Dies schrieb in seinem Erlaß vom 29. August 1964 der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets a. Mikojan: „Im Ukas vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“ wurde diese angeklagt, den deutsch- faschistischen Eindringlingen aktive Hilfe geleistet und sich der Mittäterschaft schuldig gemacht zu haben“. Erinnern wir uns daran, lieber Leser, von welchen „Anschuldigungen“ hier die Rede ist; dazu brauchen wir lediglich einen Teil des Ukas vom 28. August 1941 lesen. Und dies hier schrieb damals der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets Kalinin: „Glaubwürdigen Informationen zufolge, welche die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegeben Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Gebieten Sprengstoffanschläge verüben sollen. Über das Vorhandensein einer derart großen Anzahl von Diversanten und Spionen unter den Deutschen hat niemand der in den Wolgabezirken wohnenden Deutschen den sowjetischen Behörden Mitteilung gemacht; demzufolge versteckt die deutsche Bevölkerung der Wolga-Rayons in ihrer Mitte Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht ... , hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden, die gesamte deutsche Bevölkerung ... in andere Bezirke umzusiedeln“.
Weiter schreibt Mikojan in seinem Erlaß: „Das Leben hat gezeigt, dass diese alle umfassenden Beschuldigungen unbegründet waren und sich als Erscheinung von Willkür unter den Bedingungen des Stalin-Kults erwiesen haben. In Wirklichkeit hat die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges, gemeinsam mit dem gesamten Sowjetvolk, der Sowjetunion durch ihre Arbeit zum Sieg über das faschistische Deutschland verholfen .... Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ordnet an, den Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 ..... für ungültig zu erklären. 2. In Anbetracht der Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung am neuen Wohnort inzwischen festen Fuß gefaßt ....., und ihre vorherigen Wohnorte mittlerweile wieder besiedelt sind .... die Ministerräte der Sowjetrepubliken anzuweisen, der deutschen Bevölkerung auch weiterhin Hilfe und Unterstützung beim wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau zu gewähren ....“. Von welcher überwiegenden Mehrheit der Deutschen kann man denn sprechen, wenn diese deutsche Bevölkerung, und zwar Groß und Klein, zu 100% unter den wachsamen Augen der NKWD-Sonderkommandanturen arbeitete und infolgedessen nicht nur die überwiegende Mehrheit, sondern vielmehr alle arbeitsfähigen Deutschen durch ihre Arbeit ihren Beitrag zum Sieg des Landes im Krieg beitrugen, wobei sie häufig ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten.
In Punt 2 der Verfügung wird als Fakt festgestellt, „dass die Bevölkerung (wie es scheint!) am neuen Wohnort Wurzeln gefaßt hat. Es findet sich kein Wort über die Möglichkeit einer Rückkehr an die Wolga und die Wiederherstellung der Autonomie. Aber die größte Unwahrheit in diesem Ukas liegt in den angeblich von anderen wiederbevölkerten, ehemaligen Wohnorten, d.h. dem Territorium der ASSR der Wolgadeutschen! Wie aus dem Stenogramm vom 11. Juli 1988 anläßlich des Empfangs von Bürgern deutscher Nationalität durch den Vorsitzenden des Nationalitätenrats des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, A.E. Boss, folgt, berichtete der Mitarbeiter der Bodenverbeserungsabteilung, B.D. Peters, über eine „jähe Abnahme der Dorfbevölkerungszahlen im Gebiet Saratow“: im Vergleich mit der Vorkriegszeit waren die Bevölkerungszahlen um mehr als die Hälfte zurückgegangen, und die durchschnittlicher Bewohnerzahl in einer Ortschaft schrumpfte sogar um das Sechsfache.
Unsere Rayons sind heute so menschenleer, dass man für die notwendigen Arbeiten sogar vorzeitig entlassene Verurteilte u.ä. heranziehen muß“. Das Ziel dieser Aktion – man will sich der Entscheidung über das deutsche Problem entziehen.
Das folgende Dokument kann man als Hinwendung zur Gerechtigkeit gegenüber den Sowjetdeutschen ansehen – die „Erklärung des Obersten Sowjets der UdSSR über die Anerkennung der Repressionsmaßnahmen gegen Völkerschaften, die der Zwangsumsiedlung ausgesetzt waren, als ungesetzliche und verbrecherische Aktionen, sowie die Sicherung ihrer Rechte“ vom 14. November 1989, unterzeichnet: der Obersten Sowjet der UdSSR. In der betreffenden Deklaration heißt es insbesondere, dass „sich im Lande die Bemühungen verstärkt haben, die ganze Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die Erinnerung trägt uns mit besonderer Bitterkeit in die tragischen Jahre der Repressionen zurück ... das darf nicht sein.
Barbarische Aktionen waren während des zweiten Weltkrieges die Aussiedlungen von Balkariern, Inguschen, Kalmücken, Karatschewo-Tscherkessen, Krim-Tataren, Deutschen, meschetiner Türken, Tschetschenen aus ihrer angestammten Heimat. ... Der Oberste Sowjet der UdSSR verurteilt vorbehaltlos die Praktiken der gewaltsamen Umsiedlung ganzer Völker und erkennt sie als schweres Verbrechen an, das den Grundlagen internationalen Rechts entschieden widerspricht.... Der Oberste Sowjet der UdSSR garantiert, dass sich die Verletzung der Menschenrechte sowie der Normen der Humanität auf Staatsebene in unserem Lande niemals wiederholen werden. Der Oberste Sowjet der UdSSR hält es für unerläßlich, entsprechende gesetzliche Maßnahmen zur bedingungslosen Wiederherstellung der Rechte aller sowjetischen Völker zu ergreifen, die Opfer von repressiven Maßnahmen waren“.
Wieder ein Stück Papier, welches überhaupt nichts „garantierte“, denn die folgenden „entsprechend ergriffenen gesetzlichen Maßnahmen“ gaben nur den Deutschen ihre Rechte nicht zurück, welche auf diese Weise weder vollständig rehabilitiert wurden, noch ihre Autonomie zurückerhielten.
Es kommt eine neue Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 29. Januar 1990, N° 90,“Über die Gründung einer Staatlichen Kommission für Probleme der Sowjet-Deutschen“, unterzeichnet vom Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR - N. Ryschkow. Diese Kommission setzte sich aus 28 Mitgliedern zusammen, unter denen sich insbesondere auch bekannte Akteure der deutschen Bewegung befanden: B.W. Rauschenbach – Akademiker an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, G.G. Wormsbecher – Redakteur er Zeitschrift „Heimatliche Gefilde“, der zweite Vorsitzende der Gesellschaft der Sowjet-Deutschen „Wiedergeburt“ u.a.
Am 13. August 1990 kam, wenn man es so ausdrücken kann, ein zusammenfassender Erlaß des Präsidenten der UdSSR – M. Gorbatschow – „Über die Wiederherstellung der Rechte aller Opfer politischer Repressionen der 1920er bis 1950er Jahre“ heraus, in dem eingestanden wird....., dass Stalin und sein Umfeld sich eine praktisch uneingeschränkte Macht angeeignet und dabei dem sowjetischen Volk jegliche Freiheit entzogen hatte. Die Massenrepressionen wurden zum Großteil auf dem Wege außergerichtlicher Gewaltanwendungen mittels sogenannter Sonderkollegien, „Trojkas“ und „Dwojkas“ verwirklicht“ ... Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, begonnen mit dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, verlief inkonsequent und brach praktisch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ab (genauer gesagt – unter Breschnjew). In der Verordnung werden alle illegalen Akte gegen die Völker, die der Zwangsumsiedlung ausgesetzt waren, für ungültig erklärt und die Rechte dieser Bürger vollständig wiederhergestellt. Und das ist alles. Damit ist die gesamte „Vergangenheit“ kurzerhand ausradiert. Und eine Entscheidung über die vollständige Rehabilitation der Deutschen wurde somit nicht gefaßt.
Die erste Ausgabe des Buches hat gezeigt, dass das Thema der Gründe für den Verderb tausender repressierter Menschen im Tajymr-Gebiet bei den Lesern großes Interesse hervorruft. Noch sind einige jener am Leben, welche die schrecklichen Jahre 1942-1944 miterlebt haben. Zu den „feindlichen Völkern“, die auf die Halbinsel Tajmyr verschleppt wurden, gehörten Deutsche von der Wolga und aus Leningrad, Letten, Esten, Finnen und Kalmücken,d.h. unterschiedslos alle aufgrund ihrer Nationalität. All diese sogenannten Sondersiedler standen unter der Meldepflicht und Aufsicht der NKWD-Sonderkommandantur, wo sie sich einmal im Monat registrieren lassen mußten. Das war schlimmer als im GULAG, denn es gab keine Unterkünfte und warme Kleidung, und anstelle des Stacheldrahts und der Wachtürme war die Gegend von der grausamen nördlichen Natur beherrscht, die niemanden aus ihrer eisigen Umklammerung entkommen ließ ....
Insgesamt gesehen, lieber Leser, konnten wir uns mit der Geschichte der langsam entschwindenden Generation der Rußland-Deutschen nur teilweise bekanntmachen, d.h. mit dem, was war, mit dem, was sie durchgemacht haben. Aber welche Probleme sind für die heutige Generation der Rußland-Deutschen von Bedeutung? Wie die „Moskauer Deutsche Zeitung“ (N° 10, „281“, Mai, 2010) mitteilt, wurden unter der allgemeinen Überschrift
„Ankündigungen von Veranstaltungen für die Rußland-Deutschen“
beispielsweise folgende Maßnahmen durchgeführt:
1. Im Moskauer Haus der Rußland-Deutschen fand die internationale Konferenz „Trauma der Vergangenheit in Rußland und Deutschland ....; traumatische Ereignisse in den Schicksalen der Rußland-Deutschen“... u.a. statt.
2. Im August 2010 hat das Allrussische Kinderzentrum „Orlonok“ („Adlerjunges“; Anm. d. Übers.) am Ufer des Schwarzen Meeres hundert Kinder aus rußland-deutschen Familien in sein Ferien-Lager für ethnokulturelle Entwicklung aufgenommen.
3. In Uljanowsk (September 2010) findet das Allrussische Festival der Kultur der Rußland-Deutschen unter dem Motto „Wir sind Teil deiner Geschichte, Rußland. Wir sind dein Volk!“ statt, und zwar im Rahmen des Kulturforums „Rußland – Rußland-Deutsche – Deutschland“. Im Jahr der Feierlichkeiten zum 65. Jahrestags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg können die Rußland-Deutschen die Öffentlichkeit durch diese Art von Veranstaltungen mit der wichtigen Information darüber bekannt machen, dass es den Rußland-Deutschen, trotz aller ungerechtfertigten Anschuldigungen, trotz Deportation, Lager und Trudarmee, gelungen ist, standzuhalten, die Liebe zum Vaterland nicht zu verlieren und gemeinsam mit Russen, Ukrainern, Tataren, Tschuwaschen u.a. ihren Beitrag zum Sieg über die Faschisten zu leisten (s. weiter unten – Seite 239: „Anhang 8. Über sowjetdeutsche Frontkämpfer“). Auf dem Festival werden Konzerte gegeben und andere kreative Auftritte der Rußland-Deutschen in Dörfern, Universitäten und Schulen sowie den Freilichtbühnen von Uljanowsk stattfinden.
4. Im Oktober 2010 (Moskau) findet die 13. wissenschaftliche Konferenz der internationalen Vereinigung von Geschickts- und Kulturforschern der Rußland-Deutschen zum Thema „Bürgerliche Identität und innerere Welt der Rußland-Deutchen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges und in der historischen Erinnerung der Nachfahren“ statt. Auf dieser Konferenz sollen insbesondere folgende Probleme erörtert werden, die inhaltlich unserem Buch sehr nahe kommen: das Erscheinungsbild der bürgerlichen Identität der Rußland-Deutschen in den ersten Wochen und Monaten des Krieges an der Front und im Hinterland; die Transformation der bürgerlichen Identität und inneren Welt unter dem Einfluß der Politik des Sowjetstaates in Bezug auf die Rußland-Deutschen; der Beitrag der Rußland-Deutschen am allgemeinen Sieg des Sowjetvolkes über die faschistischen Eindringlinge in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges; die bürgerliche Identität und innere Welt der Rußland-Deutschen in den Kriegsjahren und die historische Erinnerung der Nachfahren“.
Das angeführte Beispiel der Thematik im Hinblick auf die Ereignisse, die auf das Los der Rußland-Deutschen entfielen und in der Gegenwart zu entscheiden sind, entspricht unserer Meinung nach dem heutigen Niveau aller bisher gesammelten historischen Materialien über unsere Vorfahren, und unsere neue Generation wird weiter ihr Interesse bekunden und mit der Suche nach der Wahrheit fortfahren.