Aber die Lebensbedingungen in unserer Familie veränderten sich noch einmal, als im Jahre 1981 das zweite Enkelkind geboren wurde, ein Junge, der zu Ehren Onkel Koljas Nikolaj Petri genannt wurde. Wir machten uns auf die Suche nach Häusern, um eine Datscha auf dem Lande zu erwerben, und sie fand sich auch dank Walja (der Ehefrau von Alik Lobasow, meinem Neffen), die als Ärztin in der Stadt Bronniza, das über die Kasansker Autotrasse 60 km von Moskau entfernt lag, tätig war. Bei einer regulären Fahrt zu einem ihrer Patienten erfuhr sie, dass in dem Dorf Tolmatschowo, 9 km von Bronniza entfernt, ein Haus für 300 Rubel zum Verkauf anstand, dessen Besitzerin sich inzwischen in einem Altenheim befand. Während wir dort mit ihr in Anwesenheit einer Krankenschwester zusammentrafen, fingen wir an uns zu schämen, dass die Frau nur 300 Rubel für das Haus verlangte und boten ihr deswegen 800 Rubel an. Voller Freude willigte sie ein. Der eigentliche Hauskauf wurde beim dortigen Dorfrat offiziell besiegelt, und die 800 Rubel wurden der Frau in Anwesenheit des medizinischen Personals ausgehändigt. Bei der Verkaufsabwicklung befand sich die Hausherrin noch in einem Altenheim in der Moskauer Gegend. Bald darauf verstarb sie dort, und da sie keine Erben hinterließ, erhielten wir ein halbes Jahr später das Besitzrecht am Haus N° 18 im Dorf Tolmatschowo. Das Haus mußte umfangreich renoviert und umgebaut werden. Wir kauften Baumaterial in ausreichender Menge ein. Sobald Viktor und ich Urlaub hatten (ab dem 3. Juni 1982) befaßten wir uns sogleich mit dem Auswechseln des verrosteten Blechdachs gegen ein Schieferdach mit neuen, hohen, im 60-Grad-Winkel berechneten Dachsparren, damit auf diese Weise ein zweites Stockwerk und sogar eine dreieckige dritte Etage entstehen konnten. Die Verbindung aller Konstruktionselemente wurde dadurch realisiert, dass wir sie mit Bolzen und einer Schiene am Holzgerüst des Gebäudes verschraubten. Wir entfernten den russischen Ofen, rissen die Fußböden heraus und legten den Keller trocken, indem wir entlang den Wänden Fliesen aus Eisenbeton anbrachten. Die Innenwände des großen Zimmers wurden mit 10 mm Furnierholz verkleidet und anschließend mit Tapeten beklebt. Die frühere „Zufluchtsstätte“ wurde in eine Küche mit Eßraum umgewandelt und ebenfalls mit dicken Spanplatten ausgestattet. Zwei Fenster wurden eingebaut: eines zeigte zur Veranda, das andere, zweiflügelige, in den Hof, zu der Seite, wo die Nachbarn Sascha und Tanja wohnten. Aber unser wichtigstes Objekt kam erst später an die Reihe – das Bad. Ich baute es fast ganz allein an den winterlichen Samstagen und Sonntagen (Viktor teilte in dieser Zeit Badezimmer und Toilette seiner neuen Dreizimmerwohnung, die Natascha zugeteilt bekommen hatte, mit wunderschönen Fliesen ab und errichtete sich auf dem Balkon ein warmes Arbeitszimmer). Das Bad wurde an die Küchenwand angebaut und nach dem neuseten Stand der „Badezimmer“-Wissenschaft erdacht. Schenja Selekin (mein Neffe) gab mir für die Innenverkleidung der Dampfsektion die erforderliche Anzahl Espenholz-Brettchen. Damit der Dampfraum während des halbstündigen Anheizens des gußeisernen Ofens mittels Brennholz auch eine Temperatur von 90-100 Grad erreichte, wurde eine „Neuerung“ angewandt, die Schenja als Architekt mir mitgeteilt hatte: mit dem Ziel einer guten Belüftung mußte man die Dampfbad-Verschalung mit einem 5 cm breiten Luftzwischenraum zwischen der Wand und den Espenholzleisten anbringen. Der Dampfraum bestand aus einem Vorbau, einem Teehaus, einem Waschraum und der eigentlichen Dampfsektion. Im warmen Vorbau befand sich ein Haken zum Aufhängen der Kleidung; im Teehaus standen zwei Liegestellen, ein Tisch mit einem Rundfunkempfänger und ein Kühlschrank; außerdem befand sich dort der Feuerraum für den Ofen, und es gab ein Fenster; der Waschraum verfügte über die übliche durchgehende Sitzbank an der Wand, einer Badewanne mit Duschvorrichtung und einem Abfluß für das benutzte Wasser, der in eine außerhalb liegende, zweieinhalb Meter tiefe Grube führte, einen Durchlauferhitzer zum Erhitzen des Wassers sowie ein Fenster; der Dampfraum wurde durch einen gußeisernen Ofen beheizt und besaß zwei Sitzregale. Sowohl in der Dampfsektion als auch im Waschraum waren die Fußböden mit Zinkblech bedeckt, dessen dünnen Platten zusammengelötet worden waren, damit der Boden bis zu einer Höhe von 10 cm kein Wasser durchsickern ließ. In der Eingangstür zum Dampfraum befand sich ein Glasfenster für den Fall, dass einmal das elektrische Licht ausgeschaltet wurde. Das ganze Haus war auf Basis der Theorie des Doktors der Biologie-Wissenschaft, Professor Viktor Nikolajewitsch Petri, meinem Vetter, rekonstruiert worden, der 1941 die Staatliche Universität Moskau beendet hatte, dann Frontsoldat, Sondersiedler und Leiter des Lehrstuhls am forsttechnischen Institut des Ural wurde und der 1983 in Jekaterinburg verstarb und begraben wurde: „Luft bewegt sich stets vom Warmen ins Kalte“. Bei dieser Bewegung, und dies ist besonders im Winter der Fall, kreuzt die Luft den Taupunkt, und dann bildet sich in Baukonstruktionen Feuchtigkeit, die sich dort niederschlägt. Um eine derartige Erscheinung zu verhindern, muß man auf der „warmen“ Seite den „Eingang“ mit einer Folie oder mit Farbe abdecken. Geleitet von dieser Theorie wurde der Dachboden des Hauses unter Einsatz eines Staubsaugers von Blättern gesäubert, welche der ehemaligen Besitzerin des Hauses als Wärmedichtung gedient hatten, und mit einer Folie ausgelegt; anschließend bestreute man sie mit einer dicken Schicht trockener Holzspäne. Analog dazu wurden auch alle Wände im Haus und im Baderaum mit Folie bedeckt und danach mit Furnierplatten, bzw. im Badehaus mit Leisten und im Dampfraum ebenfalls mit Espenholzleisten, getäfelt. Viel Mühe mußten wir auf die Konstruktion des Erdaufwurfs verwenden, damit er auch einen ausreichenden Dämmschutz bildete. Aus einem verlassenen städtischen Bau holten wir uns Eisenbeton-Kacheln in einer Dicke von 10 mm, mit denen es gelang, oberhalb des inneren Fußbodenniveaus des Hauses, mit Teerpappe und einer Aufschüttung von Holzspänen eine „warme Umrandung“ herzustellen. Außerdem wurde beim Auslegen des Bodens mit Folie ein „schwarzer“ Untergrund geschaffen, der anschließend mit einer Mischung aus Holzspänen und Zement bedeckt wurde (gegen Mäuse). Auf diese Weise geriet das gesamte „Korbgeflecht“ des Hauses unter Folie und wärmespeichernde Späne, und es wurde tatsächlich so warm, dass im Winter eine normale Temperatur von 15 – 17 Grad allein von dem elektrisch angetriebenen Ölradiotor gehalten werden konnte, der über eine Leistungsfähigkeit von lediglich 0,5 KW verfügte; nun gefroren die Kartoffeln im Keller nicht mehr. Sogar ein Igel hielt dort seinen Winterschlaf, nur mit einer Zeitung zugedeckt. Alle fünf alten Fensterrahmen wurden ausgetauscht und an ihrer Stelle Fenster mit dicker Doppelverglasung eingesetzt, dank derer es im Haus merklich wärmer wurde. Die Wohnküche und das große Zimmer bekamen ein „städtisches“ Aussehen. Mit einer mächtigen Traktoren-Hebewinde wurde die Veranda in ihrer horizontalen Position angehoben und darunter ein zuverläsiges Fundament gelegt. Damit der Keller des Hauses und der Grund unter dem Badehaus trocken blieben, legten wir alles mit Teerpappe aus, und das Aufsaugen der Feuchtigkeit von unten hörte auf; wir bekamen im Keller trockene schwarze Fußböden und einen trockenen Raum unter dem Bad. Nur teilweise wurden aufgrund des Frühjahrshochwassers Maßnahmen von der Bergseite des Hauses her durchgeführt – diese Arbeit überließen wir den neuen Hausherrn Igor und Angelika. Auch die Arbeit am Bau des neuen Hauseingangs auf der gegenüberliegenden Seite wurde nicht vollständig zuende geführt. Fertiggestellt wurden lediglich die Fundamente unter dem Vorbau und das eingebaute Plumpsklo, das unterhalb über eine Grube aus Eisenbeton verfügen sollte, so dass man den Inhalt zu gegebener Zeit zum Düngen des Blumen- und Gemüsegartens nutzen konnte. Auf dem Lande geschieht die Versorgung mit Trinkwasser mittels Eimern aus einem Brunnen. Zum Bewässern des Gartens und für die Badnutzung existiert nur im Sommer ein zentrales Wasserleitungsnetz, und in jedem Hof gibt es dafür an der Erdoberfläche eine eigenes Anschlußrohr. Im Winter schafften wir das Wasser fürs Bad aus unserem 4 Meter tiefen Bohrloch mit Hilfe einer Pumpe nach oben. Heute ist das Dorf gasifiziert, zu unserer Zeit – und auch noch früher – wurde das flüssige Gas in Flaschen angeliefert; in einer Ecke unserer Veranda gab es für die beiden 20-Literflaschen extra einen Metallschrank. Der Gasofen befand sich in der Küche, das Gas wurde durch ein Stahlrohr dorthin geleitet.
Die Frage, ob wir nach Deutschland ausreisen sollten, stellte sich in unserer Familie im Jahre 1991, als Elsa und Nikolai Petri sich für die dazu benötigten Dokumente zu interessieren begannen. Danach kam die Idee im selben Jahr noch einmal auf, nachdem Witja auf Empfehlung des Doktors der technischen Wissenschaften, Professor Wladimir Fink, als Oberbuchhalterin ihre Arbeit bei der Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur aufgenommen hatte, deren Organisator und Vorsitzender Heinrich Heinrichowitsch Martens war. Zwei Jahre lang war die IVDK im Moskauer Hotel „Budapest“ untergebracht, wo sich alle internationalen Begegnungen unter dem „Dach“ G.G. Groths abspielten. Unsere Familie war sehr froh, dass Witja in die deutsche Bewegung aufgenommen war, an Seminaren und Konzerten der deutschen Jugend teilnahm, bei der Ausrichtung der Neujahrsfeiern (z.B. im Haus der Kultur der Fabrik „Hammer und Sichel“) mitwirkte. Unvergeßlich in der Erinnerung blieb das Festival der Rußland-Deutschen im Kulturpalast der „Moskwitsch“-Autofabrik. Sämtliche deutschen Künstlerkollektive reisten aus ganz Rußland, Kasachstan, der Ukraine und anderen Orten an, der ganze Saal weinte, als ihre Lieder von der verlassenen Heimat an der Wolga erklangen. Für diese Festveranstaltung schickte Deutschland damals ein ganzes Flugzeug mit bayrischem Bier, und die ganze Nacht hindurch wurden Volkstänze in Nationalkostümen aufgeführt. Der endgültige Beschluß über den Umzug unserer Familie wurde gefaßt, nachdem der russischen Präsident Jelzin am 8. Januar 1992 auf einem Treffen mit Bewohnern der Sowchose „Osinowskij“ im Gebiet Saratow verkündet hatte, dass er sich weigerte, die Autonome Republik der Wolgadeutschen jemals wiederherzustellen. Die langjährige Verbindung unserer Familie mit der russischen Erde am Wohnort reißt ab, wenngleich die gesante Beziehung zu Land, Luft und Wasser ein Leben lang bestehen bleibt. Wir werden immer Kinder Rußlands bleiben, wo unsere Eltern und Verwandten begraben liegen, denen unsere Fürsorge gilt. Nachdem wir den deutschen Antrag über unseren Umzugswunsch nach Deutschland ausgefüllt hatten, warteten wir ein Jahr darauf, dass Julia den Abschluß der zehnten Schulklasse machte, denn es war allgemein beschlossen worden, dass Julia gemeinsam mit den Großeltern nach Deutschland gehen sollte und Viktor mit Natascha und Nikolaj später nachkam, nachdem sie eine offizielle Einladung erhalten hatten. Ich schied am 15. September 1994 aus dem Moskauer Institut für Energiewesen aus und begann sogleich damit unser Datschenhaus in einen verkaufsfähigen Zustand zu versetzen. Ich strich alle Fenstereinfassungen, legte die Veranda und den Vorbau des Hauses mit Linoleum aus. Das Bad war in einem hervorragenden Zustand, das Haus war somit fertig zum Verkauf. Wir begannen mit der Suche nach Käufern, indem wir die Nachricht im Dorf verlauten ließen. Wenn Käufer sich für das Haus interessierten, dann fragte ich sie immer schon bei der Begrüßung an der kleinen Gartenpforte: „Hätten Sie denn auch gern einen Baderaum?“ – Wenn sie zur Antwort gaben, dass dies nicht der Fall war, dann beendete ich die noch nicht einmal richtig angefangene Unterredung sofort. Aber als Igor mit vollem Ernst meinte, dass er sich sehr wohl ein Badezimmer wünschte, da einigten wir uns nach einem flüchtigen Rundgang durch Haus und Garten schnell auf den Preis, und wenige Tage später wurde der Ankauf / Verkauf bereits mit Hilfe eines Maklers beim Dofrat und im Bezirksexekutiv-Komitee abgewickelt. An dem Tag, an dem wir von Igor das Geld erhielten und die Schlüsselübergabe stattfand, hinterließ ich auf dem Tisch im großen Zimmer einen herzlichen, an Igor und Angelika gerichteten Begrüßungsbrief mit dem Wunsch, dass das Haus ihrer Familie zum Wohl der Gesundheit und der Erziehung ihrer beiden kleinen Kinder gereichen sollte, ohne dabei zu vergessen, dass Klawa gegenüber wohnte, welche die Kinder jeden Tag mit frischer Ziegenmilch versorgen konnte. Außerdem bat ich an jenem Tag Schenja Selikin und seinen Schwager Viktor, unser Auto, den „Schiguli“, mit dem Geld aus Sicherheitsgründen bis nach Moskau zu begleiten. Viktor war sehr zufrieden, dass die neuen Hausherrn einen Gemüsegarten mit reifen Gurken, Tomaten, Äpfeln, schwarzen Johannisbeeren, Himbeeren und Kartoffeln sowie auf einer Fläche von 300 qm Wurzeln, Rüben und Kohl bekommen hatten. Später riefen sie uns in Deutschland an und dankten uns dafür, dass die eingebrachte Ernte den gesamten Wintervorrat abgedeckt hatte. Wir blieben Freunde und erhalten ständig Einladungen, damit wir zu ihnen zu Besuch kommen.