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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Kriegsbeginn. Verhaftungen

Am Morgen des 22. Juni 1941 gingen Swetlana (die Tochter meines Vetters Viktor, sie war damals drei Jahre alt) und ich in den Wald, um Maiglöckchen zu pflücken. Auf dem Rückweg vom Wald zur Datscha mußten wir die Bahnschienen beim Weichenwärter-Häuschen überqueren. Als wir uns der Stelle näherten, bemerkten wir, dass am Himmel eine Menge Flugzeuge flogen, es war ein einziges dumpfes Gedröhn. In dem Moment trat der Weichenwärter aus seiner Hütte und sagte zu uns: „ Kinder, der KRIEG ist ausgebrochen, habt ihr gesehen, wie die Flugzeuge nach Westen fliegen?“ Swetlana und ich faßten uns bei den Händen und rannten so schnell wir konnten zur Datscha zurück. Dort saßen bereits alle Hausgenossen beisammen und lauschten der Stimme Molotows aus dem Lautsprecher. So erlebte ich den Beginn des Krieges. Im weiteren Verlauf kam es dann zu Verhaftungen – am 25. Juni holten sie Onkel Karl, worüber Viktor uns am 26. informierte; danach nahmen sie im Kaufhaus GUM meinen Vetter Schura Petri fest. Ich verließ die Datscha und begab mich nach Moskau, in der Hoffnung, von dort zu meiner Mutter nach Engels zu gelangen, denn nach Onkel Karls Verhaftung hatte sich meine Lage geändert. Der Kasaner und Pawelezker Bahnhof waren von Menschen restlos überfüllt, riesige Schlangen standen an den Fahrkartenschaltern, die beim ersten Fliegeralarm der Miliz zu den Luftschutzkellern und in die Metro-Eingänge auseinanderrannten – so war es praktisch unmöglich eine Fahrkarte zu kaufen. Zwei Tage, mit Übernachtung auf dem Bahnhof, verrannen für mich ohne Ergebnis. Ich hatte schrecklichen Durst. Ich sah, dass sie auf dem Kasaner Bahnhof Sodawasser verkauften; ich nehme ein Glas, und plötzlich umarmt mich jemand von hinten; ich wende mich um und sehe Tante Maljuscha. Oh, was für eine Freude! Und wie hatte Tante Maljuscha mich in dieser ungeheuren Menschenmasse entdeckt? Während ich in Moskau in der Schlange gestanden hatte, so berichtete mir Tante Maljuscha, hätte draußen die Evakuierung der Bevölkerung begonnen, und die Bewohner aus meinem Kirower Bezirk würden alle am 10. Juli auf Eisenbahnwaggons verladen.

Tante Maljuscha und ich fuhren in unsere Pjatnizker Straße zum Bezirksevakuierungsstab, wo ich eine Evakuationsbescheinigung sowie 75 Rubel erhielt. Dieses Dokument wird 28 Jahre später eine entscheidende Rolle spielen, als es um das Recht geht, 1969 aus Sibirien nach Moskau zurückkehren zu dürfen. Das Einsteigen auf die Lastwagen begann bereits um drei Uhr morgens. Evakuiert wurden in der Hauptsache Frauen mit Kindern, und ich war auch mit dabei. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie unser LKW, nachdem ich mich von Tante Marusja verabschiedet hatte, über den Roten Platz fuhr und die Uhr auf dem Erlöser-Turm gerade ganz genau 4 Uhr schlug. Damals sagte ich mir: „Diese Stunde muß man in der Erinnerung behalten, denn es herrscht bereits seit 18 Tagen Krieg“. Auf dem Sawjolowsker Bahnhof wartete bereits ein Güterzug auf uns, der für die Beförderung von Menschen umgerüstet worden war – un den Waggons befanden sich zweistöckige Pritschenreihen. Unterwegs erfuhr ich, dass der Zug nach Kasan fuhr, wo der Zugleiter mir erlaubte auszusteigen, um mit dem Dampfer weiter nach Saratow – Engels zu fahren.

Stadt und Gebiet Moskau waren verdunkelt, und nur weiter außerhalb tauchten erleuchtete Bahnhöfe auf. Ununterbrochen waren uns Züge entgegen gekommen: beladen mit Panzern und Soldaten; diese Züge mußten wir vorbeilassen und standen dabei häufig vorübergehend auf Abstellgleisen oder Ausweichschienen. Während der Fahrt wurden wir einmal am Tag verpflegt. Am dritten Tag erreichten wir Kasan. Mit Ausbruch des Krieges war eine neue Regel eingeführt worden: evakuierte Personen besaßen das Vorzugsrecht auf Beförderung. Deswegen brauchte ich mich an der Anlegestelle nicht unnötig in die Schlange einreihen, sondern bekam sogleich eine Fahrkarte für den ersten Dampfer, der nach Saratow auslief. Dies war der Raddampfer „Majakowskij“. der über ein einziges Deck verfügte. Dieser alte „Schinken“ wurde mit Kohle beheizt und bewegte sich ziemlich langsam voran. Am dritten Tag machten wir an der Anlegestelle „Saratow“ fest; somit war meine kurze Reise in der 3. Klasse glücklich zuende gegangen. Nun brauchte ich nur noch eine Überfahrtsmöglichkeit nach Engels ausfindig machen. Am Ufer der Wolga, nahe der Anlegestelle, sah ich viele Leute herumlaufen, die auf der Suche nach einem Lebensunterhalt waren. Ich bemerkte sogar einen Humoristen, der mit Kreide auf seinen Stiefelschaft geschrieben hatte: „Weniger als 5 Rubel – nicht wecken“, und er selber schlief, offensichtlich ein Ladearbeiter, denn unter seinem Kopf lag ein Rucksack. Schließlich sah ich ein Wunder – einen uralten Raddampfer mit zwei Bugs, aber ohne Heck. Seine Name lautete „Persidskij“ („Perser“; Anm. d. Übers.). Eine Menge Menschen strömten an Bord; auch ich befand mich unter ihnen - mit meinem Lederkoffer, in dem ich zwei Kilogramm Würfelzucker, eine Jacke, Papas deutsche Flachzange, meinen selbstgebastelten elektrischen Lötkolben, Unterwäsche, Seife und Sandalen herumtrug; alles andere waren Lebensmittel gewesen, und die hatte ich unterwegs schon aufgegessen.

Es war bereits Abend, als der „Perser“ in Engels am Ufer festmachte. Natürlich war niemand da, um mich abzuholen, denn ich hatte ja vorher nicht bescheidgesagt. Die Tschapajewskaja-Straße befand sich nicht weit vom Ufer entfernt. Ich näherte mich dem Haus N° 15; ich öffne die Pforte zum Hof und sehe auf der Veranda meine Mutetr stehen – sogleich ertönt ein Freudenschrei, gefolgt von einem Tränenausbruch, und alle Verwandten kommen herbeigelaufen.


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