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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Meilen der Erinnerung von M.A. Kononowitsch

Ihre Emotionen, Eindrücke und Erinnerungen sind für Sie und mich sehr wertvoll, denn in dieser Darstellungsweise sind sie heute äußerst selten. „Ich bin eine glückliche Frau. Ich habe ein langes und interessantes Leben gelebt. Alles ist darin vorgekommen. Aber das Wichtigste war – die große LIEBE. Zehn Jahre sind nun schon vergangen, seit er gestorben ist, aber Liebe und Erinnerung werden nicht weniger. Ich war fest davon überzeugt, dass mich nun nichts Gutes mehr erwartet, ich lebte nicht, ich lebte lediglich immer weiter vor mich hin. Denn ohne Georgij Osipowitschs Gegenwart empfand ich alles um mich herum als schlecht und leer. Betagte, einsame Menschen werden mich verstehen. Am meisten quälte mich die Unmöglichkeit, das Grab des geliebten Menschen zu besuchen, um mit ihm zu sprechen. Er ist nicht in dieser Erde begraben. So sind 10 Jahre ins Land gegangen. In mir reifte ein beinahe physisches Verlangen, bei ihm, am Ort seiner Bestattung, zu sein. Viele haben gesagt, dass ich nicht richtig gehandelt habe, als ich das Vermächtnis meines Mannes erfüllte und ihn im Meer beisetzen ließ. Lange vor seinem Tode hatte er mir schon das Versprechen abgenommen, dass ich dafür sorgen würde, seine Bestattung bei den Lofoten-Inseln vorzunehmen. Warum ausgerechnet dort? Zweimal waren er und seine Besatzung in dieser Gegend beinahe ums Leben gekommen. Beim zweiten Mal hatte Georgij Osipowitsch sich, ungeachtet der Tatsache, dass er kein gläubiger Mensch war, geschworen, dass er, falls sie es schafften, sich in Sicherheit zu bringen („herauszurudern“), nach seinem Tode unbedingt hierher zurückkehren würde. Was sollte ich also machen? Und was hätten Sie an meiner Stelle getan? Ich habe mein Wort gehalten – Georgij Osipowitsch wurde nahe der Skomver-Insel bestattet, die zur Inselgruppe der Lofoten gehört ... All diese Jahre habe ich geträumt, davon, dass ich eines Tages zur Insel Skomver kommen, dort Rosen, die Georgij Osipowitsch so sehr liebte, ins Meer werfen und mit ihm reden würde. Die Jahre gingen dahin, die Menschen in der Schifffahrtsgesellschaft sind nicht mehr dieselben, das Personal hat gewechselt. Die Hoffnung auf eine letzte Begegnung mit dem geliebten Menschen ist gänzlich zur Illusion geworden. Ich muß gestehen – ich habe Angst davor gehabt, mich an die Schifffahrtsgesellschaft zu wenden: nun ja, was für eine Bedeutung wird der Name Kononowitsch für die jungen Leute denn schon haben? Ja, da war mal so einen Kapitän mit diesem Namen, aber es gab viele Kapitäne .... Auch die Leitung hat gewechselt; die allgemeine Einstellung zu den Dingen, die Weltanschauung haben sich geändert. Mit einem Wort: ich habe mich lange gequält und gegrämt. Und dennoch, dank des Drängens meiner guten, langjährigen Freundin Walentina Iwanowna Karepowa sowie Jurij Nikolajewitsch Solenow (Gott, gib ihm Gesundheit!) wandte ich mich schließlich, ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg, mit einem kurzen Brief an den Chef der Schifffahrtsgesellschaft – Aleksandr Michailowitsch Medwedew, in dem ich ihn darum bat, mir bei der Verwirklichung meines Traumes behilflich zu sein. Ich empfand eine tiefe Gemütserschütterung, als das Ganze fast augenblicklich ins Rollen geriet! Ich flog von Petersburg nach Murmansk und konnte nicht glauben, dass dies tatsächlich der Realität entsprach. Wie warm nahm Murmansk mich auf, mein liebes Murmansk! Wie lieb und aufmerksam sich alle verhielten, denen ich begegnete und die sich in der einen oder anderen Art und Weise um mich kümmerten! Ich kam zu dem Schluß, dass auch wenn marktwirtschaftliches Verhalten in der Schifffahrt stattfindet, diese Art der Beziehung glücklicherweise nicht bis zu den Menschen, bis zu ihren Herzen vordringt. Seeleute blieben eben Seeleute ... Den schmerzerfüllten Tag, es war der 16. September 2005, überstand ich nur dank der Besatzung der M/S „Kapitän Tschuchtschin“. Alle, die nicht Wache schieben müssen, kommen an Deck. Alle mit Blumen und Kränzen in den Armen. Wir warten. Da ist die Stelle. Die Schiffssirene ertönt. Bengalische Feuer werden entzündet. Kränze und Blumen werden ins Meer hinabgelassen ... Der Doktor hält mich fest, und ich höre und sehe schon nichts mehr. Ich spreche mit dem geliebten, dem einzigartigsten Menschen, ohne den meine Welt öde und leer ist. Lange stehen wir an Deck und schauen zu, wie die Kielwasserströmung Blumen und Kränze immer weiter fortträgt. Und das wars. Nun werde ich nie wieder hierher kommen. Aber diese Begenung mit meinem Ehemann (ich glaube ganz sicher, dass er uns gesehen hat) werde ich bis zu meiner allerletzten Stunde in meiner Erinerrung bewahren ... Anschließend kam das wundervolle Norwegen ... Und als letzte Überraschung, welche die Schifffahrtsgesellschaft mir bereitete, wurde mir mitgeteilt, dass wir von Norwegen aus nun nach Sankt-Petersburg führen. Man lieferte mich direkt zuhause ab. Als ich von Bord ging, wollte ich einige Worte an die Mannschaft richten, aber es ist mir nicht gelungen. Deswegen sage ich sie nun an dieser Stelle. Meine Lieben. Ich verließ euer Schiff mit einem Gefühl tiefster Dankbarkeit euch allen gegenüber, angefangen vom Matrosen-Praktikanten bis hin zum Kapitän. Ihr alle habt mir diese Reise zu einem unvergeßlichen Erlebnis gemacht. Ich danke euch für die Fürsorge und Güte, die ihr mir entgegengebracht habt. Dies ist das letzte Schiff in meinem Leben, und es sind die letzten Meilen, die ich damit in meinem Leben zurückgelegt habe. Euch allen stehen noch viele Jahre Seefahrt bevor. Ich wünsche von Herzen, dass eure künftigen Meilen von Erfolg und Leichtigkeit gekrönt sind, dass die Meeresgötter sich euch gegenüber gnädig erweisen. Ich wünsche euch einen allzeit günstigen Wind und immer die nötigen sieben Fuß Wasser unter dem Kiel. Mögen eure Geliebten und euch Liebenden am Ufer auf euch warten und mögt ihr ein warmes und glückliches Zuhause haben. Ihnen allen ein herzliches DANKESCHÖN! Bleibt gesund. Für immer eure Margarita Kononowitsch“.

Die hier wiedergegebenen Emotionen, Eindrücke und Erinnerungen an einen geliebten Menschen, der eng mit dem Meer verbunden war, stehen in strengem Kontrast mit den Zeugenaussagen der tajmyrer Sondersiedler. Dieser Unterschied in den Texten von Menschen, die sich in völlig verschiedenartigen gesellschaftlichen Situationen befanden, läßt sich bei den Sondersiedlern als negativ, bei der Familie Kononowitsch hingegen als positiv einordnen, d.h. positiv im Hinblick auf wesentliche Fragen im Leben eines Menschen. Es wäre sehr wünschenswert, wenn der Leser sich vor dem Hintergrund der weiter oben angeführten Bewertungen, ein wenig weiter in die Familie Kononowitsch hineinversetzen könnte, weil sie ein hervorragendes Beispiel für eine ganz besondere Lebensführung, mit einem tiefen Verständnis für die Einhaltung und Realisierung von Lebensprinzipien darstellt.

Margarita Aleksandrowna Kononowitsch übersandte mir Material, das ich für äußerst wertvoll erachte – den „Auszug aus dem Logbuch N° 1154, S. 7, Dampfer „Kapitän Tschuchtschin“ sowie Georgij Osipowitschs Aufzeichnungen über die unter seinem Kommando erfolgte Expedition zur Rettung des Dampfers „W. Tschkalow“, dessen Kapitän er war. Die Murmansker Seeschifffahrtsgesellschaft organisierte auf Bitten von Margarita Aleksandrowna 10 Jahre nach der Bestattung der Urne in der Norwegischen See eine Sonderfahrt mit der M/S „Kapitän Tschuchtschin“ zum Ort der Seebestattung, 2 km von der norwegischen Insel entfernt, dort, wo kein Fischfang mit Grundnetzen erfolgt, damit die Totenruhe nicht gestört wird. Hier hat Margarita Aleksandrowna die Blumen und Kränze zu Wasser gelassen. Im Auszug aus dem Logbuch sind die Koordinaten genannt, und ein Pfeil zeigt auf die Stelle, an der sich die Urne befindet ...

In den Aufzeichnungen, die Margarita Aleksandrowna mir übersandte, lenkte Georgij Osipowitsch seine besondere Aufmerksamkeit auf eine Familie, die ans „Ende der Welt“ verschleppt worden war. Folgendes schrieb er über die Expedition zur Rettung seines Reederei-Dampfers „W. Tschkalow“: 16. September 1941, um die Mittagszeit, lief die „W. Tschkalow“ auf ein Riff der Krestowskij-Sandbank in der Jenisej-Bucht. Es gelang nicht sie freizubekommen. 16 Tage und Nächte kämpften wir um das Leben unseres Schiffes. Wir überstanden auf diesem Dampfer drei grausame Stürme, nachdem wir uns vor den tosenden Wellen auf der Brücke in Sicherheit gebracht hatten. Der Rumpf erlitt zahlreiche Lecks, alle unteren Sektionen waren überflutet. Es gab keine Hoffnung auf Rettung“. Bei der Organisation der Hilfsexpedition zur Rettung der „W. Tschkalow“ leistete der Direktor des Norilsker Metallhütten-Kombinats, General-Major Panjukow, eine große Hilfe, und auch der gerade erst auf den Posten eines stellvertretenden NKWD-Volkskommissars berufene A.P. Sawenjagin gewährte seine Unterstützung“ (s. Foto). Im folgenden Jahr (1942) traf die Expedition, geleitet von Kapitän G.O. Kononowitsch, am Ort des Schiffsbruchs ein.


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