Am 1. August sollte ich an meinem Arbeitsplatz eintrefen. Den Juni hatten Garik und ich unsere gesamte Freizeit mit dem aufwendigen Ausjäten von Kartoffeln verbracht: 100 x 100 Meter groß war der Acker, auf dem später einmal die Reifenfabrik stehen würde, und 100 x 100 Meter das Feld, das 19 km östlich des Bumstroj-Bezirks gelegen war. Diese ganze Ausjäterei kam uns teuer zu stehen – in der prallen Sonne verbrannten wir uns den Rücken so sehr, dass wir Brandblasen bekamen. Es näherte sich der Zeitpunkt unseres Aufbruchs nach Nowosibirsk, aber wir besaßen keine Fahrkarten. Es blieb nur eine einzige Variante – die Fahrt mit dem „Zug der 500 Fröhlichen“ ohne Billets. Garik begleitete uns. Das Einsteigen in den Zug am Bahnhof war schrecklich – ich mußte durch das Waggonfenster klettern. Mir gelang es lediglich einen Platz auf der dritten Liegebank zu ergattern. Garik half mir hinauf und gab mir die Sachen. Witja, Witjuschka und Mama gelangten irgendwie durch die Tür ins Waggoninnere und nahmen einen seitlichen Sitzplatz ein. In jenen fünfziger Jahren, waren normale Nachkriegspassagierverbindungen noch nicht wiederhergestellt. Bis nach Nowosibirsk waren es 800 km, und am folgenden Tag trafen wir ein; drei Tage mußten wir auf dem dortigen Bahnhof verweilen, bis in der Personalabteilung des „NowSibLes“-Trusts endlich alle Dokumente ausgestellt waren und ich den Befehl in die Hand gedrückt bekam, in die Michailowsker Waldwirtschaft zu fahren. Es war ein langer Weg. Es stellte sich heraus, dass es bequem war, bis zur Station Ubinskaja (250 km von Nowosibirsk entfernt) mit einem x-beliebigen Zug in Richtung Westen zu fahren, und von dort, nachdem wir bei dem Repräsentanten der Waldwirtschaft Tscherkassow übernachtet hatten, weiter per Anhalter mit einem Versorgungsfahrzeug für Arbeiter bis zur Ortschaft Kreschtschenka (120 km), wo das Kontor des Forstbetriebs (Direktor Kartaschow, Haupt-Ingenieur Asikejew) seinen Sitz hatte. Dort befand sich auch der Kommandant der Sonderkommandantur Leutnant Winogradow. Für uns gab es eine Menge Interessantes – da wir am späten Abend angekommen waren, hörten wir sogleich auf der Straße kurze Vierzeiler-Lieder mit Akkordeonbegleitung. Wir übernachten in einem der Zimmer des Kontors. Das war am 1. August 1953. Am Morgen holte Asikejew uns zu sich und überließ uns einen Anbau des Hauses. Das bedeutete für uns Vier, dass wir nun erstmal sehr wenig Platz haben würden, selbst wenn es nur vorübergehend war. Die Familie Asikejew war gut zu uns, und sie heizten für uns sogar das Bad ein, auch wenn der Rauch nicht aus dem Raum abzog. Freie Behausungen gab es in der Waldwirtschaft nicht. Uns wollte man ein Fünf-Wand-Blockhaus zur Verfügung stellen, bei dem noch das Dach gedeckt und ein Ofen mit Ofenrohr gesetzt werden mußte. Aber einstweilen gab es hier weder Bretter für das Dach und den Vorbau, noch Ziegelsteine, die man erst aus Ubinka herbeischaffen mußte. Kartaschow, der sich mir gegenüber sehr freundlich verhielt, befahl sogar dem Kommandanten Worbjow und Asikejew, niemandem etwas davon zu erzählen, dass meine Familie deutsch war und dass wir zu den Sondersiedlern gehörten. In der Ortschaft grassierte das Gerücht, dass unsere Familie den Nachnamen „Inschenerow“ (die „Ingenieurs“; Anm. d. Übers.) trug. Zum Herbst war der Bau unseres Hauses beendet, Mama hatte innen zwei Zimmer mit Lehm verputzt, und danach mußte man das Haus erst noch trocknen lassen. Mich ernannten sie zum Ingenieur der Produktionsabteilung, und Witja wurde als Buchhalterin in der Materialabteilung eingestellt. In der Produktionsabteilung arbeitete auch noch der Sachverständige Witalij Fjodorowitsch Deul (ein Verbannter), in der Planungsgruppe Wladimir Iwanowitsch Welmin (verbannter, ehemaliger Redakteur der Zeitung „Komsomolzen-Wahrheit“) und der Wirtschafter Rimma. Ich mußte häufig auf Dienstreisen durch die Waldreviere gehen: Rogowskoj (90 km), Golubino (80 km), Radowskij (60 km). Die Verbindung mit den einzelnen Revieren wurde mittels Funkzentrale aufrecht erhalten, die sich im Hof des Kontors des forstwirtschaftlichen Betriebs und in den jeweiligen Revieren in den Häusern der Vorgesetzten befand. Die Arbeiter stammten hauptsächlich aus den Reihen von Angeworbenen, die man aus Nowosibirsk hierher gebracht hatte, während es sich bei den Spezialisten in erster Linie um Verbannte aus Moskau, Leningrad, Odessa und Jaroslawl handelte. Im Herbst waren Witja und ich gleich zu mehreren Hochzeiten eingeladen. Es gab eine Menge zu essen, vor allem Sülze, gefüllte Teigtaschen, Salzgurken sowie Wodka, Selbstgebrannten und sogar hausgemachtes Dünnbier. Die Feiern wurden begleitet von Vierzeiler-Liedern und Tänzen mit Akkordeon-Musik. Die Menschen fingen an uns Glauben und Vertrauen zu schenken; deswegen luden sie uns zu sich ein, damit wir ihre Freude teilen konnten. Es war ein schönes Gefühl dabeisein zu dürfen. In den wenigen Monaten unseres Aufenthalts in Kreschtschenka erfuhren wir interessante Geschichten, von denen es in der hiesigen Gegend viele gibt: die Flucht vor Koltschak, der Bauernaufstand der „Kulaken“, Flugzeugabstürze und die Ergreifung“Tarzans“. Kurz und knapp werde ich von jeder der gerade aufgeführten Geschichten erzählen, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie angefüllt das Dasein der Ortsansässsigen während des kurzen Lebensabschnitts der Sowjetzeit war.
Turnusmäßig begab ich mich im Winter allein mit dem Schlitten, vor den der mir zugeteilte Hengst gespannt war, auf Dienstreise ins Radowsker Forstrevier. Auf halbem Wege (25 km) von Kreschtschenko dorthin befindet sich die Ortschaft Martemjanowka: ich entdeckte ein Haus, in dem Licht brannte und beschloß dort zu übernachten. Ich wurde begrüßt von einem betagten Mann von großer Statur, der bereit war, mich bei sich nächtigen zu lassen. Wir tränkten das Pferd, gaben ihm Hafer und Heu zu fressen und zum Schluß bedeckte ich seinen Rücken noch mit einer Decke aus Baumwoll-Flanell. Der Frost war stärker geworden. Die Hausfrau servierte mir Tee aus dem Samowar, während der Alte sich niederließ, um seine Filzstiefel zu besohlen. Auf dem Tisch stand eine Kerosinlampe. Ich unterhielt mich mit dem Hauswirt über sein hiesiges Leben und wollte wissen, weshalb er sich in so einer „Bärenhöhle“, so einem Kaff, niedergelassen hätte. Offenbar hatte ihm lange Zeit niemand eine derartige Frage gestellt, und so ging er mit Vergnügen darauf ein. „Ich bin in Kreschtschenka geboren, das war damals ein reicher Handelsort, und dann, im Jahre 1914, wurde ich in die Zarenarmee mobilisiert und mußte meinen Dienst in der Stadt Omsk bei der Außenbewachung des städtischen Gefängnisses ableisten, das bereits mehrere Male von einer Hand in die andere übergegangen war. In der Politik kenne ich mich nicht besonders gut aus, denn ich bin ja nur vier Jahre lang zur Schule gegangen. Ich habe damals ein Gewehr besessen, für das ich verantwortlich war. Alles verlief ruhig und friedlich, bis eines Tages in der Stadt die Bolschewiken auftauchten. In Petersburg fand ein mächtiger Umsturz statt, und in Omsk begann es unruhig zu werden. Man warnte uns davor, dass heute ein Überfall auf das Gefängnis stattfinden würde, dass wir nicht schießen sollten. Und tatsächlich öffneten sich in der Nacht die großen Tore, und alle politischen Häftlinge wurden entlassen. Die Kriminellen lärmten, trommelten an ihre Zellentüren, aber sie ließ man nicht in die Freiheit gehen. Ich glaube, das haben sie richtig gemacht. Plötzlich kamen Gerüchte auf, dass Admiral Koltschak das Kommando übernommen hatte und dass unser Truppenteil in den Fernen Osten abfahren sollte. Das war mir nicht recht, und so beschloß ich aus der Armee zu desertieren, aber dafür mußte ich die Militäruniform gegen Zivilkleidung eintauschen, was mir auf dem städtischen Basar auch gelang. Das war im Jahre 1918. Ohne im Besitz der notwendigen Dokumente zu sein beschloß ich, in der Nacht mit einem x-beliebigen Güter- oder Passagierzug von Omsk nach Ubinka (600 km) zu fahren. Das Gewehr versenkte ich im Fluß Omka und ging anschließend zum Bahnhof, wo ich in aller Heimlichkeit auf einen Güterwagen aufsprang. Das Risiko war groß, denn der Zug hielt laufend an, und es gab viele Streckenwärter und Schmierarbeiter. Ich gelangte aber trotzdem nach Ubinka und weiter bis nach Kreschtschenka, wo mich jeder Hund kennt. Und hier zuhause wurde dann auch mein Problem gelöst. Vater forderte, dass wir nach Martemjanowka gingen und dort ein Haus bauten, damit wir etwas weiter von den anderen Leuten entfernt waren, bis sich die Unruhen gelegt hatten.
Und ich begab mich nach Urman. Na ja, hier gibt es ja alles – verschiedene Beeren und soviel Land wie man zum Anbau von Kartoffeln und Getreide braucht. Ich schaffte mir ein Pferd, eine Kuh, ein paar Hühner und Gänse an. Später erfuhr ich von meinen Soldatenkameraden, dass Koltschak ums Leben gekommen war und dass die gesamte russische Armee vor der Sowjetmacht nach China gegangen war. Ich bin also froh, dass ich damals in Omsk aus dieser Armee desertiert bin, denn sonst befände ich mich jetzt entweder in einem Grab oder in einem anderen Land.
In den 1920er Jahren erhielt ich neue Dokumente, man hatte vergessen, dass ich desertiert war. So also kam ich nach Martemjanowka, allerdings ohne Pferd, denn das hatte man während des „Kulaken“-Aufstands konfisziert, da man mich für einen Großbauern gehalten hatte; Gott sei Dank haben sie mich nicht verschleppt, obwohl es ja auch gar nichts gab, was noch weiter entfernt lag als unser Urman – etwas nördlicher waren nur noch die Wasjugansker Sümpfe, und unsere Region war ja sowieso schon ein Gebiet der Verbannten. Über den „Kulaken“-Aufstand wurden in der Zeitung Lügen verbreitet, denn nachdem uns die Kommunisten das gesamte Getreide und Saatgut fortgenommen hatten, begann in der Gegend erst der wahre Bauernaufstand. Der Aufstand im Jahre 1933 wurden von Soldaten aus Nowosibirsk grausam niedergeschlagen, danach begann eine große Hungersnot, und viele Menschen starben. Die Aufständischen, die hauptsächlich über Jagdwaffen verfügten, hielten sich beharrlich. Alles endete mit Massenverhaftungen. Ich nahm an diesem Aufstand nicht teil – dort waren in erster Linie Bauern aus Kreschtschenka beteiligt“.
So also endete gegen Mitternacht meine Unterhaltung mit dem interessanten
Gesprächspartner. Eine andere Geschichte von lokaler Bedeutung erzählte man mir
im Radowsker Revier in einer Familie, die dort bereits vor dem Großen
Vaterländischen Krieg gelebt hatte. „Während des Krieges war allen bekannt, dass
die bei den nowosibirsker Tschkalow-Flugzeugwerken hergestellten Jagdflugzeuge
unmittelbar nach ihrer Selbststeuerungserprobung an die Front flogen, und zwar
immer paarweise. Und einmal, im Jahre 1943, war ein solches Jagdflugzeugpaar
gezwungen, eine Notlandung durchzuführen, da eines der beiden Flugzeuge aus
irgendeinem Grunde nicht weiterfliegen konnte. Der zweite Pilot landete aus
Solidarität ebenfalls, aber die ganze Sache endete in einem Mißerfolg – beide
gerieten in einen Sumpf, der im Winter vom Schnee bedeckt war. Die Piloten
schlugen sich bis zur nächsten bewohnten Ortschaft durch, und das war Radowsk.
Eine ganze Woche brauchten sie dafür und waren vor Hunger und Kälte halb tot,
als sie dort eintrafen. In Radowsk versorgte man sie ungefähr eine Woche lang
mit Essen und schickte sie dann nach Nowosibirsk. Noch heute befinden sich die
beiden Flugzeuge etwa 60 km von Radowsk entfernt im Sumpf, sind jedoch zur
Hälfte versunken“. Als wir 1954 in Kreschtschenka waren, hörten wir, dass von
einem der Flugzeuge das Maschinengwehr abgebaut worden war. Wer konnte so etwas
gebrauchen? Es konnte nur ein Waldbewohner gewesen sein oder vielleicht ein seit
dem Kriege in der Taiga herumirrender Deserteur. Jedenfalls war es ein großes
Rätsel.
Zu der Zeit wurde im Dorf bekannt, dass Jäger in der Taiga tatsächlich eine
Erdhütte entdeckt hatten, die mit diversen Lebensmittelvorräten gefüllt gewesen
war: Nüssen, getrockneten Beeren und Fleisch. Außerdem verschwand aus dem Dorf
ein Mädchen. Damit war klar, dass in der Taiga ein „Tarzan“ lebte (so nannten
ihn die Ortsansässigen nach dem Helden des gleichnamigen amerikanischen Films),
und man setzte die Behörden davon in Kenntnis. Die dort lebenden Jäger bekamen
die Aufgabe, anhand der Spuren im Schnee festzustellen, in welcher Erdhütte er
wohnte, damit man ihn verhaften konnte. Und sie fanden ihn. Aus Nowosibirsk traf
eine aus vier Mann bestehende Gruppe Soldaten in Kreschtschenka ein. Zu dieser
Gruppe gesellten sich noch zwei kräftige ortsansässige Männer hinzu, die sich in
der Gegend gut auskannten und über die Gesetze der Taiga bescheid wußten. Der
beste Zeitpunkt „Tarzan“ einzufangen war der frühe Morgen, als er halbbekleidet
ins Freie kam, um dort „sein Geschäft“ zu verrichten; in dem Augenblick mußte
man vom Dach der Erdhütte aus auf ihn herabspringen. Denn alle waren sehr
beunruhigt, weil er ein Maschinengewehr besaß. Man brauchte nicht lange auf
Informationen seitens der Jäger über Tarzans „Adresse“ warten. Die aus sechs
Mann bestehende Gruppe fuhr mit insgesamt drei Schlitten durch die Taiga. Damit
die Kufen kein knirschendes Geräusch verursachten und sie sich lautlos der
Erdhütte nähern konnten, waren die Kufen zweier Schlitten mit Steigfellen
überzogen worden. Es geschah im Januar 1955 bei strengem Frost, als die
Expedition zum Angriff auf Tarzan unterwegs war. In tiefster Nacht näherten sie
sich der Erdhütte in der Annahme, dass Tarzan schlief. Der hell leuchtende
Vollmond kam ihnen zur Hilfe. Die vier Soldaten nahmen ihre Position an den vier
Eckpunkten der Lichtung ein, die beiden Jäger begaben sich mit ihren
geräuschläusen Skiern auf das Dach der Erdhütte, gegenüber der Tür. Und nun
warteten alle darauf, dass „er“ heraustreten würde, um sein „Geschäft“ zu
erledigen. Die Zeit kam gegen Morgen, als alle im eisigen Frost bereits heftig
zitterten. Sobald die Tür sich öffnete und er mit einer über die Schultern
geworfenen Jacke den ersten Schritt ins Freie trat, sprang einer der Jäger von
oben auf ihn herab und warf ihn um. Die ganze Gruppe kam angerannt und erblickte
in der geöffneten Tür das auf sie gerichtete Maschinengewehr. Wie Tarzan
verkündete, hätte er sie alle damit durchlöchert, wenn ihre Operation zu seiner
Ergreifung nicht so erfolgreich verlaufen wäre. Das Mädchen fanden sie
wohlbehalten in einer der anderen Erdhütten. Im Prinzip hatte sie keine
Abneigung gegen ein Leben in der Taiga gehegt. Tarzan wurde in entsprechender
„Verpackung“ bei der regionalen Staatsanwaltschaft in Nowosibirsk abgeliefert.
Das Untersuchungsverfahren ergab keine Gründe Tarzan gerichtlich zu belangen. Es
stellte lediglich fest, dass „Tarzan“ in Wirklichkeit Pjotr Stepanowitsch
Medwedjew hieß und Einwohner von Kreschtschenka war; er war während des Krieges
aus der Roten Armee desertiert und in die naheliegende Taiga geflohen.
Allerdings hatte er nicht gewußt, dass ihm bei Kriegsende die Schuld auf seine
Flucht erlassen worden war, und so hatte er sich bis 1954 völlig umsonst im
Verborgenen aufgehalten. In dieser ganzen Zeit hatte Medwedjew sich keines
einzigen Verbrechens schuldig gemacht. Mit Schießpulver, Salz und anderen Waren
hatten ihn die Eltern versorgt, die in Kreschtschenka wohnten und ebenfalls
nichts von der Amnestie wegen Fahnenflucht wußten. Vor Gericht hätte er einen
Freispruch bekommen müssen, aber der Richter stellte Medwedjew eine Frage: „Wenn
wir Sie freilassen, was werden Sie dann tun?“ Und er antwortete: „Ich werde in
die Taiga gehen“. Da verhängte der Richter das Urteil: 1 Jahr Arbeits- und
Erziehungslager, damit er sich wieder an die Menschen gewöhnte.
Mit solchen Geschichten also begegnete uns Kreschtschenka in den Jahren 1953-1954. Und ihnen muß man noch unsere Freude im Zusammenhang mit der Ankunft einer aus dem Stillen Ozean demobilisierten Matrosenflotte bei uns in Kreschtschenka hinzufügen – Matrosen aus dem 5. Truppenteil meines Vetters Anwer Bachschalijew. Die Geschichte seiner Familie ist die tragischste unter allen Familien innerhalb meiner Verwandtschaft. Wir schreiben das Jahr 1937. Anwers Vater war Volkskommissar der Kommunalwirtschaft der Republik Aserbeidschan und hielt auf dem Plenum des Zentralkomitees eine kritische Rede, die an den 1. Sekretär des ZK der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolscheweiken) Aserbeidschans, Wagirow, gerichtet war. Vor der Partei waren Bachschalijew noch aus den Zeiten des Umsturzes und des Bürgerkriegs 1917-1920 große Verdienste zuzuschreiben, die mit seiner Aufklärungs- und Spionagetätigkeit in Persien in Zusammenhang standen. Daher besaß er auch das moralische Recht, die erste Person der Republik zu kritisieren. In dem Jahr bestand seine Familie aus: Vater, Mutter (Tante Berta, die Schwester meiner Mama), Anwer (ihr Sohn, 7 Jahre alt) und Schanna (ihre Tochter, 2 Jahre alt). Sie lebten in Baku in ihrem eigenen Haus. Was geschieht nun nach der oben erwähnten Plenarsitzung? Die Verhaftung von Vater und Mutter; der Vater wird erschossen, die Mutter zu 5 Jahren verurteilt; Schanna wurde bei der Verhaftung der Eltern zu Nachbarn gegeben und Anwer ließen sie zurück, damit er die Ankunft der Großmutter aus Engels abwartete. Tante Berta kann eine solche Barbarei nicht ertragen, als man ihr in ein- und demselben Augenblick Kinder und Ehemann fortnimmt – sie verliert den Verstand und kommt in ein Heim für Nervenkranke nach Kasan. Schanna stirbt bei den Nachbarn, und Anwer fährt mit seiner Großmutter nach Engels. Die Familie war unschuldig und wurde doch auf grausamste Weise vernichtet. Warum? 1941 gerät Anwer zusammen mit Verwandten in die Region Krasnojarsk, 1944 besucht er die Betriebsfachschule und arbeitet. In dem Jahr erfolgt auch der Gestellungsbefehl zum Wehrdienst in der Kriegsflotte im Stillen Ozean. 5 Jahre Dienst in der Flotte härten Anwer gehörig ab, und nun, nach seiner Demobilisierung, fährt er zu Onkel Arthur nach Korkino, Gebiet Tscheljabinsk; da der Zug in unserer Nähe vorbeifährt, will er auch uns einen kurzen Besuch abstatten und steigt an der Station Ubinskaja aus. Winter 1954, es herrscht grimmiger Frost. Unserer Beschreibung im Brief folgend findet Anwer den Vorsitzenden unserer Organisation für die Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern und überredet ihn dazu, ihn in der Nacht, bei Mondlicht, mit dem LKW zu fahren, nachdem er den Wagen bis obenhin mit Mehlsäcken (2 Tonnen) vollgeladen hat. In Kreschtschenka gab es ein frohes Wiedersehen im Mondenschein und bei Frost. Witjuschka schlief, und Mama war zu der Zeit bei Onkel Arthur in Korkino zu Besuch. Als Witjuschka erwachte und Anwer ohne seine Seemannsuniform sah, sondern vielmehr in Arbeitskleidung, fing er an zu weinen. Noch in der Nacht mußte Anwer seine Uniform anziehen, um die Laune seines kleinen Neffen zu beruhigen und ihn zufriedenzustellen. Während Witja und ich tagsüber auf der Arbeit waren, hüteten Anwer und Witjuschka das Haus und kochten Borschtsch, wie er bei der Marine üblich war. Abends gingen wir in den Klub, um uns einen Film anzuschauen, und Anwer, in seiner Marineuniform, hatte seinen schweren Gürtel um die Hand geschlungen, falls es nötig werden sollte sich zu verteidigen. Die ortsansässigen Mädchen schenkten dem neuen Seemann sogleich ihre Beachtung, versuchten sich mit ihm zu verabreden, trieben sich dicht in seiner Nähe herum und liefen tagsüber an unseren Fenstern auf und ab; und wenn er dann aus dem Haus trat, um den Abfalleimer zu leeren, dann riefen sie „Was kochst du denn Schönes, Seemännchen?“ – Er tat das mit einem Scherz ab. Wir machten Anwer mit unserer Wirtschafterin, einem Mädchen namens Rimma, bekannt, die aus Rschow stammte. Mit der Zeit verwandelte sich diese Bekanntschaft in Liebe, und nach einem Monat heirateten die beiden, indem sie ihre Ehe beim Kreschtschensker Dorfrat registrieren ließen. Es gab eine bescheidene Hochzeitsfeier mit Akkordeonmusik. Sei jener Zeit leben sie in Baku; sie haben zwei Töchter namens Swetlana und Tatjana. In Baku arbeitete Anwer als Haupt-Mechaniker am Zementwerk und Rimma als Wirtschafterin in derselben Fabrik. Aber Anwers Tragödie lag noch vor ihm. Unter größten Mühen machte er in Kasan seine Mutter ausfindig, die ihn bei ihrem Wiedersehen nicht erkannte, sondern erst dann, als er sie nach Baku in die Straße brachte, wo sie vor der Verhaftung des Vaters gewohnt hatten; als sie ihr ehemaliges Haus sah, da erinnerte sie sich plötzlich und erkannte auch Anwer wieder. Aber Tante Berta wurde kein langes Leben beschert, bald darauf starb sie aufgrunddessen, was sie alles durchgemacht hatte. Anwer beerdigte seine Mutter auf dem Friedhof von Baku. Ich hatte Anwer immer Anwertschik genannt, denn wir waren beide Opfer des Terrors der Jahre 1937-38 und wir mochten einander sehr. Gegenwärtig lebt Anwertschik mit seiner Frau Rimma am Ufer des Kaspischen Meeres in der „Marine“-Siedlung – 20 km südlich von Baku. In Baku wohnt auch ihre Tochter Sweta mit ihrer Familie; Tanja („Tanulja“, wie ich sie nenne) ist mit ihrem Mann und ihrem Söhnchen in die Stadt Tutajew an der Wolga umgezogen, 25 km von Jaroslawl entfernt. So tragisch ist Anwers gesamte Familie ums Leben gekommen; und er trat 2008, im Alter von 78 Jahren, nach einem Schlaganfall als Letzter aus diesem Leben. Mögen wir ihn immer klar in unserer Erinnerung behalten!
Im Jahre 1955 wurde ich nach Swerdlowsk abkommandiert und brachte Witjuschka zum neuen Jahr ein Geschenk mit – eine große Schachtel mit einer elektrischen Eisenbahn. Zu der Zeit fingen sie aufgrund meiner Intitiative in der Kreschtschenker Waldwirtschaft damit an, Büros, Läden und auch ziemlich viele Häuser zu elektrifizieren, einschließlich des unseren. Und so schmückten wir zu Neujahr zuhause unsere Tanne mit schönem Spielzeug, das uns die Walters aus Krasnojarsk geschickt hatten, und um den Tannenbaum herum ließen wir die Elektrolok mit den Waggons auf ihren Schienen fahren, vorbei an Bahnübergängen und einem Bahnhof. Diese kleine elektrische Eisenbahn und die hübschen Spielsachen in der Tanne verbreiteten sich wie eine Neuigkeit im ganzen Dorf. Die Kinder standen dichtgedrängt am Fenster. Wir mußten sie schließlich ins Haus bitten und die Eisenbahn fahren lassen. Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Sogar die Alten, die in ihrem Leben überhaupt noch keine Eisenbahn zu Gesicht bekommen hatten, liefen herbei, um sich die neue Errungenschaft anzuschauen. Für sie war das eine große Freude. Mama gelang es mit Müh und Not die Gäste zu bewirten, und ich ließ, wenn ich von der Arbeit heimkam, eifrig die Bahn im Kreise um die Tanne herumfahren.
Von einer dieser Dienstreisen aus dem Waldrevier „Golubino“ kehrte ich im Frühjahr 1956, auf einem zufällig vorbeifahrenden Traktor S-80, zusammen mit ein paar anderen Leuten, nach Hause zurück. Wir fuhren über einen Waldweg, der mit abgehauenen Kleinholzresten übersät war, auf denen der Traktor nicht rutschen konnte, obwohl er einen schwerbeladenen Schlitten mit einer großen Kiste im Schlepptau hatte. Wir, die Passagiere, standen vorne im Schlitten und lehnten uns dagegen. An einer Stelle fuhr die Raupenkette des Traktors plötzlich über einen Birkenast von etwa 10 cm Durchmesser, der am Wegesrand lag. Beim Überfahren wurde der Ast von der Raupenkette tief in den Borden gedrückt, wodurch sein zweites Ende höher als die Schlitten emporschnellte, immer höher glitt, sich auf das Vorderteil des Schlittens zubewegte und meiner Person bedrohlich näher kam. Diese Gefahr bemerkte ein neben mir stehender Passagier und stieß mich im selben Augenblick heftig zur Seite. Der Birkenast schoß an mit vorbei und durchschlug die Schlittenverkleidung. Hätte man mich nicht im letzten Moment weggestoßen, dann hätte mir diese Birkenholzstange den Bauch durchbohrt und ich wäre buchstäblich an der Kiste festgenagelt worden. Mein Lebensretter war der Chef der Produktionsabteilung des „Nowsibles“-Konzerns – Sergej Wasiljewitsch Sarubin. Ihm verdanke ich mein Leben. Möge Gott ihm Gesundheit und Wohlergehen verleihen. Dies war dann im Jahre 1956 auch das vierte Mal, daß ich eigentlich mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dem Untergang geweiht gewesen war. Das erste Mal – 1935 in Astrachan, als ich im Fluß Kutuma versank und mich meine Tante Minna rettete. Das zweite Mal – 1943 im Jenisej. Im Winter konnte man in den Polarnächten in nicht zugefrorene Eislöcher geraten; damals hatte mich der Instinkt des Leit-Rentiers vor dem Schlimmsten bewahrt. Das dritte Mal – 1944, ebenfalls am Jenisej. Im Sommer – nachdem wir einen Eisberg durchschwommen hatten, der sich während des Eisgangs dort aufgetürmt hatte, war dieser in sich zusammengestürzt. Es waren buchstäblich nur 1-2 Minuten, die meine Brigade und mich damals vor einer Katastrophe gerettet hatten. Wie wir sehen, handelte es sich bei meinen Rettern um gute, aufmerksame Menschen und sogar einmal um ein kluges Tier; und auch das Risiko war einmal hilfreich.
Im März 1956 unterzog N.S. Chruschtschow den Personenkult um Stalin einer heftigen Kritik. Von dem Augenblick an begannen auch die Massenrehabilitationen von politisch repressierten Gefangenen und Verbannten. Auch wir waren von dieser Zeit betroffen – die Aufsicht durch die Sonderkommandanturen wurde abgeschafft, es begann für uns eine noch nicht ganz vollständige Freiheit. Damals war ich auf Anordnung des „NowSibLes“-Konzerns bereits zum Ober-Ingenieur der Waldwirtschaft ernannt worden und löste damit Asikejew von seinem Posten ab. Direktor wurde L.F. Rybakow, mit dem ich ausgesprochen gut zusammenarbeitete. Und dann, nachdem wir in unseren Familien das nichtöffentliche Schreiben des Zentralkomitees der KPdSU anläßlich des Stalinschen Personenkults vorgelesen hatten, fuhren L.F. Rybakow zum Rogowsker Waldstück, um uns dort mit dem Verbannten Semjonow, dem ehemaligen 2. Sekretär des Rostower Gebietskomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten), und seiner Frau, einer ehemaligen bedeutenden Aktivistin der Jugendbewegung, zu treffen. Uns interessierte im Einzelnen, wie die NKWD-Ermittlungsrichter mit ihnen „arbeiteten“. Es stellte sich heraus, daß rund um die Uhr Verhöre geführt wurden – die Untersuchungsrichter wechselten sich dabei ab; aber sie ließen einen nicht schlafen; den vor dem Ermittlungsrichter sitzenden Arrestanten wurde in bestimmten Abständen immer wieder mit Stiefeln ans Bein gestoßen; stundenlang mußten sie in der Ecke stehen, durften sich nicht auf einen Stuhl setzen. Aber gelegentlich gab es auch freundlich gesinnte Ermittler, die von den Verhafteten verlangten, daß sie schreien sollten, damit man draußen vor der Tür denken sollte sie würden „gefoltert“. Im Rogowsker Forstrevier arbeitete eine Krankenschwester, die 10 Jahre + 5 Jahre Verbannung abgesessen hatte. Wofür hatte ein damals noch so junges Mädchen eine derartige Strafe bekommen? Sie erzählte von sich folgendes. „Ich war Krankenschwester an der Front. In unserem Frontabschnitt gab es es keinerlei Versorgung mit Medikamenten. Vor meinen Augen lag ein verwundeter junger Offizier im Sterben. Zu jener Zeit herrschte an der Front bereits seit einigen Tagen Waffenruhe. Ich beschloß den jungen Offizier zu retten und mich mit der Bitte um entsprechende Arzneimittel an die Deutschen zu wenden. Unsere Soldaten ließen mich auch zu den Deutschen, und schon bald darauf kehrte ich mich den notwendigen Medikamenten zurück; die Deutschen hatten mir sogar viel mehr davon mitgegeben, mehr als ich eigentlich benötigt hätte. Der Offizier konnte vor einer einsetzenden Blutvergiftung bewahrt werden. Meine Vorgehensweise wurde zunächst als heldenhaft angesehen, danach mischte sich plötzlich die SMERSch, die Hauptverwaltung für Gegenspionage des Volkskomitees für Verteidigung der UdSSR in die Angelegenheit ein, die meinen Heroismus“ als Verrat bewertete. Das Militärgericht verurteilte mich zu 10 Jahren Arbeits- und Erziehungslager sowie 5 Jahren Entzug aller bürgerlichen Rechte, d.h. Verbannung nach Sibirien. Da kann man mal sehen, wie die Spürhunde im bürgerlichen Leben und an der Front mit den „Volksfeinden“ umsprangen“. An jenem Abend gesellte sich der Ingenieur und Mechaniker Sadowksij zu uns, der aus Jaroslawl stammte. Im Forstrevier hatte er für den guten Zustand und die Funktionstüchtigkeit der fahrbaren, ungarischen Elektrostation, die über eine Kapazität von 100 Kilowatt verfügte, Sorge zu tragen. Er war bereits in den ersten Tagen des Krieges verhaftet worden; man hatte gegen ihn wegen feindlicher Propaganda Anklage erhoben, und ihn dafür mit 10 + 5 Jahren bestraft. Das Schlimmste war für ihn die Häftlingsetappe gewesen, als man, wie auch Solschenitzyn es beschreibt, in jedes Abteil etwa 42-46 Häftlinge hineingepfercht hatte. Ich begriff die Gefahr, die ein solcher Transport mit sich brachte, meinte Sadowskij, und kroch sogleich unter eine der unteren Sitzbänke, wo schon jemand hockte, aber dafür konnte man hier durch die unten an der Tür befindlichen, vergitterten Türöffnungen frische Luft einatmen. In diesem Revier, im Laden, arbeitete ein ehemaliger Oberstleutnant der Roten Armee namens Bogomolow. Sobald Stalins Personenkult aufgedeckt war, verkündete er, daß man nun auf jeden Fall Rumin seines Amtes beim NKWD entheben würde, und dann wurde auch er seine Freiheit erhalten. Und so geschah es auch – schon bald darauf wurde unserer Oberstleutnant aus der Verbannung entlassen, allerdings forderte er für seine grundlose Verurteilung als Unschuldiger eine finanzielle Entschädigung für die gesamte Dauer seines Freiheitsentzugs. Er hatte damals Glück, denn er erhielt 180.000 Rubel. Später bekamen die Leute nur noch Geld für zwei Monate, in Höhe des letzten Gehalts, ausgezahlt. Mama und ich erhielten damals für Papa ebenfalls 1.400 Rubel. Als Bogomolow nach Moskau abfuhr, schaute er noch kurz bei uns in Kreschtschenka vorbei, um sich zu verabschieden. Dasselbe tat auch Sadowskij, als er sich auf den Weg zurück nach Jaroslawl machte; bei ihm hatte ich auch immer Halt gemacht, wenn ich im Rogowsker Waldrevier auf Dienstreise war. Ich erinnere mich noch daran, daß seine Ehefrau mich immer mit kleinen, marinierten Pilzen bewirtete.
Einmal zu der Zeit ereignete sich in Kreschtschenka folgender Fall. In der Absicht, das Forstrevier im Golubinsker Abschnitt entgegen des Arbeitsvertrages vorzeitig zu verlassen, floh ein Arbeiter, der zuvor durch organisierte Anwerbung eingestellt worden war, ein ehemaliger Häftling aus Kolyma, der sich im Revier als wahrer Raufbold und Trinker aufgeführt und auch oft nicht zur Arbeit gegangen war. Als er in Kreschtschenka auftauchte, war er handfest betrunken und schrie, mit einem Messer in der Hand, drohend über die ganze Straße: „Ich ste-e-e-ch’ euch alle ab!!!“ In der Nähe befanden sich zufällig eine paar Arbeiter aus der „Waldwirtschaft“, du sie beschlossen dem Radaumacher eine Lehre zu erteilen. Sie luden ihn ein, mit ihnen noch ein wenig weiter zu trinken; mit diesem Vorschlag war er auch sogleich einverstanden. Die Männer führten ihn ins Badehaus am Flüßchen, wo sie ihn an eine Bank fesselten, ihm ein Stück Holz unter die Füße banden und dann mit einer Axt dermaßen auf das Holz einschlugen, bis sie ihm, ohne äußere Spuren, die Eingeweide herausgeprügelt hatten. Diese grausame Todesstrafe wurde seit ewigen Zeiten nach den Gesetzen der Taiga angewendet. Die Medizin war nicht in der Lage dem Raufbold zu helfen, und so starb er einen Monat später im Krankenhaus von Kreschtschenka. Offiziell war Selbstjustiz verboten, aber in der Praxis verteidigte sich die ortsansässige Bevölkerung in den „Bärenhöhlen“, den entlegenen Gebieten, in denen es keine Miliz gab, mitunter doch auf solche Weise.
Die Elektrifizierung Kreschtschenkas ging voran, die Leute fingen an, vor ihren Häusern Strommasten zu errichten, und Wasja Tschornij, unser Mechaniker und ich befaßten uns mit einem Dieselmotor und einem Stromgenerator, die in einen funktionsfähigen Zustand gebracht werden mußten. Sie waren im vergangenen Jahr in den Forstwirtschaftsbetrieb gebracht worden, aber man hatte sie bislang noch nicht in Betrieb genommen. Es war beschlossen worden, in erster Linie zum Tag der Wahlen in den Obersten Sowjet im Dorfratsgebäude, im Forstbetrieb, im Dorfladen, den Kontoren der Waldwirtschaft sowie der Beschaffungs- und Zuteilungsabteilung elektrische Spannung zu erzeugen. Schlecht war nur, daß wir anstelle der uns fehlenden Aluminium-Leitungen für die Außenleitungen Stacheldraht verwenden mußten, der eigentlich für Flößzwecke bestimmt war. Ich hatte viele Schallplatten zum Abspielen und einen leistungsstarken Verstärker mitgebracht, woraufhin Wasja und ich beschlossen etwas Gutes zu tun und das Zentrum von Kreschtschenka mit Musik zu versorgen. Mit viel Mühe brachten wir beide den Dieselmotor der Marke „Odinschanez“ und den Stromgenrator in Gang. Wir freuten uns, daß es nun in unserem Kontor und auf der Straße elektrisches Licht gab. Die Leute vertrauten uns. Unsere Elektrostation begann zu arbeiten, aber nun mußten noch die elektrischen Leitungen bis in die Häuser hinein verlegt werden. Dann kam der Tag der Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR, welche im Wahlbezirk beim Dorfrat durchgeführt wurden. Dort hatten wir zuvor einen Verstärker installiert und auf der Straße einen Lautsprecher. Um sechs Uhr morgens schalteten Wasja und ich die Hymne ein und anschließend in voller Lautstärke – Unterhaltungsmusik. Das Volk kam sogleich in Scharen zum Wahlbezirk geströmt. Die Musik hatte alle aufgerüttelt und seit dem frühen Morgen in den Bezirk gezogen. Unsere Elektrifizierung hätte in einem der Häuser beinahe ein Feuer verursacht. Der alten Wasja hatte man erklärt, daß man zum Ausschalten der elektrischen Lampe den Schalter betätugen müsse. Aber da sie früh schlafen gegangen war, hatte sie die Glühbirne mit einem wollenen Tuch umwickelt, das schon bald darauf zu qualmen begann. Da die alte Frau noch nicht fest eingeschlafen war, hatte sie sich hilfesuchend an ihre Nachbarn gewandt, und die hatten dann die Lampe mit dem Schalter ausgeschaltet. Nur wenig später wäre womöglich ein Unglück geschehen. Dank unserer einstweilen nur im Zentrum von Kreschtschenka vorgenommenen Elektrifizierung, verliefen die Wahlen in den Obersten Sowjet auf einem heiteren Niveau – mit Tanz und Gesang am Klubgeb äude, wo nun ohne den gewohnten kleinen Motor mit Hilfe unserer Elektroinstallationen Kinofilme gezeigt werden konnten.
Nach dem 20. Parteitag der KPdSU begann der Wind der Freiheit aus Moskau herüberzuwehen. W.I. Welmin verkündete auf der Arbeit, daß „in der letzten Ausgabe der „Prawda“ ein Artikel vom politischen Berichterstatter Jurij Schikow hinzugefügt wurde. Was glaubt ihr wohl, wer das ist? Das ist mein ehemaliger Schüler“ – sagte Wladimir Iwanowitsch. „Ich“ (fuhr er fort) habe ihm bereits telegraphisch ein Lebenszeichen von mir gegeben“. In der Tat war der Schüler seinem Lehrer ähnlich, und wenige Tage später erhielt Wladimir Iwanowitsch eine telegraphische Anweisung mit 500 Rubel, und noch etwas später geschah ein richtiges Wunder – Wladimir Iwanowitsch wird vom Nowosibirsker Gebietskomitee der KPdSU einberufen und man teilt ihm unter Aushändigung seines Parteibuches mit, dass er vollständig rehabilitiert und in die Partei wieder aufgenommen ist. Dieses Wunder hatte, wie Wladimir Iwanowitsch sich ausdrückte, „Schurka Schukow“ bewirkt, indem er an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, K.J. Woroschilow, ein Bittgesuch geschrieben und ihn um die „posthume“ Rehabilitierung W.I. Welmins gebeten hatte. Jene Variante erforderte nicht die Durchführung von Ermittlungen zu seinem Verfahren, sondern man umging die ganzen bürokratischen Nachforschungen mit der Suche und dem Aufrufen von Zeugen usw. Später begab sich Wladimir Iwanowitsch nach Moskau, wo die Redaktion der Zeitung „Waldwirtschaft“ ihn in ihren Personalbestand aufnahm, und Jurij Schukow brachte ihn, so lange der Moskauer Stadtrat noch über seine Wohnfrage entschied, für ein Jahr mit in seiner Wohnung unter. Das war ein in höchstem Maße edelmütiges Verhalten des Schülers gegenüber seinem Lehrer. Nun lebte der Forstbetrieb sei 1956 ohne W.I. Welmin. W.F. Deul wurde ebenfalls rehabilitiert, er fuhr zu seiner Familie nach Moskau. Auch der bekannte Balalajkaspieler aus Odessa Sergej Bolschoj wurde rehabilitiert, ein dicker Mann von großer Gestalt, der naturgetreu alle möglichen Geräusche nachahmen konnte: den „Gesang“ eines Hahns, das satte Brummen des Motors in unserer Elektrostation, das Fahrgeräusch eines Autos, usw. Als Mensch hatte man ihn in der Siedlung sehr gemocht, nur einer konnte ihn nicht ausstehen – und das war unser NKWD-Kommandant, der es auch innerhalb mehrerer Jahre nicht verstanden hatte, ihn zur gemeinschaftlichen Arbeit heranzuziehen. Er lebte in einer alten Hütte mit niedrigem Eingang, über dem an der Innenseite die Losung hing: „Geh erst hinaus, wenn du viele Lieder gesungen hast“. Er besaß einige Schallplatten, die er mit seinem virtuosen Balalajkaspiel aufgenommen hatte. Solche Spaßvögel lebten dort also unter uns, die sich vor keiner Macht und keiner Behörde fürchteten.
Es ist sehr schade, dass von den Menschen, die ich hier genannt habe, im Jahre 2010 schon keiner mehr unter den Lebenden weilte. Als letzter verstarb in der Stadt Kujbyschew mein Direktor des Forstbetriebs Leonod Fjodorowitsch Rybakow, ein verwundeter Frontkämpfer, der die ganze Zeit davon träumte, den „Stümper Breschnjew“ und den „Säufer Jelzin“ zu überleben. Sein letzter Wunsch erfüllte sich nicht. Es tut mir sehr leid um ihn, denn wir beide haben gut zusammen gearbeitet und in Moskau und Deutschland noch lange unseren Kontakt aufrechterhalten.
Aber kehren wir nach Kreschtschenka, ins Jahr 1956, zurück. Im Sommer erhielt ich aus Krasnojarsk eine Einladung vom Sibirischen Institut für Forstwirtschaft, am dortigen Lehrstuhl für „Elektrotechnik“ als Assistent tätig zu werden, nachdem ich aufgrund eines Wettbewerbs beim Gelehrtenrat des Instituts ausgewählt worden war. Mein Versetzungsgesuch ans Institut wurde in Nowosibirsk vom Leiter der Hauptverwaltung für Forstwirtschaft, Koslow, unterzeichnet. Nachdem wir unsere Habseligkeiten zusammengepackt hatten, fuhren wir zu viert mit einem LKW der Marke SIS-5 bis zur Station Ubinskaja. Wir hatten eie ganze Menge Hühner- und Kalbfleisch mitgenommen, das wir in Eimern mit Fett übergossen hatten. Ganz genau drei Jahre hatten wir in Kreschtschenko gelebt – in der Umgebung und unter der gutmütigen Aufmerksamkeit von Sibirjaken und „Verbannten“. In diesen drei Jahren war Witjuschka herangewachsen und vor allem durch die im Hause vorhandene Milch, die Beeren der Taiga und das Gemüse aus dem Garten kräftig geworden. Wir hatten unser Ziel im Hinlick auf Witjuschkas Gesundheit erreicht. Und in Kreschtschenka bleiben wir den Menschen als Familie „L.O. Inschenerow“ in Erinnerung. Wir wurden von der guten Familie Walter erwartet. Mama fuhr sogleich von Ubinskaja aus zu Else nach Moskau, gen Westen, und wir Drei – gen Osten.
So trafen wir als im August 1956 in Krasnojarsk ein. Es gab ein fröhliches Wiedersehen mit Witjas Eltern, mit Garik, Tomotschka und Walerik. Bald darauf bekam Papa vom Bautrust N° 47 eine Dreizimmerwohnung zugeteilt und überließ uns daraufhin seine vorherige Zweizimmerwohnung – das war ein großer Erfolg. Sogleich machten wir uns an deren kosmetische Verschönerung, weißten die Wände, strichen die Fußböden. Bei dem Haus handelte es sich um ein altes, zweigeschossiges Vorkriegsgebäude mit Plumpsklo; deswegen konnte man beim Betreten der Wohnung einen gewissen Geruch wahrnehmen. Witjuschka wurde im benachbarten Kindergarten untergebracht. Witja fand eine Arbeitsstelle in der ehemaligen Verwaltung des Arbeitsleiters, der UNR-436. Wir setzten uns mit Jurij Jankowitsch in Verbindung, besuchten die Familie und sahen ihre Tochter Olja, Mascha und Natalia Viktorowna.
Bis heute habe ich mein Sibirisches Institut für Forstwirtschaft in mein Herz geschlossen. Alles darin erscheint mir irgendwie heilig, einmalig, nicht wiederholbar. So gesehen war es meine allererste Lehreinrichtung, die die Hand nach mir ausstreckte und nicht zu mir sagte: ....“Für Deutsche haben wir das Institut nicht erbaut“ ..., wie man es mir zuvor deutlich zu verstehen gegeben hatte. Deswegen ist mit das Sibirische Institut für Forstwirtschaft auch heute noch, nachdem etwa 60 Jahre seit jener Zeit vergangen sind, in jeder Hinsicht lieb und teuer. Natürlich ist es mit dem Moskauer Institut für Energiewirtschaft nicht zu vergleichen. Der 31. Juli 1948 stellt für mich ein historisches Datum dar, als nämlich meine Dokumente von der Aufnahmekommission in Person der Hochschullehrerin Kosolapowa angenommen wurden. Mit dem Tag begann ein neues Leben, mein langjähriger Wunschtraum vom Studium an einer Hochschule sollte sich verwirklichen. Am Lehrstuhl für Elektrotechnik wurde ich freundlich aufgenommen. Der Leiter des Lehrstuhl, Doktor der technischen Wissenschaften und Dozent A.N. Schilin ließ mich die Laboratoriumsarbeiten durchführen, und zwar mit Gruppen aus den Studiengängen der letzten drei Jahre, älteren Studenten, die zwar schon Erfahrungen bei der Arbeit in der Forstwirtschaft gesammelt hatten, aber nur über eine mittlere Ausbildung verfügten. Anstelle von 5 Jahren absolvieren sie das Ingenieurprogramm in beschleunigtem Tempo innerhalb von nur drei Jahren. Es war interessant mit diesen Studenten zu arbeiten, denn sie waren äußerst diszipliniert und äußerst wissbegierig – besonders in Bezug auf elektrotechnische Ausrüstungsgegenstände und die Elktrotechnik im allgemeinen. Wostrow war einer dieser herausragenden Spezialisten, und er wurde später, nach dem Tod A.N. Schilins, auch der Leiter dieses Lehrstuhls. Natürlich war es für mich nicht sonderlich bequem, jeden Tag aus dem Bumstroj-Bezirk zum Institut ans linke Flußufer zu fahren. Von 1956 bis 1958 machte ich dennoch keine Einwände, aber als mein Gehalt sich 1956 aufgrund des Wegfalls der sibirischen Sonderzulage um 15% verminderte, da beschloß ich zu kündigen und zur Verwaltung des Arbeitsleiters, der UNR-436 für Elektromontagen, zu wechseln, und zwar als Meister beim Bau der Reifenfabrik in unserem Bumstroj-Bezirk. Das Gehalt stieg, es gab Prämienzahlungen, und das wichtigste war die Bekanntschaft mit neuen, aus der BRD importierten Elektroausrüstungsgegenständen und der Montage von Elektrostationen unterschiedlicher Kapazität. Im Revier für die Elektromonteure organisierte ich einen Abendunterricht für Elektrotechnik, behängte die ganzen Wände mit Plakaten zum Thema Elektrotechnik und machte Rationalisierungsvorschläge zu Projekten und Installationen. Die Leitung der UNR-436 (Leiter Wischnewskij und Oberingenieur Arutjunow) bewerteten meine Arbeit positiv und ernannten mich bald darauf zum Chef der Produktionsabteilung. Ich beschloß sogleich meine Lehrpolitik in der Verwaltung fortzuführen, indem ich eine Bibliothek in dem mir zusätzlich zur Verfügung gestellten Raum organisierte. Die Bibliothek wurde von den Meistern, Vorarbeitern und Elektromonteuren genutzt. Es fand sich auch eine Planstelle für eine Bibliothekarin, die den Erwerb und die Versorgung der einzelnen Reviere mit Literatur und Anschauungsmaterial in gedruckter Form sicherstellte.
In der Straße des Krasnojarsker Arbeiters wurde für die Verwaltung, unter Wahrung der architektonischen Erfordernisse, wie beispielsweise eine Deckenhöhe von 2,5 m, mehrere große Küchen, ein fünfgeschossiges Haus errichtet. Bei der Belegung und Auswahl der Wohninteressenten fand turnusmäßig eine Begutachtung unseres alten Hauses in der Siedlung Postojanniy statt. Nachdem sie die Zustände dort als unhygienisch eingestuft hatten, wurde der Verwaltungsdirektion der Vorschlag unterbreitet, uns im neuen Haus eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Und wie erhielten sie: im vierten Stock, 3 Zimmer mit Balkon und einem Gasherd. Wir waren schrecklich froh, dass das Verwaltungskollektiv unsere Anwartschaft auf eine Wohnung unterstützt hatte. Unser Viktor wurde nach dem Umzug in die neue Wohnung in der Straße des Krasnojarsker Arbeiters an der dortigen Schule ein guter Schüler; er besuchte den sportlichen Zweig des Gymnasiums. Sein bester Freund war Sergej Batuchtin. Mama baten wir darum, mit Viktor kein Deutsch zu sprechen, denn die anderen Kinder waren gegenüber den Deutschen negativ eingestellt. Wie sich später herausstellte, brachte Mama ihm trotzdem heimlich, ohne das wir etwas bemerkten, Deutsch bei – mit wolgadeutscher Aussprache. Für ihre akkurate und wohlgemeinte Mühe waren wir Mama später sehr dankbar. Während der Sommerzeit fuhren die Sportsektionen immer in ein Zeltlager am Fluß Basaicha mit seinem klaren, sauberen Gebirgswasser. Viktor hat an die Mittelschule, von der er später an die nowosibirsker Schule wechselte, die allerbesten Eindrücke im Hinblick auf die Lehrer und insbesondere den Direktor in der Erinnerung behalten. Das Sportlager und der Naturpark „Stolby“ härteten Viktor ab, stärkten seine Gesundheit – das hat Mama, also seine Großmutter, immer wieder hervorgehoben.