Am 4. Oktober 2005 verstarb ganz plötzlich nach langer Krankheit meine Ehefrau, die Mutter unseres Sohnes „Witjuschka“-Viktor und meine geliebte, treue und unersetzbare Freundin, eine der Autoren des vorliegenden Buches, ein wunderbarer, bezaubernder, gutherziger, aktiver und wohlwollender Mensch, der jahrelang in Hamburg in einer sozialen Initiativgruppe mit Deutschen aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten sowie in einer internationalen Gruppe der Elternschule gearbeitet, die an der deutschen Bewegung in Rußland mitgewirkt hat – meine von allen hoch respektierte und geachtete liebe und geliebte Ehefrau VIKTORIA PETRI, mit der ich gemeinsam 56 glückliche Jahre verlebte. Im letzten Jahrzehnt waren Witjenka und ich praktisch nie voneinander getrennt, von morgens bis abends waren wir zusammen: sowohl auf den Fahrten durch den Hamburger Hafen oder die Innenstadt von Hamburg, als auch auf unseren Reisen ins heimatliche Moskau, ans Moskauer Institut für Energetik anläßlich des 75. Jubiläums im Jahre 2005, den dortigen Aufenthalt im Hotel und die Abende in Lefortowo. Gemeinsam waren wir 2003 in Moskau auf dem Weltforum von Universitätsabsolventen aus dem Ausland, hielten uns im „Goldenen Restaurant“ des Hotels „Rossia“ auf, in einem Zimmer, das genau dem Hotel „Baltschug“ gegenüber lag, dessen wunderschönen Anblick wir genossen, und besuchten aufgrund einer Einladung das Ballett „Giselle“ im „Bolschoj-Theater“, das gerade eine neue Bühne bekommen hatte; immer waren wir zur Urlaubszeit und auf Reisen zusammen. Zu zweit kam bei uns niemals Langeweile auf, wir konnten auch ganz einfach schweigen, und trotzdem fühlten wir uns gut. Niemals haben wir uns in den mehr als 50 Jahren unseres Zusammenlebens gezankt, nie mit schlechten Worten beschimpft (die in unserer Familie im Alltagsleben auch nicht geäußert wurden). Witjenka hatte eine besondere Erziehung genossen: sie ließ es nicht zu, dass man sich mit allen möglichen Kleinigkeiten großartig aufhielt, sie stellte stets Überlegungen an, mit welcher Perspektive sie sich am besten nur mit den Sorgen belasten könnte, die am leichtesten zu meistern wären. Sie und ich fanden, egal in welchen Angelegenheiten, immer eine gemeinsame Lösung. Was für ein Glück war es, als ich 2005 mit ihr von Moskau aus auf dem Wasserwege mit den Motorschiffen „Krylow“ und „Iwan Kulibin“ eine Touristenreise nach Sankt-Petersburg unternehmen konnte, wo wir uns im Katharinenpalast in „Zarskoje Selo“ zusammen am Anblick des „Achten Weltwunders“ ergötzten- dem Bernsteinzimmer; und auch in Astrachan, und immer, immer waren wir zusammen – das war ein Glück, das nun nie wieder zurückkehrt. Witjenka war ein sehr beherrschter Mensch – sie hob nie die Stimme, sie verstand es ihren Gesprächspartner zu schonen, indem sie es nicht zu Verstimmungen oder gar zu Streßsituationen kommen ließ. Nie wies sie jemanden zurecht, in dem Sinne, wie manche Menschen dieses Wort deuten, nie hielt sie Strafpredigten oder unternahm den Versuch, einem die Wahrheit einzutrichtern, sondern war vielmehr bestrebt, ihren Gesprächspartner nicht zu erniedrigen. Aber sie war auch sehr einfühlsam. Und überhaupt – es war immer interessant, in ihrer Nähe zu sein. Witjenka erzählte viel von all den schweren Ereignissen, die sie durchgemacht hatte, deren Zeugin sie geworden war. Offenbar ist jemand, der in seinem Leben so viel menschliches Leid gesehen hat, viel häufiger ein guter Mensch. Und so einMensch war auch meine Witjenka.
Ich führe einige Artikel aus literarischen Quellen an, in denen Worte des Gedenkens an Viktoria Petri veröffentlicht wurden.
„Viktoria Petri, eine lebenslustige Frau, ein wunderbarer Mensch weilt nicht mehr unter uns. Ihr Schicksal spiegelt in seiner ganzen Vollständigkeit das Leben der Generation des deutschen Volkes wider, das zu Stalins Zeiten lebte. Es ist bereits bekannt, dass es in Hamburg aus den Reihen der Rußland-Deutschen schon keine Frau mehr gibt, welche die Zwangsansiedlung im hohen Norden, im Tajmyr-Gebiet, miterlebt hat. Geboren an der Wolga und im Jahre 1942 politischen Repressionen ausgesetzt, geriet sie mit ihren damals gerade 17 Jahren ans Ufer des Jenisej, um dort die programmatische Losung zu erfüllen: „Mehr Fisch für die Front!“ Die Lebensbedingungen dort waren unerträglich, im eisigen Wasser wärmten sie sich die Füße, denn am Ufer lag Schnee. Allein in den Jahren 1942-1944 kamen in Ust-Chantajka, dem Ort, wohin man sie verschleppt hatte, von 450 Menschen 270 aufgrund von Skorbut und eisigem Frost (minus 30, 40, 50 Grad) ums Leben, d.h. 70% der dort ausgesetzten, repressierten Sondersiedler. Die Menschen waren überflüssig, denn es gab nicht genügend Arbeitsplätze; man hatte dreimal mehr Menschen dort abgeliefert, als erforderlich waren. Von diesen Jahren im Tajmyr-Gebiet ist in dem Buch die Rede. Viktoria selbst tritt als eine der Autoren des Projekts in Erscheinung. Der Großteil des Lebens von Viktoria (in Sibrien und Europa) fügte sich wie bei einem Menschen, der sich auf der ständigen Suche eines aktiven Lebens befindet. Arbeit, Abendschule und Technikum, fortlaufende Höherqualifizierung im buchhalterischen Rechnen, eine verdiente Karriere im Berufsleben, ständige Öffentlichkeitsarbeit mit Menschen in unterschiedlichen Formen und schließlich ein glückliches Familienleben. Viktoria Petri war eine wunderbare Hausfrau, sie verstand es, äußerst schmackhafte Gerichte zu kochen, hervorragend zu backen, was sie sich in jungen Jahren von meiner Mutter – ihrer Schwiegermutter Olga Alexandrowna Petri, angeeignet hatte. In Moskau arbeitete Viktoria jahrelang als Oberbuchhalterin der Elektromontage-Verwaltung und später in derselben Position bei der „Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur“; ihre Aktivitäten waren bekannt und wurden positiv bewertet, insbesondere von der Landsmannschaft in Deutschland. Nachdem Viktoria Petri 1994 nach Deutschland gekommen war, begann sie sofort in einer Initiativgruppe zu arbeiten und erwies bis zuletzt den neu angekommenen Menschen aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten Hilfe und Unterstützung beim Ausfüllen der für verschiedene deutsche Organisationen notwendigen Formulare. Auf Einladung des Leiters besuchte Viktoria Petri 10 Jahre lang die Elternschule, an der sie Unterricht erteilte und Gespräche mit jungen Eltern unterschiedlicher Nationalitäten über politische, geschichtliche und soziale Themen führte. Das Telefon lief bei Viktoria Petri zuhause immer „heiß“. Im Jahre 1999 feierte Viktoria Petri voller Glück ihre „Goldene Hochzeit“. Und großes Glück bedeuteten für Viktoria Petri auch stets ihre Enkelkinder: Julia – Diplomanwärterin an der Universität Braunschweig, und Nikolaj – Student an der Technischen Universität Hamburg. Wir werden unserer geliebten, guten und liebenswerten Viktoria, unserer Mama und Oma ein ewiges Andenken bewahren“.
Emilia Klein, Valentina Maurer, 06.10.2005
Emilia Klein, Valentina Maurer und Erich Kludt veröffentlichten im Journal „Volk auf dem Weg“ folgenden Artikel, der dem Gedenken an Viktoria Petri gewidmet ist.
Eine lebensfrohe Frau ist nicht mehr unter uns. Ihr Leben war von Stalins grausamer Herrschaft geprägt, von der die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion getroffen wurde. An der Wolga geboren, wurde Viktoria Petri, geb. Walter, 1942 mit 17 Jahren an die Mündung des Jennisej verschleppt und gezwungen, mit ihren Leidensgenossen unter extremsten Bedingungen Fische zu fangen. Von 1942 bis 1944 war sie Zeugin, wie allein in der Siedlung Ust-Chantajka von 450 verbannten Deutschen 270 aufgrund von Hunger, Skorbut und Temperaturen von bis zu minus 50 Grad starben. Es gab keine Arbeit für alle Häftlinge am kahlen Ufer des Jennisej, und so bekamen auch nicht alle Lebensmittel. Den Ort aber durften die nicht verlassen, der Tod war ihnen vorbestimmt. Die Tragödie im hohen Norden der Sowjetunion, wo Zehntausende unserer Landsleute ihr Leben lassen mussten, wurde lange Zeit verschwiegen. Jetzt wurde darüber ein Buch geschrieben, an dem sich Frau Petri beteiligte.
Viktoria Petri war immer aktiv. Sie arbeitete zuerst in einer Abendschule und dann in einer Berufsschule, bildete sich aber gleichzeitig auch als Buchhalterin weiter. In Moskau war sie lange Jahre als Ober-Buchhalterin bei der Elektromontageverwaltung tätig, später dann beim Internationalen Verband deutscher Kultur.
Zuletzt leistete sie auch für unsere Landsmannschaft wertvolle Arbeit. Nach der Ankunft in Hamburg im Jahre 1994 bot Viktoria Petri ihren neu angekommenen Landsleuten bis zu ihrem Tod am 4. Oktober 2005 ehrenamtlich ihre Unterstützung an. Auf Einladung der örtlichen Elternschule war sie ausserdem zehn Jahre lang jungen Eltern verschiedener Nationen behilflich, sich in sozialen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Fragen zurechtzufinden. Ihr Telefon zu Hause war im Dauereinsatz.
Viktoria Petri war eine ausgezeichnete Hausfrau: sie konnte sehr gut kochen
und backen, was sie von ihrer Schwigermutter Olga Petri übernommen hatte. Eine
grosse Freude waren für sie immer ihr Ehemann Leo, mit dem sie 1999 glücklich
ihre goldene Hochzeit feierte, und ihr Sohn Viktor mit seiner Ehefrau Natascha
und den Kindern Julia und Nikolai.
Wir werden die Erinnerung an diese herzensgute Ehefrau, Mutter, Grossmutter und
Freundin immer wahren.
Emilia Klein, Valentine Mauer, Erich Kludt
Die Beerdigung fand am 17. Oktober 2005 um 12 Uhr auf dem Bergerdorfer Friedhof in Hamburg statt. Witjenkas offener Sarg stand in der Kapelle 2, umgeben von 27 brennenden Kerzen und 16 Kränzen und Blümensträußen; es waren nicht nur russische Bekannte gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen, sondern auch Ortsansässige, die Witjenka gut gekannt hatten. Am Rednerpult, den Zuhörern zugewandt, befand sich die Aufschrift: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“. Vier Frauen sangen im Verlauf der eineinhalbstündigen Abschiedszeremonie, bei der 70 Menschen von Witjenka Abschied nahmen, deutsche Trauerlieder.
Viktor sprach nach der Beerdigung für alle die Einladung aus, gemeinsam das am Eingang zum Friedhof befindliche Café aufzusuchen, um dort noch eine Weile zusammenzusitzen.
Hamburg, den 17. Oktober, 2005. 12.00 Uhr
Dr.Leo Petri
Meine Rede bei dem Begräbnis in der Kapelle N° 2 auf dem Friedhof in
Bergedorf.
Meine lieben Freunde!
Meine liebe Ehefrau Viktoria lebt nicht mehr. Sie war für mich die beste
Freundin, für unsere Kinder eine sehr gute Mutter, für die Enkelkinder – die
liebe Oma; sie war eine sehr lebensfrohe Frau. Alle mochten Viktoria gern, sie
wurde von allen Leuten geachtet und verehrt.
Ich begegnete Viktoria Walter zum ersten Mal im Juli 1943 im Taimyr-Gebiet, in Potapowo, als ich mit einem kleinen Boot für sie einen Brief von ihrer Mutter und ihrem Bruder brachte. Später war klar, dass wir sofort ein Auge füreinander gehabt hatten..
Ich schlug ihr vor, mit ihr zusammen zu bleiben. Seit dem 17. Dezember 1943 waren wir ein Paar. Diese Polarnacht wird immer in meiner Erinnerung bleiben. Der Vollmond stand am Himmel. Das war die Jahreszeit des Polarlichtes. Es war sehr kalt, 40° unter Null. Wir gingen sehr lange im Dorf Ust-Chantajka spazieren. Das ganze Dorf schlief schon lange. Nach der samstäglichen Tanzveranstaltung gingen wir immer noch sehr lange spazieren, bis unsere Füße in den Schuhen völlig gefroren waren. Wir sprachen viel miteinander und stellten uns „dumme“ Fragen. Es war die glücklichste Zeit unserer Jugend.
Nach dem wir sechs Jahre lang zusammen waren, heirateten wir im Jahre 1949.
Und im Jahre 1950 wurde unser Sohn Viktor geboren, benannt nach seiner Mutter. Sehr lange arbeitete sie erfolgreich als Hauptbuchhalterin mit ihren Kollegen und Kolleginnen zusammen. Sie liebten und ehrten Viktoria sehr, nicht nur als Leiterin, sondern auch als Mensch. Mehr als 20 Jahre sind inzwischen vergangen, seit sie in Rente ging, aber die ganze Zeit hat sie auch weiterhin mit ihren Kollegen in Verbindung gestanden. Und mit ihrer letzen Arbeitstelle, der „Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur“ in Moskau, hatte sie 11 Jahre lang sehr gute Kontakte. Der Chef dieser Union, Heinrich Martens und seine Frau Olga kamen am 5. Oktober 2005, einen Tag nachdem sie verstorben war, nach Hamburg, um von ihr Abschied zu nehmen. Viktoria lebte nicht für sich, sie lebte für die anderen Menschen, sie kümmerte sich um die anderen Menschen. Die Leute fühlten sich zu ihr nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in der Familie hingezogen. Sie war eine sehr gute Mutter und Hausfrau. Sie achtete die deutschen Sitten und Gebräuche und schrieb ihnen einen hohen Stellenwert zu, genauso, wie auch meine Mutter Olga Petri dies tat, und Viktoria setzte diese Tradition fort. Zum Beispiel buk sie immer für ein Geburtstagskind einen Riwelkuchen in der Form des Buchstaben „B„ und machte auch deutsche Teigtaschen mit Fleisch - sogenannte „Pasteide“.
Sie tat soviel Gutes in dieser Welt. Sie liebte ihre Enkelkinder Julia und Nikolaj sehr, sie unterbrach ihre Arbeit und widmete acht Jahre ihres Lebens der Erziehung der Enkelkinder. Jeden Abend erzählte Viktoria ihnen ihre eigenen interessanten Märchen und machte an den spannendsten Stellen nie eine Pause, damit die Kinder nur nicht bis zum nächsten Abend auf der Fortsetzung der Erzählung warten mussten. Auch die Erwachsenen hörten mit großem Interesse ihre Geschichten. Es ist wirklich schade, dass wir sie nicht auf eine Kassette aufgenommen haben.
Viktoria war wirklich meine treueste Freundin im Leben. Sie war einverstanden, als ich die Familie wegen meiner geplanten Promotion verlassen sollte. Ich verließ also Krasnojarsk und fuhr nach Moskau. Ich promovierte am Moskauer Institut für Energetik. In dieser Zeit gab es noch zwei weitere Bewerber, aber deren Ehefrauen erlaubten ihnen nicht, sich nach Moskau zu begeben. Es war sehr schwer, innerhalb der Familie ohne Mann zurechtzukommen. Die Bereitschaft meiner Frau, sich vorübergehend von mir zu trennen, wurde von meinen Vorgesetzen beim Novosibirsk Trust hoch anerkannt, und so gestattete man ihr, zweimal im Jahr eine Dienstreise nach Moskau zu unternehmen.
Aber das reichte uns nicht; deswegen standen wir immer im Briefwechsel. Jeden Tag schrieben wir einander einen Brief. Jeden Tag wurden die Briefe zwischen Krasnojarsk und Moskau hin und her geschickt. Innerhalb von dreieinhalben Jahren haben wir mehr als zwei Tausend Briefe geschrieben. Und nur so haben wir unsere Beziehung nicht unterbrochen. Sie sah voraus, dass mein Studium in Moskau nur Glück für die Familie bedeutete. Und genau so war es auch.
In unserem Leben haben wir eine Menge Interessantes erlebt. Zum Beispiel in Moskau, als Viktoria Redakteurin der Familienzeitung war. Sie schrieb für alle in der Familie zum Geburtstag und zu den anderen Festen (Silvester, Weihnachten) eine Zeitung.
Die ganze Familie nahm daran teil: die Kinder – Viktor und Natascha, die Enkelkinder – Julia und Nikolaj. Sie klebten Fotos und Bilder ein, schrieben Gedichte und Witze. Jetzt studieren unsere Enkelkinder in Deutschland an der Universität, und auch dabei hat meine Frau Viktoria eine große Rolle gespielt.
Solche Familienzeitungen wurden viele Jahre verfaßt. So manches Mal habe ich meine Frau „Diplomat und Psychologe“ genannt, weil sie eine sehr gute Fähigkeit hatte, mit den Menschen zu reden. Sie konnte Probleme lösen, ohne jemanden zu beleidigen. Sie führte keine Gespräche mit den Leuten, wenn sie schon vorher begriffen hatte, dass sie nie zu einer Meinung kommen konnten.
Und dann kam der 14. Oktober 2005. „Krankenhaus Adolfstift“ in Reinbek, Station 6, Zimmer 14. Ich hatte ein Gefühl, als ob der Große Gott mir sagte, dass die bevorstehende Nacht für uns die letzte sein würde. Ich bat den Arzt um seine Erlaubnis, in dieser Nacht bei meiner Viktoria im Krankenhaus zu bleiben. Er willigte ein. Die Krankenschwestern stellten ein Bett mit frischer Bettwäsche ins Zimmer. Die ganze Nacht habe ich sie beobachtet, sie atmete sehr tief, sagte jedoch nichts. Meine Fragen blieben unbeantwortet.
Früh am Morgen kam unser Sohn Viktor, und wir saßen eine Zeit lang neben dem Bett. Plötzlich um 9 Uhr 30 machte sie die Augen auf. Sie waren groß, tief und klar. Sie schaute uns an. Ich habe sie gerufen: „Vitenka, Schatz!“. Sie antwortete nicht und schloß langsam die Augen.
Wir begriffen, dass dies das Ende war. Ich beugte mich schnell zu ihr und hörte, ob sie noch atmete. Das Herz schlug noch, aber sehr langsam und ihre Herzschläge wurden immer seltener.
Ihr Leben dauerte 80 Jahre 5 Monate und 7 Tage.
Ich wollte laut schreien: „Oh Gott! Lass Vitenka bei uns. Nimm sie nicht in den Himmel!“ Aber dorthin gehen wir alle. Solch einen Tod habe ich zum ersten Mal gesehen. Ich weiß nicht, ob ihr Tod leicht war. Ich denke, es gibt nichts schlimmes als den Tod. Aber sie starb ruhig, und das ist nicht schlecht für einen Menschen, der so krank war.
Wir werden immer an unsere liebe, gute und fröhliche Viktoria Petri (Walter) denken.
Wir vergessen sie nie.
Viktoria war ein goldener Mensch.
Familie Petri: Leo, Viktor, Natalija, Julia, Nikolaj, Falk.
Ich hielt meine Rede, die hier in deutscher Übersetzung zitiert wird, von der Kanzel der Kapelle 2, die neben Witjenkas geöffnetem Sarg stand, in ihrer Anwesenheit in russischer Sprache.
Artikel zur Erinnerung an Viktoria Petri
Wie die Mehrheit der Rußland-Deutschen machte sie in ihrem Leben viel Schweres und große Entbehrungen durch, die auf das Schicksal der Menschen ihrer Generation entfielen.
Viktoria Theodorowna wurde am 28. April 1925 als Kind deutscher Eltern in der Ortschaft Gnadentau in der Republik der Wolgadeutschen geboren. Derzeit bereitet man sich beim Presse-Verlag der Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur auf die Herausgabe eines Buches mit den Erinnerungen der Eheleute Viktoria Theodorowna und Viktor Ottowitsch Petri vor, das den Titel „Die Deutschen vom Tajmyr“ trägt. Sie ist den praktisch unbekannten Seiten der tragischen Zeit der Repressionen gewidmet und erzählt von den Sondersiedlern – Rußland-Deutschen, die in dieses weit entfernte, rauhe Gebiet verschleppt wurden.
In den letzten Jahren (vor der Abreise der Familie nach Deutschland im Jahre 1994) arbeitete Viktoria Theodorowna Petri als Hauptbuchhalterin in der Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur. Wir trauern um sie und werden ihrer immer gedenken.
Die Mitarbeiter der „Internationalen Vereinigung für deutsche Kultur“, der „Deutschen Jugendvereinigung“, der „Moskauer deutschen Zeitung“, Oktober 2005, Moskau.
Wie angenehm ist es, wenn du gerade in einem anderen Land angekommen bist, sogleich einem Menschen zu begegnen, der sich tief in dein Schicksal hineinversetzen kann und dir aufrichtig und uneigennützig dabei hilft, dich ins neue Leben hineinzufinden. Für viele Deutsche aus Rußland wurde Viktoria Petri in Hamburg zu einer solchen Helferin – ein Mensch von ganz ungewöhnlicher Güte. Ihr Schicksal ist die Geschichte der repressierten Deutschen aus dem Wolgagebiet. 1942 geriet sie als Siebzehnjährige ans Ufer eines anderen großen Flusses, den Jenisej, wo die Deutschen aus Rußland in der Folgezeit unter Lagerbedingungen Schwerstarbeit leisten mußten. Die Menschen wurden buchstäblich von Hunger und Kälte dahingerafft. In den Jahren 1942-1944 kamen in der Ortschaft Ust-Chantajka, in der sich auch Viktoria befand, 270 Menschen durch Skorbut und Erfrierungen ums Leben – das waren 70% aller dorthin verschleppten Sondersiedler. Nur Optimismus und eine unglaubliche Liebe zum Leben halfen dem Mädchen, diese Hölle zu überstehen.
Nach dem Kriege beendete Viktoria die Abendschule, anschließend das Technikum und arbeitete dann lange Zeit als Buchhalterin der Elektromontageverwaltung in Moskau. Sie heiratete einen sehr guten Burschen, den sie bereits am 17. Dezember 1943 kennengelernt hatte und mit dem sie bis zur Eheschließung bereits 6 Jahre zusammen gewesen war. Viel Zeit verwandte sie auf Öffentlichkeitsarbeit. Die Internationale Vereinigung für deutsche Kultur – das war ihr „drittes heimatliches Haus“, dem sie sich mit nicht weniger Enthusiasus widmete, als den eigenen vier Wänden, ihrer Familie und ihrem Beruf. Ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet waren bekannt und wurden in Deutschland, wohin sie im Jahre 1994 mit der Familie umzog, sehr hoch bewertet.
Hier begann Frau Petri schon bald darauf in einer Initiativ-Hilfsgruppe für Umsiedler zu arbeiten. Auf Vorschlag der Leitung der Elternschule begann sie nun jungen Eltern unterschiedlicher Nationalitäten bei Problemen innerhalb der Familie zu helfen und wurde ihnen nach und nach zu einer zuverlässigen Freundin und klugen Ratgeberin. Es gab Tage, an denen das Telefon zuhause bei den Eheleuten Petri nicht mehr „stillstand“. Und man konnte einfach ohne Vereinbarung eines „Termins“ zu ihr kommen, denn die Leute wußten, dass sie mit ihrer warmen Ausstrahlung und ihrem Verständnis immer für sie da war. Wie könnte man auch jemals ihre Gastfreundschaft und ihr herzliches Entgegenkommen vergessen! Und wie gütig sie sich immer ihrer Schwiegermutter Olga Alexandrowna erinnerte, die ihr gezeigt hatte, wie man schmackhaftes Essen zubereitet und den Haushalt führt. Dankbarkeit ist das Zeichen einer edelmütigen Seele. Viktoria Petri war stets bemüht, diesem Prinzip zu folgen, es der Jugend beizubringen, die gerade ihre eigenen familiären Nester baute und neue Kontakte zu den Menschen knüpfte. Es schien, als ob sie niemals müde würde; sie interesierte sich für alles, alles war für sie wichtig und notwendig. Man konnte sich nur wundern, woher diese zarte Frau, die in ihrem Leben selber schon soviel durchgemacht hatte, die Kraft für all jene hernahm, die sich hilfesuchend an sie wandten. Sie wurde auch für uns mit den ersten Tagen unseres Lebens in Deutschland zu einer großartigen Freundin. Jeder von uns hat inzwischen seine Beschäftigung, jeder hat sich sein Leben hier irgendwie eingerichtet. In vielerlei Hinsicht wurde dies erst durch Frau Petris Unterstützung möglich. Es kommt uns so vor, als sei es noch gar nicht so lange her, dass wir im Jahre 1999 dem Ehepaar Viktoria und Leo Petri zur goldenen Hochzeit gratuliert haben, als wäre es erst gestern gewesen, dass wir ihre Worte darüber gehört hatten, dass ihre beiden Enkelkinder, die Studentin Julia und Nikolaj, ihr ganzer Stolz wären. Und wir freuten uns gemeinsam darüber, dass sich schon so viele Umsiedler auf dem neuen Boden eingelebt hatten und zuversichtlich in Richtung Zukunft schritten.
Aber heute weilt Frau Petri nicht mehr unter uns. Eine kurze, unerbittliche Krankheit hat diesen Menschen von uns genommen. Es ist sehr schwer sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass eine brennenende und im Schatten der Probleme so strahlende, helle, lebensbejahende Kerze erloschen ist. Aber wir, die wir uns froh und glücklich schätzen können, einen derartigen Menschen gekannt zu haben – werden Viktoria Petri immer ein gutes Andenken bewahren.
Emilia Klein, Valentina Maurer – Hamburg
Während Witjenkas Bestattung kam ein mir unbekannter Mann aus den Reihen der Ortsbewohner auf mich zu, der, nachdem er mir sein Beileid ausgesprochen hatte, hinzufügte: “Ich war auf dieser Trauerfeier ihrer Leute, und es kommt mir so vor, als wären die Deutschen aus Rußland “in einem viel größeren Maße Deutsche“ als wir, weil bei ihnen heute Frauen (nicht ein bestellter Chor) eineinhalb Stunden lang deutsche Trauerlieder gesungen haben und sich die ganze Abschiedszeremonie bei geöffnetem Sarg abgespielt hat. Nicht umsonst werden unsere Deutschen ihre Frauen einladen, auch auf ihrer Totenfeier zu singen“. Woraufhin ich zur Antwort gab: „Sie haben ganz recht, wir „bewahren das Deutsche viel mehr“ als Sie, denn Sie sind dem Wesen nach keine „Deutschen“ im ureigensten Sinne des Wortes, sondern eher „Europäer“. In der UdSSR, sogar zu Zeiten des Stalinregimes, hat die Staatsmacht es nicht geschafft, das vertraute Deutsche vollständig zu entwurzeln, mit dem 200 Jahre zuvor unsere Vorfahren aus Deutschland nach Rußland gekommen waren. Deswegen kann man nur zufrieden sein, dass Deutschland jetzt seine vorherige Kultur wieder zurückbekommt“. Nachdem wir diese nationalen deutschen Meinungen ausgetauscht hatten, verabschiedeten wir uns voneinander.
Im Leben geschehen viele Dinge mehrmals, andere nur ein einziges Mal – die ganz tragischen. Zu diesen Fällen kann ich auch Witjenkas Tod am 4. Oktober 2005 zählen. Jetzt, in den ersten Tagen des Januar 2006 kann ich sagen, dass das vergangene Jahr 2005 für die Familie Petri in seinen letzten Stunden das traurigste, tragischste und unglücklichste war. Es gibt keinen größeren Schmerz, als Witjenkas Fortgang aus diesem Leben, mit ihren lebensbejahenden Träumen, mit denen sie im Leben vorwärtsschritt, es einholte. Und nun ist sie nicht mehr da. Mit diesem Schmerz begleiten wir das zuende gehende Jahr. Aber da hatten wir uns verrechnet! Etwa 4-5 Stunden vor Mitternacht flog eine von „Idioten“, wie der Hausmeister sagte, abgefeuerte Rakete auf unsere Veranda und setzte den weichen Diwan in Brand – ein Feuer brach aus! Zu dieser Zeit hatte in der Nähe eine Feuerwerk am Himmel begonnen, aber eine Leuchtrakete war zu uns hinübergeschossen. Zusammen mit Viktor und einigen Nachbarn gelang es, das Feuer zu ersticken: zwei Fensterscheiben waren zerbrochen, alle Bilder auf der Veranda, der Diwan und ein weicher Sessel waren verbrannt; auch 4 Quadratmeter Teppichboden waren zu Schaden gekommen. Die schnell eingetroffene Feuerwehr und Polizei nahmen ein Protokoll von dem Ereignis auf. Wer hätte gedacht, dass das sowieso schon so unglückselige, ich sage es geradeheraus, das verfluchte Jahr 2005 auf diese Weise zuende gehen würde. Nur gut, dass ich zu dem Zeitpunkt, am 31. Dezember um 7 Uhr abends zuhause war und am Komputer arbeitete. Plötzlich ging das Licht aus (die automatische Sicherung war herausgesprungen), und ich ging vom Schlafzimmer ins große Zimmer und sehe, dass das ganze Fenster von außen in Flammen steht. Gott war es, der mich bei meiner Arbeit festgehalten hat, denn ich wollte später noch zu Viktor gehen. War das vielleicht kein verfluchtes Jahr für uns? Tod und Feuer! Es fiel schwer, noch mehr Unglück zu erwarten. Ich war nach Witjenkas Tod ständig in Gedanken bei ihr, wenn mich die Erinnerung zu den glücklichen Zeiten der Jugend im Tajmyr-Gebiet zurückführte, wo mich zum ersten Mal im Herzen das fast schmerzhafte Gefühl der tiefen Liebe zu meinem Mädchen getroffen hatte, die Liebeserklärung und ihre Einverständnis zu unserer Freundschaft, der erste Kuß. Es gibt etwas, an dass man sich erinnern kann. Und nun sehe ich ihr Ende vor mir, an irgendetwas erinnert mich der wahre Schmerz im Herzen, an irgendetwas in der Vergangenheit. Und dann „entdecke“ ich es: es stellt sich heraus, dass der Schmerz im Herzen von der Liebe zu Beginn unserer Freundschaft herrührt und gleichzeitig auch vom Verlust der mir immer lieben und teuren Witjenka – beide Schmerzempfindungen sind gleich stark. Die Natur der Gefühle vom Anfang und vom Ende haben sich einander genähert und sind eins geworden.
Auf dem Trauerflor, den ich auf den Sarg legte, stand geschrieben: „In großer Liebe, Dein Leo“. Dieses Band, mit einem aufgemalten Strauß der von ihr so sehr geliebten Rosen, wurde zusammen mit dem Sarg ins Grab hinabgelassen, um Witjenkas und meine Liebe auf ewig zu beschützen.
Anläßlich des Ablebens der lieben Witjenka trafen zahllose schriftliche und telefonische Beileidsbekundungen in der Familie ein. Die Familie dankt allen von ganzem Herzen, die Viktoria in so guter Erinnerung behalten haben.