Und dann, am 10. Juli 1948 verließen Mama und ich mit der M/S „J. Stalin“ den Tajmyr. Das Schiff war vollkommen mit Passagieren überfüllt; sogar die offenen Decks waren vollständig belegt, ganz zu schweigen von den Fluren und Salons, welche ausschließlich für Reisende mit Kindern vorgesehen waren. In Krasnojarsk trafen wir am 17. Juli um die Mittagszeit ein. An der Haupt-Anlegestelle empfing uns eine Postenkette von NKWD-Mitarbeitern, die, während sie uns durch einen engen Korridor passieren ließen, ununterbrochen die Worte „in 24 Stunden, in 24 Stunden, in 24 Stunden.....“ wiederholten. Wir mieteten ein Fuhrwerk und begaben uns mit unseren Sachen zum Bahnhof, um mit dem „Utschenik“ (Nahverkehrszug) ans rechte Ufer des Jenisej, bis zur Station Slobino, zu fahren und dann auf den Arbeiterzug „Matanja“ umzusteigen. Die Walters waren nicht gekommen, um uns abzuholen, denn laut Telegramm erwarteten sie uns erst einen Tag später. Zu unserem Glück trat am Bahnhof Slobino eine Frau zu uns heran und fragte uns, ob wir nicht zu den Walters wollten. Wir bejahten. „Dann machen wir uns miteinander bekannt – ich heiße Olga, und ich bin ihre Wohnungsnachbarin; Sie werden dort schon erwartet, besonders von Viktoria. Olga brachte uns von der Matanja-Haltestelle „RajTEZ“ (Bezirks-Wärmekraftwerk; Anm. d. Übers.) bis zum Haus in der Postojannij-Siedlung. Ich war schrecklich aufgeregt wegen des bevorstehenden Wiedersehens mit meiner lieben, guten Witja; ich hatte einen ganz trockenen Mund und mein Herz klopfte bis zum Hals. Olga hatte den Walters bereits von unserer Ankunft Mitteilung gemacht. Und da ist es - das zweigeschossige Haus, die Leiter, an deren Ende Witja steht und, als sie mich sieht, sogleich ins Zimmer zurückläuft. Ich renne zum zweiten Stock hinauf, mache ein paar Schritte nach rechts, und da wartet meine Witja auch schon auf mich. Wir umarmten uns ganz fest und verharrten in einem langen Kuß. Dieser Kuß war für uns sehr bedeutungsvoll, denn wir hatten uns das letzte Mal vor einem Jahr geküßt. „Mein Gott, was für ein Glück! Wir sind wieder beisammen!“ – flüsterte Witenka. Das war das Plätschern der Liebe in unserer Jugendzeit. Warum war Witja von der Treppe so schnell ins Zimmer verschwunden? Sie wollte nicht, dass die Nachbarn unsere Begrüßung beobachteten, wie wir einander in die Arme fielen. Das war das erste leuchtende und langersehnte Wiedersehen. Wir setzten uns und betrachteten einander schweigend und mit liebevollen Blicken; wir fanden keine Worte und waren nicht in der Lage, unsere Blicke voneinander abzuwenden. Noch vor unserer Begegnung war es mir gelungen, mich ins Bumstroj-Bad zu begeben, wohin mich Witja und unser gemeinsamer Freund aus dem Norden, Ernst, gebracht hatten, der gerade erst zu uns gekommen war. Das war unser erstes unvergeßliches, glückliches Wiedersehen, das Witja und mir immer in Erinnerung geblieben ist. Aber, ein wenig vorweggreifend, möchte ich anmerken, dass wir noch ein zweites Mal eine so freudige Begegnung hatten, und zwar im Jahr 1960. Witja erhielt einen Reiseschein für einen Kuraufenthalt in Mineralnye Wody, in Jessentuk, und Witjuschka und ich blieben bei Elsik auf der Datscha in Lugowaja. Am Ende unserer einmonatigen Trennung entschlossen Witjuschka und ich uns, Witja in Jessentuk abzuholen, und von dort gemeinsam nach Moskau zurückzukehren. Wir trafen uns in Jessentuk in der Privatwohnung, in der Witja ein Zimmer genommen hatte. Wir waren so „hungrig“ aufeinander, dass wir bereit gewesen wären uns gegenseitig aufzuessen – unsere Liebkosungen und Küsse wollten kein Ende nehmen. Das war die zweite Prüfung für unsere Herzen. Wie schon beim ersten Mal, sahen wir einander auch jetzt eine endlos lange Zeit in die Augen. Wir waren allein in der Wohnung, und wir waren glücklich. Zwei Tage später fuhren wir zu dritt mit dem Zug nach Moskau. So verlief also unser zweites Wiedersehen. Kehren wir aber nun in das Jahr 1948 zur Familie Walter zurück. Am folgenden Tag, d.h. am 18. Juli, gab ich in Krasnojarsk bei der Aufnahmekommission des Instituts alle Dokumente ab und begann mich fleißig auf die drei Aufnahme-Examina vorzubereiten, die ich innerhalb von einer Woche erfolgreich bei der Fakultät für Forstingenieurwesen ablegte und dann auch einen Platz im Wohnheim zugewiesen bekam. Es gelang mir, Jura Jankowitsch davon zu überzeugen, sich ebenfalls am Institut einzuschreiben zu lassen, um so mehr, als er von den Aufnahmeprüfungen befreit war, denn er hatte das erste Studienjahr bereits im Fernlerngang absolviert, und das wurde anstelle der Aufnahme-Examina anerkannt.