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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Deportation nach Sibirien

Der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 veränderte unser Leben vollständig. Obwohl Onkel Kolja, ein aufrichtiger Kommunist, der an die kommunistische Gerechtigkeit glaubte, anläßlich dieses Erlasses meinte: „Das betrifft uns nicht“, sollte er sich irren – man gab uns zum Packen unserer Sachen drei Tage, und am 2. September lieferten sie uns auf Pferdefuhrwerken am zweiten Güterzug ab, dessen Waggons für die Beförderung von Personen bereits vorbereitet worden waren, denn man hatte sie mit zweigeschossigen Pritschenreihen ausgestattet. Wir nahmen mit unserer „Kolchose“ die unteren und oberen Pritschen auf einer Seite ein und brachten dort auch unser Gepäck sowie das Bettzeug unter. Mein Technikum blieb ein Wunschtraum. Weiterlernen konnte ich erst im Frühjahr 1942 in der Stadt Oraki, und weil es dort überhaupt keine achte Klasse gab, mußte ich die siebte noch einmal absolvieren. Einstweilen aber befinden wir uns auf der Fahrt ins ferne Sibirien – über Alma-Ata, Barnaul, Nowosibirsk, Atschinsk und Uschur, wo wir bereits von Fuhrwerken aus verschiedenen Kolchosen erwartet werden.

Diese ganze Strecke legten wir innerhalb von zwei Wochen zurück, mitten im September, dem „fruchtbarsten“ Monat des Jahres. Herrliche Honigmelonen, Wassermelonen und Äpfel hatten bei keiner Mahlzeit gefehlt. Und nun erhielt jeder Waggon einmal am Tag warmes Essen und einen Sack Brot. Wir beklagten uns nicht. Nur ein Problem war ständig präsent – der Gang zur Toilette. In der kahle Steppe strömten alle zweitausend Menschen des Zuges während eines Sonderaufenthalts auf die entgegengesetzte Seite des Waggons und verrichteten dort ihre Notdurft. An der Bahnstation Uschur nahm uns eine verarmte Kolchose aus der Ortschaft Kosongol auf, die sich 90 km von Uschur entfernt befand. Diese Wegstrecke, mit Übernachtung auf den Fuhrwerken, bewältigten wir in zwei Tagen. Das Wetter war herbstlich-trocken, überall auf den Feldern war die Getreideernte im Gange. Die Dörfer hier unterschieden sich von denen in der Deutschen Republik durch die Armseligkeit ihrer Hütten, deren Dächer mit Grassoden von hohem Gräserwuchs abgedeckt waren. So etwas bekommt man in Europa nicht zu sehen.

Kosongol. Man brachte uns in einem großen Haus unter und stellte uns dort ein großes, „freundliches“ Zimmer zur Verfügung; die Hausherren wurden in die Küche verfrachtet. Im Ort gab es eine Kolchose, eine Grundschule und einen Laden der landwirtschaftlichen Kooperative. In eine derartige Armseligkeit geriet ich also Ende September, nachdem ich mich noch im Juli 1941 in Moskau aufgehalten hatte. Wir wurden alle zu landwirtschaftlichen Arbeiten eingeteilt. Ich bekam ein Pferd und eine Stange, um von dem auf der Drusch stehenden Mähdrescher Stroh und Spreu „am Stock“ abzutransportieren. Die Technoligie meiner Aufgabe war simpel: gemeinsam mit dem Pferd trete ich an den Strohhaufen heran und schiebe die Stange von hinten ans Stroh; dann stelle ich mich auf die Stange und stütze mich mit meinem Körpergewicht auf das Stroh, wobei ich die Zügel in den Händen halte, während das Pferd den Strohhaufen schleifend zum Heuschober zieht. Sobald ich von der Stange absteige, ist die Operation beendet. Einen Monat später war die Heuernte abgeschlossen und man versetzte mich zur Tranportbrigade, welche die staatliche Getreidelieferung zum Getreidesilo in Uschur sicherstellen sollte. Jede Fahrt dorthin dauerte vier Tage, die ersten Fröste hatten bereits eingesetzt, und unser Tross ging dazu über, die Strecke mit Schlitten zu befahren, mit deren Hilfe die Produktivität der Getreide-Transporte verbessert wurde. Großmama, Tante Erna und Onkel Kolja fanden eine Lehrtätigkeit in der Ortschaft Oraki, wohin Mama und ich ebenfalls umzogen. Hier gab es eine Sieben-Klassen-Schule, an der ich die siebte Klasse noch einmal wiederholte. Im Januar 1942 wurde Onkel Kolja in eine Arbeitskolonne des NKWD mobilisiert (später wird die Sowjetpropaganda sie als „Arbeitsarmee“ bezeichnen), obwohl er an Tuberkulose erkrankt war und sich eigentlich jeden Monat einmal in der Bezirksklinik vorstellen sollte. Doch das Kriegskommissariat änderte seine Entscheidung nicht, sondern verlangte, dass die angeordnete Einberufung auch vollzogen wurde. Das bedeutete für Onkel Kolja das Todesurteil – im Frühjahr, auf dem Weg nach Hause, verstarb er. Die siebte Klasse absolvierte ich mit Leichtigkeit als Klassenbester, verlor allerdings, da es keine achte Klasse gab, ein ganzes Jahr. Im Frühling war ich, wie alle anderen jungen Leute auch, bei Feldarbeiten beschäftigt – ich arbeitete, zu Pferde sitzend, mit der Egge; in dieser Zeit schliefen wir in einem sogenannten „Kulturstützpunkt“ – einem Haus mit Eisenofen und zweigeschossigen Pritschen mit Stroh.

Aber man vergaß uns Deutschen nicht – in den ersten Tagen des Juni 1942 wurden Mama, Minotschka und ich in den Norden mobilisiert. Wohin sie uns bringen wollten, das erfuhren wir erst später; einstweilen gaben sie uns vierundzwanzig Stunden Zeit zum Packen, und dann ging es zur Bahnstation Uschur, wo bereits der Zug auf uns wartete. Man lieferte uns, wie viele andere auch, in Krasnojarsk, an der Eisenbahnstation Jenisej, ab. Erst hier am Flußufer erfuhren wir, dass sie uns noch weiter transportieren wollen – offenbar in den äußersten Norden, die zweite Repatriierung der Deutschen wird fortgesetzt. Mama hatte vorsorglich schon in Oraki ein paar flauschige Kissen gegen geschmolzene Butter und Mehl eingetauscht. Nun, da wir nicht wußten, was noch alles auf uns zukommen würde, hüteten wir sorgsam unseren eisernen Deckelkrug mit den kostbaren Nahrungsmitteln. Mehrere Tage zog man uns zur Ausrüstung der Leichter heran, mit denen die Menschen befördert werden sollten; man errichtete in den Frachträumen drei- bis viergeschossige Pritschenreihen und zusätzliche Toiletten. An der krasnojarsker Anlegestelle wurde ich ganz zufällig Zeuge dessen, wie die „Leitung“ uns einschätzte, welche Wertvorstellung sie von uns hatte. Ich sehe einen Mann, von der Kleidung her wohl ein Finne, der sich einer Gruppe Männer in NKWD-Uniformen nähert; er wendet sich an den Major, zeigt seinen Paß vor und fragt: „Mein Paß ist abgelaufen, wo kann ich ihn verlängern lassen?“ – Der Major nimmt dem Finnen das Dokument aus der Hand und zerreißt ihn vor den Augen aller Umstehenden in vier Teile, die er anschließend vom Steg aus in den Fluß wirft. „Du brauchst jetzt keinen Paß mehr; mach’, dass du auf den Leichter kommst“ war die Antwort. Später erfuhr ich, dass der Major der Chef der regionalen Tajmyrer NKWD-Behörde Owtschinnikow war; bei den anderen, die um ihn herumstanden, handelte es sich um sein Gefolge. Nachdem ich die Szene miterlebt hatte, wußte ich, was wir nun für Menschen waren.

Am 12. Juni 1942 setzte sich unsere Schiffskarawane mit dem Leichter N° 15 an der Spitze, sowie sieben kleineren Schiffen und dem mächtigen Bugsierschiff „Kujbyschew“, von Krasnojarsk aus in Bewegung, um mit der Strömung flußabwärts in den äußersten Norden der Halbinsel Tajmyr zu fahren. Das war die allererste Partie Sondersiedler. Wir waren zu zweit auf dem Leichter N° 15 untergebacht, ganz oben auf einer Pritsche, die direkt gegenüber der Ausstiegsluke gelegen war – durch sie war es für uns leichter an Deck zu gelangen; wir mußten dadurch nicht erst aus der vierten Pritschenreihe ganz nach unten klettern und von dort über das Fallreep an Deck steigen. Auf dem Leichter N° 15 befanden sich insgesamt 1500 Personen, und sogleich kam das Problem der Abortbenutzung auf; es waren nicht ausreichend zusätzliche Toiletten eingerichtet worden, ständig bildeten sich lange Schlangen. Ich war von diesem Problem nicht betroffen, denn ich benutzte das Falschbord am Heck, von wo aus man sich mit Hilfe einer Trosse unter das Heck herablassen konnte. Mit hoher Geschwindigkeit passierten wir die Kasatschinsker Stromschnellen, alle genossen den wunderschönen Anblick der wilden Natur, der hohen, steinigen Ufer und des sauberen, hellgrünen Wassers der in den Jenisej einfließenden Angara. Warmes Essen aus dem Kessel gab es an Bord des Leichters nicht. Die Menschen begannen zu hungern und krank zu werden. Wir schwimmen nun schon eine ganze Woche auf dem Wasser; und da, in Turuchansk, an der Stelle, an der die Podkamennaja Tunguska mit dem Jenisej zusammenfließt und an der er ganz besonders breit wird, geriet unsere Karawane in einen heftigen Gegensturm. Die Wellen schlugen über das Deck, und das Wasser stürtze in die offenen Luken. Die Menschen sprangen von ihren Etagenpritschen und stürzten zum Fallreep am Ausgang, wo bereits ein großes Gedränge enstanden war. Plötzlich erscholl ein Schrei – Wir si-i-i-nken!
Panik brach aus. Die Menschen verließen das Fallreep wieder und drängten zurück in den Frachtraum, Geschrei, Lärm; aber die Angst ging schnell wieder vorüber, als unser Bugsierschiff „Kujbyschew“ die gesamte Karawane in einem Wendemanöver die Richtung, entgegen der Strömung und der Windrichtung, ändern ließ. Die Passagiere beruhigten sich allmählich wieder; nur der lettische Chor begann vierstimmig sein Abednrepertoire zu singen. Nach zweiwöchiger Fahrt mußten wir in Igarka eine Desinfektionsbehandlung durchlaufen. Etwa auf der Höhe von Kurejka überquerten wir den Polarkreis, und nun ging die Sonne am Horizont vierundzwanzig Stunden nicht mehr unter.


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