Leute. Beim Bau der Fischfabrik von Dudinka setzten sich alle Zimmermannsbrigaden aus Deutschen zusammen – sie waren große Meister ihres Fachs. Wie L. und V. Petri anmerken, muß diese Epopoe des Nordens in der Erinnerung zurkünftiger Generationen erhalten bleiben und irgendjemand muß die Aufgabe übernehmen, alle Erinnerungen an die Leidenswege und den heroischen Kampf ums Überleben aller ehemaligen Sowjet-Deutschen in einer einzigen Enzyklopädie zusammenzufassen. Zudem bewahrt die Öffentlichkeit (in Dudinka und Norilsk) in der Geschichte des Tajmyr das Gedenken an die tragischen Ereignisse, die sich in den 1940er Jahren im Leben der Sondersiedler ereigneten und an die von ihnen durchgemachte schwere Zeit.
„Kurz-Biographie. Jurij Jankowitsch, geboren 1924 in der Stadt Liepaja im unabhängigen Lettland; machte seine Ausbildung in den Städten Daugawpils und Liepaja (Libau). Am 14.06.1941. mitten in der Nacht, wurde der Vater verhaftet und die übrige Familie, bestehend aus Mutter, Tochter und Sohn, in den Pirowsker Bezirk, Region Krasnojarsk, deportiert. Im Juni 1942 wurden sie in einer Schiffskarawane, zusammen mit Deutschen und anderen Verbannten, nach Ust-Chantajka verschleppt, wo sie in der Brigade von L. Petri beim Fischfang arbeiteten. Ab 1943 Leiter einer Zehnerbrigade beim Bau der Fischfabrik Dudinka; anschließend beim Bau des Seehafens von Dudinka beschäftigt. Die Freundschaft mit Petris Familie wurde durch die widrigen Lebensumstände im Hohen Norden gefestigt und hat bis heute gehalten.“ ....