Mit dem Ende der gesamten Aspirantenzeit im Oktober 1965 fuhr ich nach Nowosibirsk, um dort meine Arbeit am Elektrotechnischen Institut aufzunehmen. Auf dem Kasaner Bahnhof traf Tatjana Pawlowna Marusowa mit ihrer Tochter Marina ein, um mich zu begleiten, wofür ich beiden sehr dankbar war. Am Elektrotechnischen Institut in Nowosibirsk wurde ich vom Leiter des Lehrstuhls W.M. Natotschin und dem Rektor G.P. Lyschinskij gern eingestellt. Der Rektor ernannte mich zum Vorsitzenden der Aufnahmekommission der elektrotechnischen Fakultät.
Im Winter 1965 traf ich im Rahmen meines Arbeitsvertrages mit dem Ministerium für den Aufbau der UdSSR dienstlich in Moskau ein und traf dort erneut mit Jewgenij Viktorowitsch zusammen. Innerhalb weniger Monate hatte er zum Kontrollieren der Kenntnisse der Studenten während der Prüfungssitzungen einen „Examenator des Moskauer Instituts für Energetik“ erarbeitet. Den methodischen Teil dieser Installation hatten P.A. Dolin, T.P. Marusowa und N.W. Schipunow entwickelt, aber die gesamte Konstruktionsarbeit „aus Metall“ erledigte J.W. Ametistow, indem er die entsprechenden Zeichnungen und Skizzen dazu anfertigte und die Bestellungen bei der Versuchsfabrik des Moskauer Instituts für Energetik vornahm. Das war sein erster großer Erfolg im Lehrprozeß, der vom Lehrstuhl hoch eingeschätzt wurde. Jewgenij Viktorowitsch setzte mich als Frischling aus der Provinz an diesen Examinator, damit ich meine Meinung darüber äußern sollte. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als auf der Anzeigetafel eine Zwei (entspricht im hiesigen Notensystem etwa einer „4“; Anm. d. Übers.) hervorsprang; so wurde ich also sogleich dafür, dass ich die Gedanken der Urheber in Frage gestellt und unterschätzt hatte und auch für die Spontanität meiner Antworten bestraft – ich erhielt eine ungenügende Zensur. Meine Meinung war eindeutig – das automatisierte Ausbildungssystem bewertet in objektiver Weise die Kenntnisse der Studenten, beschleunigt ihre Befragung, verkürzt die Prüfungssitzung. Das ganze methodische Material zum „Examenator des Moskauer Institits für Energetik“ übergab mir der Lehrstuhl im Rahmen der Patenhilfe; es wurde am Lehrstuhl für Arbeitsschutz am Elektrotechnischen Institut in Nowosibirsk eingeführt.
Im Juni 1966 ereignete sich in Taschkent ein heftiges Erdbeben, in dessen Folge ein Bautrupp aus Studenten des Elektrotechnischen Instituts in Nowosibirsk abreiste, um der Stadt zur Hilfe zu kommen. Wenige Tage später kam eine Nachricht über den Tod eines unseres Studenten. G.P. Lyschtschinskij rief mich zu sich und bat mich, unverzüglich dorthin zu fliegen. Ich flog noch am selben Tag ab und fand mich im Komsomol-Stab des Zentralkomitees der Allrussischen Leninistisch-Kommunistischen Jugendorganisation wieder, der sämtliche Baueinheiten der Hochschulen kommandierte, die zur Unterstützung der Stadt Taschkent angereist waren. Der ums Leben gekommene Student aus dem dritten Studienjahr stammte aus dem Altai; er war bei der Untersuchung eines eingestürzten, ursprünglich aus ungebrannten Lehmziegeln gebauten Hauses von einem tödlichen Stromschlag getroffen worden. Er hielt in der Hand eine Isolierleitung und war beim Aufwickeln mit dem „nackten“ Bereich in Berührung gekommen. Es stellte sich heraus, dass die Leitung unter der Spannung der intakt gebliebenen und in Betrieb befindlichen Freileitung gestanden hatte. Die Eltern wurden von dem tragischen Unglücksfall benachrichtigt. Der Vater kam angereist, aber die Sorge der Überführung des Toten nach Hause und die Beerdigung als solche nahm der Stab des Zentralkomitees der Allrussischen Leninistisch.Kommunistischen Jugendorganisation auf sich und stattete zu diesem Zweck zwei begleitende Studenten entsprechend aus. Mit den Studenten des Bautrupps des Elektrotechnischen Instituts Nowosibirsk führte ich in deren Zelt eine Reihe von Gesprächen zum Thema technische Sicherheit während der Durchführung ihrer Bauarbeiten. Bei meiner Rückkehr ans Elektrotechnische Institut in Nowosbirsk erstattete ich dem Rektor Bericht über meine Dienstreise nach Taschkent, meine Begegnungen und Unterredungen mit unseren Baueinheiten. Der Rektor drückte den Eltern des verstorbenen Studenten im Namen des Elektrotechnischen Instituts sein tiefstes Mitgefühl und Beileid aus. Meine Reise nach Taschkent wurde von ihm gutgeheißen.
Aufgrund der notwendigen Arbeit an meiner Dissertation wurde ich von meinen Aufgaben in der Aufnahme-Kommission vollständig freigestellt. Nur ein einziges Mal mußte ich meine Arbeit unterbrechen, um wegen der Entgegennahme von Dokumenten eines um zwei Tage verspäteten, hervorragend benoteten Absolventen aus Alma-Ata, der sich unbedingt an unserer elektrotechnischen Fakultät einschreiben wollte, die Erlaubnis des Rektors einzuholen. Von G.P. Lyschtschinskij, den ich im Hof des Instituts erwischte, erhielt ich sogleich das Einverständnis, die Papiere dieses Abiturienten entgegenzunehmen. Im Juli und August gaben Ernuschka und Ljowa (meine Nichte und ihr Mann) in verschiedenen Städten der UdSSR mit ihrem Orchester ein Gastspiel. Ernuschka erlaubte mir, ihre leerstehende Dreizimmer-Wohnung einzunehmen, damit ich zum Schreiben der Dissertation genügend Ruhe hatte. Witja tippte die Seiten auf einer von Elsa in Moskau gekauften, tragbaren, deutschen Schreibmaschine vom Typ „Erika“, die einwandfrei funktionierte. Nach zwei Monaten, in denen ich an den Entwürfen gearbeitet hatte, schrieb ich den endgültigen Text für die Doktorarbeit auf 170 Seiten, mit 24 anschaulichen Zeichnungen. W.M. Natotschin gab sein Einverständnis, dass ich die Arbeit in Moskau abschließen durfte, dort ein Referat am Lehrstuhl halten und danach den Doktorgrad erhalten sollte. Und so tat ich es auch. Schnell und ohne Fehler schrieb die bereits etwas betagte Sekretärin des Lehrstuhls für Physik am Moskauer Institut für Energetik die Doktorarbeit ins Reine. Die Zeichnungen machte ich selber fertig. Die typographische Anstalt des Moskauer Instituts für Energetik druckte mein Autoreferat in 100 Exemplaren. Die Vorbereitung für die Verteidigung der Dissertation hatte eine Menge Zeit in Anspruch genommen, denn es war unbedingt notwendig gewesen, auch Protokolle anzufertigen und zu drucken, ferner Bulletins für die Abstimmung des Gelehrtenrats, und vor allen Dingen mußten von verschiedenen Organisationen gutachterliche Stellungnahmen erfolgen. Die Verteidigung der Doktorarbeit war auf den 17. Mai 1967 angesetzt worden und sollte auf der Sitzung des Gelehrtenrates der elektromechanischen Fakultät des Moskauer Instituts für Energetik stattfinden. Meine Opponenten waren der Doktor der technischen Wissenschaften, Professor L.W. Gladilin aus dem Moskauer Bergbau-Institut, der Doktor der technischen Wissenschaften und Dozent am Lehrstuhl für theoretische Grundlagen der Elektrotechnik am Moskauer Institut für Energetik – A.R. Kant, der wissenschaftliche Leiter, Doktor und Dozent N.W. Schipunow, der Vorsitzende des Gelehrtenrats der Elektromechanischen Fakultät, Professor N.W. Astachow, der Sekretär des Gelehrtenrates der Elektromechanischen Fakultät – A. Worobjew. In einem der zentral gelegenen moskauer Restaurants, im „Aragwi“, auf dem Sowjetischen Platz, hatte ich für den gesamten Lehrstuhl (18 Personen) ein Abendessen bestellt. Die Verteidigung der Dissertation verlief erfolgreich und in wohlwollendem Ton, es wurden Fragen gestellt, und zum Abschluß meines Referats, das insgesamt 20 Minuten dauerte, sprach der Leiter des Lehrstuhls – Professor A.A. Truchanow, der mich sehr unterstützte und die Mitglieder des Gelehrtenrats dazu aufrief positiv zu stimmen. Die Meinung des Gelehrtenrats war einstimmig : „dafür“. Nach der Dissertation fuhr der ganze Lehrstuhl zum Restaurant „Aragwi“, wo unser Abendessen nach grusinischer Art von 20.30 h bis 23.00 h dauerte; anschließend gingen wir zum zentralen Telegraphenamt und gaben ein Telegramm mit folgendem Inhalt auf: „Nowosibirsk, Marxprospekt, an das Elektrotechnische Institut Nowosibirsk, Lyschtschinskij.Aspirant Leo Ottowitsch Petri hat erfolgreich seinen Doktortitel verteidigt. Truchanow.“ Wie man mir später mitteilte, wurde am folgenden Tag am Haupteingang des Elektrotechnischen Instituts in Nowosibirsk ein Plakat aufgehängt: “Am 17. Mai 1967 hat der Hochschullehrer am Lehrstuhl für Arbeitsschutz und Elektromontage-Technologie, Leo Ottowitsch Petri, erfolgreich seine Anwärterschaft auf den Doktortitel verteidigt. Wir gratulieren dem jungen Wissenschaftler. Der Gelehrtenrat des Elektrotechnischen Instituts Nowosibirsk“. Es war schön, das alles zu hören und zu sehen. Die Tränen traten mir in die Augen, als ich all das Geschehene später in meiner Erinnerung wachrief – was für einen Preis hatte ich als Deutscher dafür zahlen müssen, bis ich diesen Gipfel erreichte, angefangenen mit der Tundra: „Für Deutsche haben wir dieses Technikum nicht gebaut!“ So hat sich aus einzelnen Episoden das Schicksal meiner glücklichen Familie zusammengefügt. Am Elektrotechnischen Institut Nowosibirsk ging ich zur Arbeit und wurde vollständig in den Unterrichtsprozeß des Lehrstuhls einbezogen – Vorlesungen, Tätigkeiten im Labor und in der Staatlichen Prüfungskommission. Die Finanzierung der wissenschaftlichen Arbeit mittels eines Wirtschaftsvertrages garantierte dem Lehrstuhl der Konzern „SibElektromontagen“. Der Leiter des Trusts, Andrejew, sowie Ober-Ingenieur Arutjunow waren zufrieden, dass ihr ehemaliger Mitarbeiter ihre Hoffnungen erfüllt hatte und die Unterstützung meiner Familie während der Aspirantur gerechtfertigt war. Jetzt gab es für Lehramtsinhaber des Lehrstuhls die Möglichkeit, an den wissenschaftlichen Aktivitäten des Lehrstuhls teilzuhaben, wofür man ihnen noch eine halbe Stelle zusätzlich verschaffte, so dass sie ihre Nebenverdienst-Tätigkeiten aufgeben konnten. Das wurde vom gesamten Kollektiv sehr hoch anerkannt. Am Lehrstuhl erschien der erste Aspirant – W. Kulikow. Als Dozent wurde I. Poljak eingestellt, ein fleißiger Mann, der gern bereit war, Initiativen zu ergreifen. Auf meine Bitte hin übergab der Leiter des Kemerowsker Elektro-Montage-Trusts, W.D. Aleksejew, im Rahmen der technischen Hilfe einen betriebsbereiten Fahrzeugkran an die Organisation des Lehrlaboratoriums für Elektromontagen, den ich vorübergehend an G.P. Lyschtschinskij weitergab. Der Direktor dankte mir dafür aufrichtig, denn auf dem Gelände des Elektrotechnischen Instituts Nowosibirsk war dieser Kran sehr nützlich. Nach dreimonatiger Unterkunft im Aspiranten-Wohnheim des Elektrotechnischen Instituts Nowosibirsk stellte der Trust Witja eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem eben erst fertiggebauten Haus zur Verfügung, das gar nicht weit vom Institut entfernt lag und sich in der Nemirowitsch-Dantschenko-Straße befand. Im Zusammenhang mit unserem Umzug von Krasnojarsk nachNowosibirsk wurde Viktor in die zehnte Klasse der Mittelschule versetzt, die er erfolgreich mit einer Silbermedaille beendete.Witja fand eine Stellung bei der ersten Nowosibirsker Verwaltung für Elektromontagen (mit M.I. Kolomin als Chef) als Stellvertreterin des Ober-Buchhalters W.D. Dering. Nun war unsere Familie in Nowosibirsk vollständig versammelt, mein Aspiranten-Dasein war zuende. Zuhause beschloß ich die Arbeit an den Unterwasserflügeln für die Schaluppe zu vollenden. Nachdem ich die vorbereitete Stahlkonstruktion mit einer Schraubzwinge am Fensterbrett festgeklemmt hatte, begann ich mit Hilfe von Schablonen das Profil für Flügel und Stützen herauszufeilen. Einen Liegeplatz für die Schaluppe hatte ich in der Bootsstation am rechten Ufer des Ob, im Stadtzentrum, gleich neben der Eisenbahnbrücke erhalten. Dort hatten Garik und ich einen Metallschrank aufgestellt, in dem man Kanister mit Benzin und alle möglichen sonstigen Sachen unterbringen und den man auch zuverlässig abschließen konnte. Im Sommer 1967 beendete ich innerhalb eines Monats die Herstellung der Unterwasser-Flügel; und nun kam die Zeit, um sie direkt auf dem Fluß zu erproben. Der Sinn und Zweck, die Schaluppe auf Unterwasserflügel zu setzen bestand darin, dass man auf diese Weise den 10-PS-Außenbordmotor der Marke „Moskwa“ nicht gegen einen 25 PS starken Motor austauschen mußte, um eine höhere Geschwindigkeit zu erreichen, und dass der Verbrauch von Benzin sparsamer sein würde, denn so eine Fahrt zum Nowosibirsker Stausee stellt eine weite Reiseroute dar. Um mich nicht in Verruf zu bringen, erzählte ich keiner Menschenseele von meinen beabsichtigten Versuchen, nicht einmal Garik. Die Erprobungen verliefen erfolgreich, die Geschwindigkeit war gerade einmal ein wenig niedriger als die einer „Rakete“, also nicht unter 50-55 km/h. Der Rumpf der Schaluppe hing in der Luft und flog, wobei es die Wellenkämme durchschnitt; man merkte deutlich, dass der Motor nicht ausgelastet war, denn er „heulte“ mit hohen Umdrehungen. Ich sah, dass man am Ufer und auf den entgegenkommenden „Kähnen“ auf mich aufmerksam geworden war, die Leute winkten zustimmend herüber. Ich flog mit hoher Geschwindigkeit bis zum Staudamm des Wasserkraftwerks am Ob (15 km), wendete und fuhr wieder zurück. Mein Herz klopfte vor Freude über die erfolgreich verlaufenen Versuche. Später, als ich mit Garik zu zweit auf der Schaluppe fuhr, flog sie noch besser dahin, denn da konnte man das Gewicht gleichmäßiger verteilen.
Mit dem Fortgang von W.M. Natotschin aus dem Elektrotechnischen Institut Nowosibirsk und dem Erhalt der wissenschaftlichen Bezeichnung eines Dozenten durch das Oberste Attestationskomitee, ernannte mich der Rektor zu Beginn des Studienjahres 1968 zum Leiter des Lehrstuhls für „Arbeitsschutz und Elektromontage-Technologie“ sowie zum Dekan der elektrotechnischen Fakultät. Viktor und Valerik hatte sich im Herbst 1967 am Elektrotechnischen Institut Nowosibirsk in meiner Fakultät eingeschrieben. Auch L.F. Rybakows Tochter Valentina wurde aufgenommen. Ich wurde, auch durch das Leben im Wohnheim, von einer Unmenge Arbeit mit den Studenten überschüttet, mußte an Sitzungen des Gelehrtenrats der Fakultät teilnehmen usw. An der Fakultät bildete sich spontan eine Initiativgruppe, die mich aktiv unterstützte, und zwar besonders bei anschaulichen Agitationen, der Montage einer Wandzweitung von 10 m Länge, die nur in der 2. Etage des 2. Blocks Platz fand. In diesem Bereich machte unsere Fakultät unter den anderen damals Furore. Rektor G.P. Lyschtschinskij besaß unter den Studenten eine große Autorität, die bereits mit der ersten Begegnung in der Aula vor dem Beginn der Lehrveranstaltungen zum 1. Semester einsetzte. Er warnte davor, dass sich die Studenten während des Lehrbetriebs nur nicht zu einer Heirat hinreißen lassen sollten, denn es würde keine gesonderten Unterkünfte für Studenten mit Kindern geben. Wie gewohnt organisierte der Rektor am Abend des ersten Studientages führ das erste Semester ein Treffen der neuen Studenten mit den Dekanen und Hochschullehrern, das mit einer Tanzveranstaltung zuende ging. In dieser Zeit wird Georgij Pawlowitsch zur Hauptfigur des Abends und zum Lehrer damals neuartiger Tänze – Rock’n-Roll, Twist u.ä. Er, der immer noch über die wunderbar harmonische Figur eines jungen Mannes verfügte, führte in der Mitte des Kreises mit seiner aus den Reihen der Studenten stammenden Partnerin die neuen Tänze aus. Mit stummem Staunen verfolgten die Studenten ihre klassischen Bewegungen und wollten das Paar schließlich aus der Kreismitte gar nicht wieder herauslassen. Man kann einfach nicht glauben, dass das alles einmal zu seinen Lebzeiten – vor 40 Jahren - Wirklichkeit war (er eignete sich Tänze an, in dem er in Amateurgruppen im Haus der Kultur des Moskauer Instituts für Energiewissenschaften mitwirkte). Das Kollektiv des Nowosibirsker Elektrotechnischen Instituts bewahrt Georgij Pawlowitsch heute noch in guter Erinnerung. Mit G.P. Lyschtschinskij arbeitete ich aufgrund des Umzugs nach Moskau lediglich drei Jahre zusammen, von 1966-1969. An dem Haus, in dem er im Zentrum der Stadt wohnte, befindet sich eine Gedenktafel mit seinem Namen. 1981 wurde der Absolvent des Elektrotechnischen Instituts in Nowosibirsk, Anatolij Parachin aus dem Altaigebiet, bei mir am Moskauer Institut für Energiewirtschaft für eine Aspirantur aufgenommen. Der Leiter des Lehrstuhls für Arbeitsschutz am Nowosibirsker Elektrotechnischen Institut, Borodin, erwies A. Parachin große Hilfe und Mitwirkung beim Studium. Sein wissenschaftliches Thema bezog sich auf das Problem des Studiums der Verteilung von elektromagnetischen Feldern im Bereich von Stromübertragungsleitungen unterschiedlicher Spannung. Anatolij wandte viel Mühe und wissenschaftliche Forschungstätigkeit für die Erarbeitung einer elektronischen Installation zur Messung dieser Felder auf. Seine Doktorarbeit war nicht einfach nur erfolgreich, sondern glänzend, und dieser Erfolg wurde ganz besonders vom Diskussionsgegner und Doktoranwärter der technischen Wissenschaften, dem Dozenten des Lehrstuhls für theoretische und allgemeine Elektrotechnik vermerkt. Der gesamte Lehrstuhl für Arbeitsschutz des Moskauer Instituts für Energetik war beigeistert. Bei seiner Rückkehr ans Institut für Elektrotechnik in Nowosibirsk wurde A. Parachin zum stellvertretenden Dekan der elektrotechnischen Fakultät ernannt und anschließend auch zum Leiter des Lehrstuhls für Arbeitsschutz an derselben Universität. Mit der Zeit fand sich auch eine Lösung für seine Wohnungsfrage, die lange Jahre ein Problem gewesen war. Ich bedaure es sehr, dass ich in den nachfolgenden Jahren nicht die Möglichkeit hatte A.Parachin wiederzutreffen. Ich habe ihm immer viel Erfolg in seiner Lehr- und wissenschaftlichen Tätigkeit am Lehrstuhl gewünscht.
1968 erhielt ich aus Moskau von Professor P.A. Dolin die Nachricht, dass ein „Erlaß“ herausgekommen sei, der es ehemaligen Bewohnern der Städte Moskau und Leningrad, die vor dem Krieg dort gelebt hatten, erlaubte, für diese beiden Hauptstädte eine polizeiliche Anmeldung zu erhalten, allerdings ohne Anspruch auf eine Wohnung. Ob ich damit einverstanden wäre nach Moskau zu fahren? Ich gab ihm eine positive Antwort, und auch Witja erklärte sich „lauthals“ bereit, sich mit der gesamtem Familie dorthin zu begeben. Einige Tage später, nachdem ich von sämtlichen Angehörigen, einschließlich der Familie Walter die Zustimmung für das Vorhaben bekommen und auch alle Papiere beisammen hatte, flog ich nach Moskau. Das wichtigste aller viele Jahre aufbewahrten Dokumente war die Bescheinigung über meine Evakuierung aus Moskau vom 10. Juli 1941 und anschließend die in Moskau erhaltene Abschrift aus Onkel Karls Hauswohnungsbuch. Genau einen Monat später, im August 1968 erhielt ich bereits den positiven Bescheid des Moskauer Stadtrats, mit der Erlaubnis, bei der Moskauer Meldebehörde eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung für die gesamte Familie Petri (4 Personen) zu beantragen. Das war nach all dem, was wir zuvor durchgemacht und erlebt hatten, eine großartiger Sieg. Als Unterkunft konnten wir nur eine Genossenschaftswohnung bekommen. In der zweiten Etage des Moskauer Instituts für Energetik, am Anschlagbrett des Gewerkschaftskomitees, las ich eine Ankündigung der Kooperative „Schipores“ der Holzverarbeitungsfabrik am Fluß Jausa darüber, dass es in dem von der Genossenschaft in Nowogirejewo zu errichtenden, zwölfgeschossigen Haus freie Drei-Zimmer-Wohnungen gab – mit einem Erstbeitrag in Höhe von 3000 Rubel. In der Fabrik begegnete ich dem Vorsitzenden der Kooperative, A.S. Abramowitsch, der mir voller Überzeugung sagte, dass meine Kandidatur alle guten Voraussetzungen erfüllte, denn es gäbe bereits den Beschluß des Moskauer Stadtrates über unsere Anmeldung, und wir müßten nur noch möglichst schnell die 3000 Rubel auf das Konto der Genossenschaft einzahlen. Mit dem Geld halfen mir meine Kusine und mein Kusin aus: Elsa lieh mir 1500 Rubel, und von Viktor Rusch in Nowosibirsk bekam ich noch einmal dieselbe Summe. Ich zahlte die Summe bei der „Schipores“ ein, und meine Schulden zahlte ich ein halbes Jahr später wieder zurück, nachdem ich für meine Teilnahme an der wissenschaftlichen Vertragsarbeit am Institut für Elektrotechnik in Nowosibirsk ausbezahlt worden war. Ein Jahr später war das Haus fertiggebaut, und es fand eine allgemeine Versammlung für alle Wohnungsinhaber statt, auf der die einzelnen Wohnungen verlost wurden. Elschen vertrat uns aufgrund unserer ihr erteilten Vollmacht und zog das Los für die Wohnung N° 107 in der vierten Etage. Etwas Besseres hätte man sich nicht wünschen können. Wir waren Elsik für diese Loswahl sehr dankbar. Nun, nachdem wir wußten, welche Wohnung wir bekommen hatten, nutzte ich jede Dienstreise nach Moskau zum Streichen der Fenster und Türen mit weißer Farbe, aber auch zum Versiegeln des Parkettfußbodens, der Beschaffung und Montage aller sanitären Armaturen und eines Gasofens, dem Einau eines Türschlosses und dem Anbringen der Lampen. Einstweilen befand sich niemand außer mir in der Wohnung.
Aber kehren wir nach Nowosibirsk zurück. Während einer der Unterrichtsstunden im Laboratorium stellte mir ein Student des 5. Studiengangs aus der Gruppe der Radiotechniker eine Frage, anhand derer man erkennen konnte, dass nur ein kluger Kopf sie stellen konnte. Während ich ihm antwortete, notierte ich mir seinen Nachnamen – Schtscherbina aus Stawropol, in der Absicht, ihn nach Abschluß des Instituts im folgenden Semester als Aspiranten zum Dozenten N.W. Shipunow ans Moskauer Institut für Energetik zu schicken. Meine Hoffnungen erfüllten sich – Schtscherbina machte sein Diplom mit Auszeichnung und der Rat der radiotechnischen Fakultät empfahl ihn zur Aspirantur am Moskauer Institut für Energetik. Später arbeitete Schtscherbina mit N.W. Schipunow zusammen und schrieb mit Erfolg seine Doktorarbeit am Moskauer Institut für Energetik; danach kehrte er an den heimatlichen Lehrstuhl des Elektrotechnischen Instituts in Nowosibirsk zurück.
Zum Sommer 1969 war die Wohnung in Moskau für unseren Umzug fertig. Die drei Jahre meiner zielstrebigen Aspirantenarbeit am Nowosibirsker Elektrotechnischen Institut waren beendet. Und in Moskau hält der Leiter des Lehrstuhls für Arbeitsschutz am Moskauer Institut für Energiewirtschaft, Professor B.A. Knjasewskij, bereits seit einem ganzen Jahr für mich die Planstelle eines Dozenten frei, ohne dafür einen offiziellen Wettbewerb ausgeschrieben zu haben. All das zusammengenommen erforderte die unverzügliche Entlassung aus dem Elektrotechnischen Institut in Nowosibirsk und den Umzug nach Moskau. G.P. Lyschtschinskij ließ mich erst beim zweiten Anlauf gehen, er wollte mich nicht verlieren, aber die Weisheit des wissenschaftlichen Leiters gewann schließlich doch die Oberhand. Für meinen Ersatz empfahl ich dem Rektor den Kandidaten der technischen Wissenschaften und Dozenten David Issakowitsch Poljak.
Auf dem Bahnhof bestellte ich einen 2-Tonnen-Container für Haushaltsgegenstände, das Klavier eingeschlossen, welches Papa noch in Krasnojarsk von seinem Urlaubsgeld für Witjuschka gekauft hatte. Das Packen dauerte nicht lange; wir kauften fünf Bahnfahrkarten für den komfortablen Zug „Sibir“ – für Mama, Witja, Witjuschka, Walerik und mich in einem Waggon mit Abteilen. In der ganzen Zeit, in der unsere Familie existierte, war dies der 12. Umzug, und nach dem bekannten Volkssprichwort hätten wir demnach sechsmal abbrennen müssen. Zum nowosibirsker Bahnhof begleiteten uns die beiden Hochschullehrerinnen des Lehrstuhls – A.W. Atlasowa und G.S. Siwodedowa, sowie der Dozent D.I. Poljak,und natürlich die Familie Walter. Sobald der Zug sich in Bewegung setzte dachte ich, dass dies nun die endgültige Trennung von Sibirien sein würde, dem ich aufgrund der Repressionen die 28 besten Jahre meines Lebens hingegeben hatte. Wir waren aufrichtig froh, dass wir wieder im heimatlichen Moskau leben würden, mit all den heiligen Orten unserer Familie. In unserer nächsten Umgebung gab es keinen Fall, bei dem eine Familie in Moskau sich direkt vom Bahnhof aus in ihre neue Wohnung begeben konnte. Es ist ein Wunder! Und genau das ist uns passiert. Tatsächlich fuhren wir vom Jaroslawsker Bahnhof zu fünft mit der Straßenbahn der Linie 37, mitsamt unserem Gepäck, direkt, ohne Umsteigen, bis in unser Nowogirejewo und gelangten mit dem Fahrstuhl in die vierte Etage. Das Ehrenrecht als Erster die Wohnung betreten zu dürfen war Walerik vorherbestimmt. Ich öffnete die Tür mit dem Schlüssel, und vor Walerik, in dem großen Zimmer, lag ein Blatt Papier mit Begrüßungsworten zur Ankunft und einer Flasche Sekt. Alle waren von einem derartigen Wohnungseinzug entzückt! Witjenka war so froh, dass sie unentwegt um mich herum sprang und mich küßte. Gegen Abend, nach der Arbeit, kamen Elsik und Onkel Mischa, der unterwegs aus einem Geschäft ein paar Kisten als „Tisch“ und „Stühle“ geholt hatte, zu uns – denn in der ganzen Wohnung gab es noch kein Möbelstück. Das einzige, über das die Wohnung verfügte, war Sauberkeit, für die ich selber gesorgt hatte, nachdem ich mit der Versiegelung des Fußbodens fertig geworden war. Wir ließen uns auf Zeitungen und Bettzeug nieder. Die Frage in puncto Möbel war ganz akut. Wir entschlossen uns, die zu der Zeit sehr modernen „Selbstbau-Möbel“ zu kaufen, die in Estland hergestellt werden. Onkel Mischa schlug uns vor, mit ihm in seinem „Pobeda“ („Sieg“; Anm. d. Übers.) bis nach Lettland zu fahren, mit einem kurzen Zwischenstop bei Jura in Riga, und wir sollten dann nach Tallinn weiterfahren. Hier suchten Witja und ich uns verschiedene Bretter-Kombinationen aus und verluden diese dann per Bahn nach Moskau. Nachdem unsere halbfertigen Fabrikate dort eingetroffen waren, begann der Aufbau der Schränke, des ausziehbaren Bettes, zweier Regalwänder für Bücher, eines kleinen Schranktischchens für den Fernseher sowie der anderen Bettstellen. Einen Monat später traf unser Container aus Nowosibirsk ein, der von moskauer Ladearbeitern akkurat abgeladen und in die Wohnung hinaufgetragen wurde. Schlechter sah es mit dem Transport des Klaviers nach oben aus. Ich half dabei, es über ein Brett hinaufzubewegen. Plötzlich zerbrach das Brett, und das ganze Gewicht des Instruments lag auf meinen Armen. Seit der Zeit habe ich mir eine hartnäckige Erkrankung eingefangen – heftige Schmerzen im Rücken durch einen vermutlich verletzten Wirbel, wodurch ein Nerv eingeklemmt wurde. Das Klavier erwies sich als fehl am Platze, denn die schlechte Lärmisolierung im Haus ließ es nicht zu, dass jemand darauf spielte. Alle Nachbarn über, unter und neben uns wurden durch das Spiel gestört. Und so verwandelte sich das Klavier von einem Musikinstrument zu einem Möbelstück – es stand dort bis 1994.
Viktor, der am Elektrotechnischen Institut in Nowosibirsk bereits drei Studiengänge auf dem Gebiet der „Elektromechanik“ absolviert hatte, wurde sogleich nach seiner Ankunft in Moskau zum vierten Studiengang am Moskauer Institut für Energetik aufgenommen. 1972 war er dort mit dem Studium fertig und wurde für seinen weiteren beruflichen Werdegang dem Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Energie beim Ministerium für Energiewesen zugeteilt.
1966 starb meine Mama, Olga Alexandrowna Petri (Gergenreder), geboren 1898, aufgrund einer durch langes Liegen im Lefortowsker Krankenhause N° 19 erworbenen wunden Stelle. Sie hat all die schweren Jahre und „Universitäten“ des Lebens mitgemacht – den Umsturz, den „Kriegskommunismus“, den Tod ihres Sohnes, als er noch ein Kind war, die Neue Ökonomische Politik, die Entkulakisierung, die Kollektivisierung, die Industrialsierung, die Verhaftung und Erschießung ihres Ehemannes, Sibirien, Tajmyr. Und nur eine Freude hatte es gegeben – die Rückkehr nach Moskau. Mama wurde am 19. Juli auf dem „Deutschen“ (heute „Wwedensker“) Friedhof im Petrischen Familiengrab beigesetzt, das bereits 1904 angelegt und in dem als erster Karlusch Petri (4 Jahre alt), das Söhnchen von Onkel Reinhold, bestattet worden war. Heute liegen dort begraben: Onkel Reinhold Iwanowitsch Petri, Tante Maljuscha Ludwigowna Petri, meine Mama Olga Alexandrowna Petri, Oma Sacha (das Dienstmädchen). Das Grab befindet sich in Lefortowo (Parzelle 26). Auf demselben Friedhof, allerdings in einem anderen Areal, liegen Tante Elsa Nikolajewna Selikina (Petri) und ihre Ehemann Michail Lwowitsch Selikin begraben. Diese beiden Grabstellen sind auch der zweite HEILIGE Ort in unserer Familie.
Im Jahre 2005, am 4. Oktober, verstarb in Hamburg meine Ehefrau, unsere Mama und Oma, unsere liebe und von allen geliebte Viktoria Theodorowna Petri (Walter, geb. 1925) an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Beerdigt wurde sie auf dem Bergedorfer Friedhof in Hamburg, wo ihr Grab zu unserem fünften HEILIGEN Ort wurde. Ihr plötzliches Scheiden aus dem Leben, ganz friedlich und ohne Qualen, ist für unsere Familie bis heute unsagbar schmerzvoll.
Ich erinnere noch einmal kurz an all unsere HEILIGEN Orte: der erste befindet sich in Astrachan (mein Papa), der zweite in Lefortowo (Petri, Selikin), der dritte auf dem Arbat (Onkel Kolja Petri), der vierte in dem alten Moskauer Stadtteil Samoskworetschje, am rechten Ufer der Moskwa, der fünfte in Hamburg (Petri). Mögen wir ihrer ewig gedenken!