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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Meine einzige Liebe

Mein Leben im Norden brachte, neben meiner Haupttätigkeit beim Fischfang, auch zwei unvergeßliche, glückliche Erlebnisse mit sich: die Liebe und das Lernen. Bereits im Sommer 1943, nachdem ich die Bekanntschaft mit Viktoria Walter gemacht hatte, sahen wir uns häufig, begannen uns richtig kennnenzulernen und trafen uns bei Tanzveranstaltungen.

Und irgendwann einmal kam es so, dass Viktoria und ich nach dem Tanzen im Ust-Chantajsker „Klub“ (einem Zimmer der Baracke) gemeinsam nach Hause gingen. Es war eine reine, klare Nacht mit Nordlichtern am Himmel, Frost von mehr als 40 Grad – und die ganze Siedlung war vom Licht des Vollmonds angestrahlt. Wir blieben an dem Stapel mit Holzmaterialien stehen, und ich schlug Witja vor – „Laß uns Freunde sein, ich liebe dich“. Witja war einverstanden. Das war am 17. Dezember 1943. In jener Nacht spazierten wir noch eine ganze Weile durch die schlafende Siedlung und stellten einander „dümmliche“ Fragen. Lange traten wir auf den Stufen des Ladens von einem Fuß auf den anderen, denn unsere Füße froren bis zur Gefühllosigkeit: ich trug lediglich Schnürschuhe und Witja trug Filzstiefel, die bei derartigen Frost als Schuhwerk ebenfalls nicht geeignet waren. Aber keiner von uns wollte sich von dem lieben und geliebten Menschen trennen. Aber der Frost forderte schließlich das Seine – wir standen an Witjas Tür in Erwartung einer Antwort auf die letzte Frage, aber dann bin ich doch irgendwann mit eisigen Füßen, ungefähr 100 m weit, nach Hause gelaufen. Nun, nachdem meine Freundschaft mit Witja begonnen hatte, fuhr ich jeden Abend nach der Kontrolle der Netze auf Skiern, mit einem Rucksack voller gefrorener Fische, in die Siedlung zurück, um bei Sujew den Fisch abzugeben; anschließend ging ich zu Witja nach Hause oder zur neuen medizinischen Betreuungsstelle, wo wir mit den Ingenieuren von der Chantajsker Expedition zusammentrafen. Wir spielten Karten oder Lotto, erzählten uns Neuigkeiten. Von den Ingenieuren erfuhren wir eine ganze Menge über deren Forschungsarbeiten am Flüßchen und am See Chantajka; man hatte die Absicht, dort für die Stromversorgung von Norilsk ein mächtiges Wasserkraftwerk zu errichten. Interessant und frühlich ging es inmitten der „gestrigen“ Studenten zu, und zum Schluß kam jedesmal der „lange“ Abschied und das Herumstehen mit Witja vor deren Haustür. Ich wünschte mir jede Begegnung mit Witja sehnlichst herbei: sie erzählte von der Stadt Engels, wo ihre Familie gelebt hatte, von ihren Eltern und ihrem Bruder Harald, während ich von Moskau und Astrachen berichtete. Bei Schneesturm stellte Witja immer eine Lampe ins Fenster, damit ich mich an deren Lichtschein orientieren konnte, wenn ich mit meinen Skiern über den Jenisej lief. Jeder Samstag wurde von uns mit großer Ungeduld erwartet, denn abends fanden die Tanzveranstaltungen unter dem Klang von Balalajka und Mandoline oder dem Akkordeon statt. Wir tanzten alles, was es an Tänzen nur gab – bis zum Umfallen. Witja und ich mochten unheimlich gern zuammen tanzen, und ich selber gab auch keinem anderen die Gelegenheit sie aufzufordern. Wir liebten einander aufrichtig. Wer hätte damals daran gedacht, dass uns unsere Witenka 61 Jahre, 9 Monate und 19 Tage später verlassen würde? Es ist sehr schmerzlich!

Onkel Karl habe ich immer besonders warm und dankbar in meiner Erinnerung behalten. Was weiß ich über ihn? Sein Vater (mein Großvater) schickte ihn Ende der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts von der Wolga nach Moskau, um dort als „Laufbursche“ bei einem Kaufmann zu arbeiten und anschließend am deutschen Gymnasium und an der Musikfachschule den Unterricht zu besuchen; nach deren Abschluß war er als Geiger in Symphinieorchestern tätig, u. a. auch eine Zeit lang im Orchester des Moskauer Bolschoj-Theaters. Vor dem 1. Weltkrieg reiste er nach Deutschland, von wo er ein Mädchen aus einer deutschen Adelsfamilie – Tante Maschenka – mitbrachte, die er auch heiratete. Er besaß eine äußerst wertvolle Violine, die vom Schüler des großen italienischen Meisters für Streichinstrumente A. Stradivari (1644-1737) – N. Amati – gebaut worden war, die in den 1930er Jahren mit zehntausend Rubeln versichert wurde und neben 27 ebensolchen Geigen beim Ministerium für Kultur der UdSSR registriert war. (Man möge nur folgenden Vergleich anstellen: in Astrachan hatte Papa für das Haus mit den drei Fenstern nur 2000 Rubel bezahlt). Onkel Karl liebte Tiere und Vögel. Für die Kinder richtete er ein „Puppentheater“ ein und führte selber die Regie. Im Jahre 1904 kaufte Onkel Karl in Moskau im Haus N° 9/28 in der Pjatnizkij-Straße eine Vier-Zimmer-Wohnung. Er lachte immer, wenn er sagte, dass alle russischen Revolutionen an seinem Fenster vorübergezogen wären. Und tatsächlich, um aus dem Moskauer Gebiet zum Roten Platz zu gelangen, muß man durch die Pjatnizkij-Straße kommen. Deswegen war Onkel Karl so etwas wie ein unfreiwilliger Teilnehmer an den Umzügen und Prozessionen, die an seinem Fenster vorbeiführten. An der Eingangstür zu seiner Wohnung N° 18 brachte er 1904 ein kupfernes Schild mit seinem Namen „K.I. Petri“ an. Nach dem Oktober-Umsturz wurde die Wohnung in den 1920er Jahren verstaatlicht; man machte daraus eine Gemeinschaftswohnung für drei Wohnungsmieter, und dem Onkel blieben dort zwei Zimmer erhalten. Das Verhältnis der Bewohner zueinander war sehr gut. Am 22. Juli 1941 began der Krieg und drei Tage später, am 25. Juni, wurde mein Onkel Karl mitten in der Nacht verhaftet. Seine beiden Zimmer wurden sogleich von einem KGB-Offizier eingenommen, der nur auf diesen Moment gewartet hatte.

1960 kam ich zum ersten Mal nach den Repressionen im Tajmyr-Gebiet und in Sibiren wieder nach Moskau und begab mich in die heimatliche Pjatnizkij-Straße. Aufgeregt erklomm ich die Stufen zur dritten Etage, in der ich bis zum Krieg bei Onkel Karl gewohnt hatte. Voller Freude begrüßten mich die früheren Nachbarn und teilten mir mit, dass sie sich an meinen Onkel immer noch gut erinnerten, dass sie seinen Briefkasten umgehängt und damit sein Namensschild an der Tür verdeckt hätten. Auf diese Weise war das Schild in den 101 Jahren seiner Existenz 20 Jahre lang „auf der Flucht“ vor den Behörden.

Unsere ehemaligen Nachbarn hörten aufmerksam und mit großem Interesse meinen Bericht über die durchgemachten 12 Jahre. Diesen guten Menschen bin ich von Herzen dankbar, dass sie Onkel Karl ein so ehrendes Andenken bewahrt haben. Sie gaben mir einen Schraubenzieher, damit ich das Türschild, das ich heute in meinem häuslichen Archiv in Hamburg aufbewahre, als „verdienter“ Erbe an mich nehmen konnte.

Aber kehren wir nach Dudinka zurück. Nach einer auf Lügen beruhenden Anklage, dem einwöchigen Einsitzen in der Untersuchungszelle und dem Freispruch von Richter Lebedew (Oktober 1944) ging ich in die Freiheit hinaus und begab mich zu der mir bekannten, guten deutschen Schuhmacher-Familie Roppeldt – den betagten Eltern mit ihrem Sohn Alfons und Tochter Viktoria, die in meinem Alter waren. Die erste Oktoberhälfte des Jahres 1944 war bereits vergangen, es herrschte Winter, überall lag Schnee, und im Technikum würde schon sehr bald (am 15.) der Unterricht beginnen. Am folgenden Tag fuhr ich mit der Schmalspurbahn von Dudinka nach Norilsk. Für die 90 km brauchte sie 12 Stunden, denn die Schienenstrecke war durch zahlreiche Schneewehen versperrt, und die Passagiere, die sich in einem Waggon befanden, mußten sich aus dem ersten Güterwagen Brecheisen und Schaufeln zur Säuberung des Schienenweges holen. Es gelang uns, die kleine, aus den Schienen gesprungene Lokomotive mit hölzernen Hebestangen und Brecheisen wieder auf die Schienen zu setzen, und dann fuhren wir in dem heftig wütenden Schneesturm weiter. Unterwegs wurden wir einmal mit Wasser und Kohle versorgt. Norilsk begrüßte die eingetroffenen Passagiere mit einer scharfen Kontrolle aller Dokumente durch die Tschekisten, was auch nicht verwunderlich war, denn wir waren in einer Lagerzone dicht beieinander lebender „Volksfeinde“, mit einem Kontingent von 100000 Häftlingen mit Haftzeiten von 10 bis 30 Jahren, angekommen. Mein „weißer Paß“ (das Ausweispapier eines Sondersiedlers, das von der Kommendantur ausgestellt worden war), sowie die Einladung zum Studium am Technikum riefen bei den Kontrolleuren keinerlei Einwände hervor. Ich ging auf einer Straße zum Technikum, zu deren beiden Seiten sich dichtgedrängt die Konzentrationslager mit ihren mit Stacheldraht eingezäunten Baracken und den Wachtürmen befanden. In meinem Gedächtnis ist ein Bild erhalten geblieben, das ich danach mein Leben lang nie wieder sah: in der Lagerzone lagen, in gleicher Höhe mit den Baracken, zwei Kleiderhaufen – einer mit den Uniformen deutscher Soldaten, der andere – mit ihren Schuhen. In beiden Haufen krochen wie Ameisen Häftlinge herum, um sich Sachen entsprechend ihrer Kleidergröße herauszusuchen. Zu dieser Zeit herrschten etwa 20-30 Grad Frost. Bei der empfindlichen Kälte waren die Gefangenen in großer Eile, denn sie waren nur halb bekleidet, das heißt sie trugen lediglich ihre Unterwäsche. Das nannte sich „Selbstbedienung bei der Versorgung der Volksfeinde mit Industriewaren“. Das Technikum befand sich in einem zweistöckigen Lehrkomplex und besaß für die Studenten zwei von der Lagerzone durch Stacheldrahtzäune abgegrenzte Baracken. Jede Baracke war, je nach Spezialgebiet, für 25 Studenten bestimmt: Bergbau und die Verhüttung von Buntmetallen. In jeder Baracke standen 25 Eisenbetten (die Gefangenen schliefen auf doppelstöckigen Pritschen), zwei Ziegelöfen sowie ein Waschbecken mit zehn Hähnen des weiteren gab es einen Gemeinschaftskleiderständer, an jedem Bett einen Nachttisch und einen gemeinsamen Tisch zur Erledigung der Hausaufgaben. Die Registrierung aller eingetroffenen Studenten wurde vom stellvertretenden Direktor des Technikums, Akulow, durchgeführt. Ich geriet als zukünftiger „Spezialist für Buntmetalle“ in die zweite Baracke. In der Kantine wurde für uns dreimal täglich die Ausgabe einer guten Verpflegung organisiert.

In der ersten Unterrichtsstunde lernten wir unsere Mathematik- und Physiklehrer kennen. Ihre Augen strahlten vor Glück, dass sie, wie in früheren Jahren, als es die Häftlingslager noch nicht gab, junge Menschen vor sich sahen – Studenten, denen sie nun hier am Technikum die Grundlagen der Wisschenschaften auf Hochschulniveau beibringen wollten, denn ihre Kenntnisse, die sie als Akademiker und Professoren an den Universitäten der Hauptstadt erworben hatten, konnten sie doch nicht einfach auf das Niveau von Mittelschulen sinken lassen. Wissenschaft braucht Freiheit, so wie alle Lebewesen die Luft zum Atmen benötigen. Das Technikum (auf dessen Grundlage wurde in der Gegenwart die Staatliche Bildungseinrichtung für höhere berufliche Ausbildung, das „Norilsker Industrie-Institut“ organisiert) befand sich unter behördlicher Unterstellung und besaß deshalb ein Unterrichtsprogramm, das seinen Interesssen und Möglichkeiten entsprach. Und die waren maximal – Lehrkräfte mit höchstem Bildungsniveau; gerade sie waren während der Diktatur des Proletariats, wie wir wissen, als „Volksfeinde“ in Erscheinung getreten. Sie waren Autoren bekannter Bücher und Lehrbücher aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaft und Technik, man lauschte ihren Vorlesungen mit angehaltenem Atem, schrieb Wort für Wort mit, denn es gab überhaupt keine Lehrbücher oder nur vereinzelte Ausgaben, welche die zahlreichen Studenten sich dann miteinander teilen mußten. Die Woche verging für mich wie im Traum, ich war in eine neue, langersehnte Welt eingetreten, die Welt der Wissenschaft, die Welt großartiger Menschen und Denker. Nach einigen Tagen des Lebens in der Baracke fühlte ich, dass ich von Läusen befallen war – und zwar massenhaft. Während der Unterrichtsstunden merkte ich, wie sie mir den Hals hinauf hinter die Ohren krochen, und ich zerquetschte sie, ohne dass meine Nachbarn es merkten. Ich denke, dass die Läuse vom allgemeinen Kleiderständer für die Oberbekleidung auf meine Sachen umgezogen waren. Seife besaß ich nicht, denn die hatte ich ja im Gefängnis von Dudinka meinem Zellennachbarn geschenkt. Allerdings wurde dieses ganze Läuseproblem zum Ende der Unterrichtswoche recht schnell und einfach durch Akulow gelöst, der mich aus dem Technikum hinauswarf, sobald er erfahren hatte, dass ich Deutscher war. Es war nämlich so, dass gemäß dem Lebensmittelmarken-System jeder von uns beim Umzug an einen anderen Wohnort verpflichtet war, eine Bescheinigung laut Formblatt N° 7 vorzuweisen, dass er an dem und dem Tag des betreffenden Monats seine Lebensmittel- und Industriewarenmarken abgegeben hatte; dafür sollte er dann am neuen Wohnort neue Marken erhalten. Als Fischer hatte ich mich in einer sogenannten zweckgebundenen Versorgungslage befunden und hatte deswegen keine monatlichen Marken, sondern aufgerollte Bezugsscheine im Gegenzug für den abgelieferten Fisch erhalten. Akulow war aufgefallen, dass ich ihm kein Formblatt N° 7 ausgehändigt hatte, und rief mich daher zu sich ins Kabinett. Ich erklärte ihm alles. Da fragt er mich: „Wie bist du denn ins Tajmyr-Gebiet geraten?“ – Ich antwortete, dass man mich dort 1942 als Sondersiedler abgeliefert und ich dort als Fischer gearbeitet hätte. „Warte mal – und welcher Nationalität bist du?“ – Ich erwiderte, dass ich ein aus Moskau stammender Deutscher sei. „So-so, Petri, ein Technikum für Deutsche haben wir nicht vorgesehen. Du kannst gehen!“ – Als ich das Kabinett verließ, bemerkte ich, wie er in die Liste unser Gruppe neben meinen Nachnamen ein Kreuzzeichen setzte. Am Morgen erging dann der Befehl ..... L.O. Petri auf eigenen Wunsch aus dem Technikum zu entlassen“. Die Studenten sahen diese Anordnung und sagten mir, dass das Betrug sei – eine illegaler Ausschluß. Sie gaben mir den Rat, mich an die Norilsker Staatsanwaltschaft zu wenden. Und ich ging, allerdings nur bis nach Dudinka, wo mir meine gutherzigen Alterchen mit einem solchen Kamm, einem richtigen Seifenbad und einer erneuten Dampfreinigung meiner Kleidung behilflich waren, meine „Weggefährten“ auf immer und ewig los zu werden. Zusammenfassend kann ich jetzt sagen, dass Akulow mich mit seinem Kreuzchen auf einen Schlag von zwei meiner Probleme erlöste – dem gefährlichen Ungeziefer und der Ausbildung. Ich war schrecklich gekränkt und schmerzlich getroffen wegen des ungerechten Verlusts meiner Verbindungen zur Wissenschaft, dem geistigem Schaffen und dem Kontakt zu großartigen, klugen Menschen. Und wenngleich ich in puncto Bildung aufgrund meiner Nationalität ein politisches Opfer war, so blieb doch die Entwicklung nicht stehen – es ging trotz allem immer vorwärts. Das war für mich in der damaligen Zeit ein großer Sieg. Im Technikum hatte ich bemerkt, dass ich unter den 50 Studierenden der einzige Sondersiedler war, aber wie gesagt – man hatte mich schnell „entlarvt“. Ein im Alter von 18 Jahren verspielter Sieg ist noch längst keine Tragödie fürs ganze Leben!

Alle astrachaner Mitarbeiter des Staatlichen Tajmyrer Fischfangkonzerns, der mich dank Jurij Jankowitschs Hilfe eingestellt hatte, brachten mir viel Aufmerksamkeit entgegen; sie sahen, wie sehr ich mich bemühte, meine neuen Bekanntschaften als professionelle Schule zu nutzen. Sie waren für mich wie Lehrer. Nachdem ich alle Abteilungen durchlaufen und vielen Gesprächen über Produktionsthemen gelauscht hatte, begann ich die für mich neue Arbeit zu bewerten und anzuerkennen. Besonders gut freundete ich mich mit dem Leiter der produktionstechnischen Abteilung Jerschow an, einem erfahrenen Ingenieur und guten Ratgeber in vielen Fragen und Problemen. Wie nun erlebte ich das Ende des Krieges? Am Morgen des 9. Mai 1945, auf dem Weg zur Arbeit, vernahm ich plötzlich von den hohen Eingangsstufen des Vorbaus den Ruf „S-I-I-I-E-G! S-I-I-I-E-G!” Das schrie eine unserer Mitarbeiterinnen; der Funker hatte ihr diese langersehnte Neuigkeit mitgeteilt, mit ich später für nicht sehr lange Zeit zusammenwohnen sollte. Sogleich setzte sich unser Parteiorganisator mit dem Bezirkskomitee der WKP (B) in Dudinka in Verbindung und informierte ihn darüber, dass die ganze Stadt um 13 Uhr zu einer feierlichen Versammlung kommen solle. Unsere Freude kannte keine Grenzen. Alle ließen ihre Arbeit im Stich und begannen gegenseitig Erinnerungen und Probleme auszutauschen: das Markensystem und die Abfahrt an die Wolga (denn sämtliche Ingenieure der Einrichtung stammten aus Astrachan). Um ein Uhr mittags trafen unser Konzernkollektiv und ich zu der Versammlung ein. Der Platz war voller Menschen, ein Blasorchester dröhnte; man hatte auch schon eine Tribüne errichtet, auf der mit roten Bannern alle hohen Herren aus der Stadt und dem Umland standen. (Eine Fotografie dieser Zusammenkunft, auf der ich war, befindet sich im heutigen Journal „Dudinka“, 2002). Die Versammlung endete mit der Verabschiedung einer an den Kreml gerichteten Resolution.
Meine Freude über den Sieg setzte sich am Abend mit Witja bei einem Konzert der künstlerischen Laiengruppe und beim Tanz im Hafenklub fort. So ging für mich, während ich im Hohen Norden weilte, der verfluchte Krieg zuende, von dessen Ausbruch ich zuerst am 22. Juni 1941 vom Weichenwärter am Kilometer 37 der Kiewer Eisenbahnstrecke gehört hatte; über sein Ende wurde ich am 9. Mai 1945 informiert, als ich den Siegesschrei vernahm, der vom überdachten Eingang des „Staatlichen Tajmyrer Fischfangkonzerns“ herüberscholl. Ein halbes Jahr lebte ich bei der Familie Roppeldt; ich bin ihnen heute noch dafür dankbar. Und dann, im Mai 1945, holte mich der Leiter der Rundfunkstation des Konzerns, Konstantinow, zu sich, mit dem ich einträchtig zusammenwohnte, bis meine Mutter aus dem Norilsker Konzentrationslager zu mir kam. Da stellte mir der Konzern auf dem Dachboden ein kleines Zimmer zur Verfügung, hinter dessen Bretterverschlag noch ein junges Paar wohnte. Das elektrische Licht war spärlich – es gab nur eine rote Glühbirne, die Küche wurde gemeinschaftlich mit den Nachbarn genutzt.

Die Geschichte mit Mama war sehr traurig verlaufen. Wie war sie ins Norislker Erziehungs- und Arbeitslager geraten? Als man Mama, Tante Minna und mich im Frühjahr 1942 aus der Ortschaft Oraki, Scharypowsker Bezirk, Region Krasnojark, in den Norden deportierte, tauschte Mama vor der Abfahrt bei einem ortsansässigen Dorfbewohner einen Sack weißes Mehl und 5 kg geschmolzenes Fett gegen Kleidungsstücke ein. All diese Lebensmittel waren in einem eisernen Deckelkrug mit verschließbarem Vorhängeschloß untergebracht. Dieser Krug „half“ uns bis zum Herbst 1944, als Mama von der Leitung der Kolchose „Nordweg“ zur Bäckerin in der Bäckerei von Ust-Chantajka ernannt wurde. Mama hatte schon geahnt, dass man sie möglicherweise des Diebstahls von Mehl beschuldigen könnte, und war deshalb beim Auszug aus dem Haus, in dem wir wohnten, mit einer der uns nahestehenden Bekannten (noch aus der Zeit in Engels) übereingekommen, dass wir den Deckelkrug bei ihr unterstellen konnten. Eines Tages ging Mama zu der Bekannten hinüber, um ein wenig von dem guten Mehl (Weizenmehl) aus dem Topf zu holen, entdeckt jedoch, dass dieser restlos leer war – weder Mehl noch Butter befanden sich darin, obwohl das Vorhängeschloß ordnungsgemäß an seinem Platz hing. Um sich selber aus der Affaire zu ziehen, hatte die Hausherrin sogleich mit einer Verleumdungsklage Meldung an den Kommandanten erstattet und ihm von dem Mehlkrug berichtet, in dem Mama angeblich gestohlenes Mehl aus der Bäckerei verwahrte. Schnell hatte Hauptmann Stepanow eine entsprechende „Kriminalakte“ zusammengeschustert, die er ans Bezirksgericht in Dudinka schickte, das auch ich kurz zuvor „durchlaufen“ hatte, dann aber, wie oben berichtet, entlassen worden war. Mama wurde ohne Anwalt (sie selbst konnte sich nicht verteidigen) in Abwesenheit von einem Gericht in Potapowo verurteilt und erhielt eine Haftstrafe für Kriminelle von 5 Jahren, obwohl es keinerlei Schuldbeweise gab – alles basierte auf einer blanken Verleumdung, einer Lüge, die mit der Verschickung ins Norilsker Lager endete. Dort brachte man ihr Verständnis und Güte entgegen (Mama war bereits krank), indem man ihr eine leichte Arbeit im Warmen verschaffte. Gleich nach Kriegsende wurde Mama im Mai 1945 amnestiert und traf in Dudinka ein, wo wir uns voller Freude wiedersahen. Nun können wir sagen, dass unsere ganze Familie Gefängniszellen durchlaufen hat: Papa (1938 – unschuldig erschossen), Mama (1944 – unschuldig zu 5 Jahren verurteilt) und ich (1944 – unschuldig in einem Strafverfahren) hatten als Verbrecher gegolten. Es schien, als ob die Menschen eingeteilt waren in solche, gegen die bereits eine Strafanzeige vorlag und gegen die nun ermittelt wurde (sie befanden sich noch in Freiheit) und solche, die bereits angeklagt worden waren (denen man die Freiheit bereits entzogen hatte). So sah die Realität jener Jahre aus.

Im Herbst 1945 ergab sich für mich die zweite große Freude, als nämlich in Dudinka die Abendschule der Arbeiterjugend eröffnet wurde. Alle meine Freunde aus den Reihen der Sondersiedler und auch ich meldeten sich inder Schule an. Witja und ich mußten noch die achte Klasse absolvieren. Es kam eine glückliche, aber auch mühsame Zeit mit täglichem Schulunterricht von 18 bis 22 Uhr – immer nach der Arbeit. Mit Lehrbüchern und schöngeistiger, klassischer Literatur verhielt es sich äußerst schwierig – es gab eine lange Warteschlange für einzelne Bücher, die man auch nur für eine einzige Nacht ausleihen konnte. Die Lehrkräfte waren qualifizierte Spezialisten, unter ihnen vor allem herausragende, einst repressierte Ingenieure mit den Fachbereichen Mathematik und Physik, die vor ihrer Verhaftung in Moskau und Leningrad studiert hatten.

Der wesentliche Teil der Schüler in den vollständig belegten Klassen bestand aus Jugendlichen, die wegen des Krieges mehrere Schuljahre an der regulären Tagesschule verloren hatten. Für die Lehrer war das Arbeiten mit Lehrbüchern schwierig, weil die Schüler auf einem ganz unterschiedlichen Wissensniveau standen. Besonders weit zurück waren Frontsoldaten, die lediglich Dorfschulbildung besaßen. Die Fremdsprache (Deutsch) mußten sie von Grund auf erlernen.

Aber dieses alltägliche Glück währte nicht lange – im April 1946 wurde der Staatliche Tajymrer Fischkonzern liquidiert, und ich stand ohne Arbeit da. Unsere komplette Planungsabteilung (5 Mann), mit Ausnahme von Leiter Wolkow, waren gezwungen in Dudinka zu bleiben, denn wir standen noch unter NKWD-Kommandantur, als die Astrachaner bereits an die Wolga zurückkehren durften. Aber erneut, nun schon zum zweiten Mal, war mir die Familie Jankowitsch bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz behilflich. Die Ärztin Natalia Viktorowna brachte mich mit einem ehemaligen Häftling zusammen, der in der Planungsabteilung der Dudinsker Hafenverwaltung des Norilsker Bergbau- und Hüttenkombiants des NKWD der UdSSR beschäftigt war, und der wiederum machte mich mit seinem Chef Rosanow (ebenfalls ein ehemaliger Gefangener) bekannt, der mich in die Planungsgruppe der Hafenabteilung für Wassertransportwesen schickte, die von dem Häftling Solowjow aus Leningrad geleitet wurde, der seinerzeit im „Fall Kirow“ aufgrund des Paragraphen „Mitglied einer trotzkistischen Organisation“ verurteilt worden war. Unsere Planungsgruppe sowie die gesamte Abteilung für Wassertransportwesen befand sich in der Zone der 4. Lagerabteilung, zu der man mit einem Passierschein Zutritt erlangte, denn wir arbeiteten mitten unter den Gefangenen - aus politischen Motiven verurteilten „Volksfeinden“. Dieses Durchgangslager durchliefen zu Stalins Zeit zahlreiche bekannte Leute, wie beispielsweise einer der ersten Entdecker von Bodenschätzen in Norilsk – Urwanzew, Kotowskijs ehemaliger Adjutant, der Schriftsteller Garri, der Gelehrte und Historiker Gumilew, die bekannten Schauspieler Smoktunowskij und Schschenow, der erste Sekretär des Zentralkomitees des Allrussischen Leninistisch-Kommunistischen Jugendverbandes Miltschanow. Im Hafen arbeitete die Tochter des erschossenen Sekretärs des Zentralkomitees des Allrussischen Leninistisch-Kommunistischen Jugendverbandes – Kosarewa, die zusammen mit ihrer Mutter als Familienmitglied eines „Volksfeindes“ ins Tajmyr-Gebiet verschleppt worden war. Auch die berühmte, in aller Welt bekannte Ballerina Uljanowa entging dem Lager nicht. Damals herrschte in unserer Lagerabteilung das Häftlingsgebot: „Vertraue niemandem, fürchte dich nicht und bitte um nichts....“.

An der Spitze der Abteilung Wassertransportwesen stand der talentierte Ingenieur und Schiffbauer und ehemalige Gefangene Rasin aus Leningrad; als Oberbuchhalter arbeitete dort der ehemalige Hauptbuchhalter der Rostower Dampfschifffahrtsgesellschaft – Häftling Chitrin, als Hafenkapitän der hochqualifizierte Schiffsführer der Reedereiflotte Birdjugin, als Dispatcher der Reedereiflotte der ehemalige moskauer Conferencier – Häftling Filipow; als weiterer Dispatcher der Reedereiflotte der ehemalige erste Steuermann des Schiffs „KIM“, das Tschkalows Flugzeug aus den USA (er war in einem Nonstop-Flug über den Nordpol dorthin geflogen) nach Odessa gebracht hatte – Häftling A. Wainstein.


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