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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Mein Umzug nach Moskau

Meine Ankunft aus Astrachan in Moskau fand im Dezember 1940 statt. Onkel Karl hatte mich an der Schule N° 626 in der 7. Klasse angemeldet. Die Lehrkräfte nahmen mich freundlich auf, obwohl sie mich später ab und an „astrachaner Hering“ nannten. Sie begriffen allerdings schon bald, dass ich ein guter Schüler war, der hohe Noten bekam – ihr Verhalten mir gegenüber besserte sich, und der „Hering“ wurde fallen gelassen. Onkel Karl verlangte von mir nur gute Noten. Ich merkte, dass das Lernen an den Moskauer Schulen schwieriger war, als an den Schulen in der „Provinz“, was Onkel Karl von Astrachan stets zu sagen pflegte. Als ich in Astrachan losfuhr und mich von der Mama verabschiedete, die an der Waggontür stand, sprach ich Lermontows Worte: „Leb wohl, du ungewaschenes Rußland, Land der Sklaven, Land der Herren, und ihr himmelblauen Uniformen, und du mein ihnen so ergebenes Volk“. In diesem Augenblick war Astrachan für mich eine widerliche, schmutzige Stadt, die mir den Vater genommen hatte. Mich erwartete nun Moskau – Onkel Karl, Tante Maljuscha, Viktor, Elsa und Onkel Mischa. Onkel Karl und Tante Maljuscha holten mich vom Pawelezker Bahnhof ab. Aber mein geliebter Onkel Kolja war nicht mitgekommen. Tschekisten der Lubjanka hatten ihn im März 1938 festgenommen. Und, genau wie Papa, hatte auch Onkel Kolja auf seinen Arrest gewartet; nachdem er von seinem Arbeitsplatz entlassen worden war, hatte er sich einen ganzen Monat zuhause in der Worowskij (Powarskij)-Straße aufgehalten und war nicht mit Tante Maljuscha aus Moskau abgefahren, um seine Spuren zu verwischen. Onkel Kolja hätte nämlich wissen müssen, dass auch er für eine Verhaftung auserkoren war, denn den Deutschen Kurz, seinen Chef, hatte man auch schon geholt – er war Regierungsmitglied und Vorsitzender der Intourist-Organisation in der UdSSR. Es ist anzunehmen, dass Onkel Kolja, genau wie Papa, noch an die gerechten Taten der Sowjetmacht glaubte. Elsa, seine Tochter, äußerte sich zu diesm Anlaß mit folgenden Worten: „Und wozu hat Papa einen ganzen Monat in Moskau gesessen? Worauf hat er gewartet? Er hat gewartet, bis man ihn abgeholt hat!“ Natürlich läß es sich heute leicht darüber urteilen, wie man sich damals hätte verhalten sollen. Aber damals hatte man mit seinem Verhalten keine Erfahrung. Indessen hatte sich Kurz vor der Sowjetmacht in mancherlei Hinsicht verdient gemacht, denn er hatte zu Zarenzeiten als einer der Beförderer der leninschen Zeitung „Funken“ aus dem Ausland, über Bessarabien, nach Moskau von sich Reden gemacht.

Onkel Karls Gehalt betrug 600 Rubel, zusätzlich verdiente er noch ein wenig Geld mit dem Abschreiben von Noten. Was mich betraf, so hatte er vor, mich nach Beendigung der 7. Klasse auf das Werkzeugmaschinenbau-Technikum zu schicken, und wenn dann drei Jahre später die Möglichkeit bestünde, dann sollte ich mein Studium am Institut fortsetzen. Das Technikum gestattet es einem, möglichst schnell einen spezialisierten Beruf zu erwerben, wobei der Zeitaufwand dem Besuch einer Mittelschule gleichkommt, bei der es allerdings keine Fachrichtungen gibt.

Onkel Karl meldete Tante Katja zu Schneiderkursen an, die sie auch erfolgreich beendete und dann zu Hause damit anfing, Bestellungen entgegen zu nehmen, an denen sie gut verdiente. Ihre Näharbeiten waren von hoher Qualität, modisch und geschmackvoll. Von ihren Kunden wurde sie stets sehr gelobt. Onkel Karls Hoffnungen bewahrheiteten sich. Onkel Karl kümmerte sich um mich, und es war seinTraum, mich an die Musik heranzuführen. Dazu vereinbarte er mit meinem Vetter Wolodja Held, der mit seiner Ehefrau am Moskauer Konservatorium unterrichtete, dass sie mir Unterrichtsstunden erteilen sollten. Sie stellten für mich einen Stundenplan auf (einmal pro Woche), Onkel Karl war zufrieden, dass ich nun in die Welt der Musik eintauchen würde, um so mehr, als doch in unserem großen Zimmer Tante Maljuschas neues deutsches Klavier der Marke „Wagner“ immer noch „schweigend“ dastand. Am 2. Mai 1941 waren Onkel Karl und ich zu Besuch bei Tante Marusja, Schura und Marischa Fink zu Besuch in der Wojkowskaja (Straßenname; Anm. d. Übers.). Marischa befand sich in einer sehr schlechten Verfasung, sie war an Tuberkulose erkrankt. Am folgenden Tag erfuhren wir, dass Marischa verstorben war. Sie war eine hervorragende Turnerin und Sportlerin gewesen. Sie war völlig abgemagert; wir hatten ein lebendes Skelett vor uns gesehen. Es ist furchtbar traurig, dass sie in so jungen Jahren verstorben ist.

Noch im Winter hatte Onkel Karl mir in einer Zoohandlung auf der Kusnezker Brücke einen Stieglitz gekauft, für den ich sorgte, ihn fütterte und seinen Käfig reinigte. Mit Einsetzen des Frühlings wurde er lebhafter; es war klar, dass er sich nach der Freiheit sehnte, und so beschlossen Onkel Karl und ich ihm diese zu gewähren. An einem sonnigen Tag öffneten wir draußen im Hof seinen Käfig, und unser kleiner Stieglitz flog auf und davon. Später wurde das Haus hinter der Moskwa, in der Pjatnizker Straße N° 29, mit der Wohnung N° 8 in der dritten Etage, in der Onkel Karl mich nach der Verhaftung des Vaters aufgenommen hatte, zu unserem vierten HEILIGEN Ort, den Witja und ich bei jeder Ankunft aus Sibirien in Moskau besuchten.

Ende Mai begannen die Examina in der Schule. Onkel Karl war um mich sehr besorgt. Aber ich gab ihm dazu überhaupt keinen Anlaß – jede Prüfung mit der Note „hervorragend“ erfreute ihn, und nachdem ich die 7. Klasse als bester Schüler absolviert hatte, schenkte Onkel Karl mir einen deutschen Füllfederhalter mit vergoldeter Feder und einer Pipette zum Einsaugen der Tinte. Es ist unendlich schade, dass sich 1944 der Kommandant der tajmyrer Sonderkommandantur, Hauptmann Stepanow, den Schreiber in unverschämter Weise aneignete und ihn mir nach meiner Freilassung aus der Haft nicht wieder zurückgab, wobei er mir verkündete, dass er „ihn wohl verloren haben müsse“; wie konnte er ihn verloren haben, wenn er doch zusammen mit all den anderen Sachen, die man von mir konfisziert hatte, auf seinem Schreibtisch gelegen hatte? Das ereignete sich in Dudinka. Aber einstweilen, im Juni 1941 in Moskau, holten mich Viktor, Tante Maljuscha, Marusja und Swetlana im Sommer zu sich auf die Datscha, die sich 37 km vom Kiewer Bahnhof entfernt befand. Hier wurde ich vom KRIEGSGESCHEHEN eingeholt.


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