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Tojvo Riannel. Tuwinische Erzählungen

ALS ICH EIN WILDDIEB WAR

Es ist eine großartige Sache, wenn man ein Motorrad der Marke „Harley Davidson“ besitzt, selbst wenn es sich um ein Beutestück handelt und nicht mehr ganz neu ist, aber unwiderstehlich und stark –uns jedenfalls verlieh es Flügel auf den glattgewalzten tuwinischen Steppenwegen und den ebenfalls versteppten Anhöhen, wo es keine Wege gibt, sondern lediglich Spuren von Schafherden. Du fliegst hinauf zum Gipfel des Hügels, überzeugst dich, daß es bei der bevorstehenden Abfahrt keine tödlichen Hindernisse gibt – und dann rollst du mit abgeschaltetem Motor nach unten.

Und so saß hinter dem Lenker dieses metallenen Ungetüms Sascha Jermolajew – Sergeant im Ruhestand, mit Spitznamen „der Oberst“, hinter ihm auf dem Sattel ich, mit einem Rucksack und einer Staffelei auf dem Rücken, und im Beiwagen – Wasja Demin, bewaffnet mit einem Kleinkaliber-Gewehr. Der Hirte Kudrjawzew beklagte, daß auf den Wanderwegen, wo seine Herden entlangzogen, ein Wolf aufgetaucht war ... Und dieser Wolf stiehlt die Lämmer, läuft vor den Augen des Menschen ohne Eile davon, wirft sich die Beute auf unverschämte Weise auf den Rücken, - seht nur, Leute, ich hab keine Angst vor euch! Na, und diesen Wolf hatten wir auch nötig; nicht nur deshalb, weil man für sein Fell hundert Rubel und einen jungen Hammel bekam – wir wollten dem guten, fleißigen Hirten helfen, der uns nicht nur einmal in seinem Hirtendasein auf freiem Felde an seinen bescheidenen Tisch gebeten hatte.

Es ist nicht so einfach zu erraten, in welcher Schlucht sich dieser listige Räuber versteckt. Deshalb schalteten wir auf den leicht abfallenden Hügeln den Motor aus, rollten hinunter, wobei wir in gleichmäßigem Zickzack durch das Gestrüpp der gelben Akazienbäume hindurchfuhren – was vielleicht auch den in der Mittagszeit schlummernden Wolf aufschrecken würde. An einem sehr langen, freien Abhang sahen wir drei riesige Vögel. Sie hackten ruhig auf irgendetwas herum, reckten ab und zu die Hälse, blickten sich um und bemerkten uns bereits in Schußentfernung. Während Sascha das Motorrad anhielt, um Demin die Möglichkeit zu geben, in Ruhe zu zielen, rannten die Trappen auseinander, rissen sich vom Erdboden los und schlugen energisch mit den Flügeln.

Wassilij nahm sein Ziel lange ins Visier, und es schien mir so, als ob das Schießen schon ganz unnötig wäre. Aber da drückte Demin ab, und der letzte Vogel begann vom Himmel zu fallen, wobei er heftige Purzelbäume schlug. Wir hörten sogar einen dumpfen Schlag, als er auf den trockenen, harten Steppenboden fiel. Wir beeilten uns dorthin zu kommen. Der Motor heulte schrecklich auf und qualmte – irgendetwas war verstellt, aber wir eilten so schnell es ging zu der unerwarteten Beute.

Mit der Kugel einen fliegenden Vogel auf zweihundert Meter Entfernung treffen – das ist ein großer Erfolg und eine ganz seltene Zufälligkeit. Wir warfen uns auf den Jäger, um ihn unter Hochrufen in die Luft zu werfen, aber er wich heftig aus, lehnte unsere Ehrenbekundungen ab und erklärte uns stattdessen, daß er auf den mittleren Vogel gezielt hatte, aber heruntergefal-len sei der letzte. Er hatte also nichts dafür gekonnt – die Trappe sei vielmehr selber in die Kugel hineingeflogen.

- Natürlich, selber. Sie hat die Kugel gesehen, und da hat sie schnell mit ihrem Körper die Brust der Kameraden geschützt, - unterstützte Alexander den Scherz. – Ich fürchte nur, daß die Jagdinspektionsbehörde diese Heldentat nicht verstehen wird.

Die Worte Jermolajews schienen einer Prophezeihung gleichzukommen.

Nachdem wir in die Stadt, in das Haus der Demins, zurückgekehrt waren, stießen wir auf eine schwierige Aufgabe – wie sollten wir diese große Beute in aller Heimlichkeit absengen.

Im Hof ein Feuer entfachen ging nicht, das sehen die Nachbarn und melden es der Feuerwehr und der Miliz. Im Herd, wo bereits dünne Holzscheite brannten, war für den Vogel kein Platz mehr. Ich erbot mich, die Federn im Holzschuppen auf einem Primuskocher und mit Hilfe einer Lötlampe abzusengen. Natürlich wird der Geruch der versengten Federn durch die ganze Gegen ziehen, aber was soll man machen – um das Gute nicht zu verlieren.

Natürlich wußten wir, daß das Abschießen von Trappen in diesem Jahr verboten war. Nach den frostigen Wochen in Persien, wohin diese wärmeliebenden Vögel aus der Familie der Hühner zum Überwintern fliegen, hatte ihre Zahl erheblich abgenommen. So wußte ich auch, daß diese Vögel überhaupt nicht in die südlichen Steppen der Krasnojarsker Region fliegen.

Nachdem ich mich im Holzschuppen eingeschlossen hatte, sengte ich dem Vogel erfolgreich die Federn ab, war jedoch überzeugt, daß die Nachbarn erraten würden, was hier vor sich ging. Zum Schein machte sich Sascha Jermolajew neben der Gartenpforte am Motor zu schaffen, verbrannte in einem kleinen Feuer irgendwelchen Kram und ein paar ölverschmierte Lappen. Wassilij Fadejewitsch korrigierte auf der Veranda die am Morgen in Tschadyr gemalte Skizze. Ich hörte die Fragen der in der Gasse herumlaufenden Nachbarn – was und wo da etwas versengt wurde ... Es gelang mir nicht, aus dem Holzschuppen herauszugehen, als ich auch schon die einschmeichelnd-höfliche Einladung des Hausherrn an irgendjemanden vernahm, hereinzukommen und sich unsere Beute anzusehen.

- Komm heraus, Wassilij, hier sind wichtige Gäste gekommen.

Als sie mich mit dem abgesengten riesigen Vogel in den Händen dastehen sahen, riefen die beiden Soldaten überrascht aus:

- So einer ist uns schon lange nicht mehr untergekommen!

- Sascha, - Demin lief weiter geschäftig hin und her, - hol mal schnell eine Flasche. Verehrte Gäste, treten Sie ein. Wassiljewitsch, besorg mal die gußeiserne Entenbratpfanne, die unter dem Herd steht, na los, teil dein Huhn auf.

Die Gäste sagten, daß es nicht nötig war, jemanden nach einer Flasche zu schicken. Bis die Trappe geschmort und gebraten war, wäre auch der Arbeitstag zuende, und dann würden sie herkommen und selber eine Flasche mitbringen. Erst jetzt betrachtete ich mir die Leute genauer: einer trug die Uniform der inneren Truppen des NKWD, der andere war mit einer Miliz-Uniform bekleidet. Beide hatten den Rang eines Oberst.

Tuwa wurde 1944 in den Bestand der UdSSR eingegliedert. Ökonomisch ist es an den Krasnojarsker Industrie-Bezirk angebunden, administrativ jedoch Moskau unterstellt. Daher erwiesen sich hier ankommende Dienstreisende, und ausgerechnet zu denen gehörten auch die beiden Obersten, besonders häufig als Moskauer.

- Dann lassen Sie uns also gehen? Kommen Sie selbst mit diesem Huhn zurecht?

- Eine Trappe zerteile ich zum ersten Mal – früher brauchte ich das nicht, - aber ich werde schon damit fertigwerden. Dann kommen Sie nachher zu einer Mahlzeit mit frischem Wildbret.

Während ich am Herd herumhantierte, bereiteten Demin und Jermolajew eifrig die Vorspeisen vor; es hatte den Anschein, als ob sie nicht bloß Beamten erwarteten, die man fürchten mußte, sondern langersehnte, alte Freunde, mit denen es geglückt war unverhofft zusammenzutreffen.

Die Obersten erschienen pünktlich zum Ende des Arbeitstages. Aus der Tasche mit den Flaschen ragten die grünen Enden von Lauch und Radieschen heraus. Es gab auch noch einen dritten Gast, der in zivil gekleidet war und sich als Jagd-Oberinspektor der Region vorstellte. Er schlug mir vor, mich mit einer bereits vorbereiteten Akte bezüglich der Jagd unter Verletzung des geltenden Rechtes bekannt zu machen und interessierte sich dafür, welchen Familiennamen er hineinschreiben sollte.

Wassilij Fadejewitsch reagierte sofort: er ist der Hausherr, er hat geschossen, hat im Jagdeifer eine Gesetzesverordnung verletzt, genauer gesagt – er hat sie vergessen. Sascha Jermolajew zwinkerte mir zu; ich verstand das als Signal, nun meinerseits in Erscheinung zu treten und verkündete, daß ich die Schuld auf mich nähme, daß ich von der gesetzlichen Bestimmung der Tuwinsker Region nichts wüßte, die die Jagd auf Trappen verbot – und sollte doch die Akte auf meinen Namen ausgestellt werden. Und tatsächlich war es für mich, als einem Gast aus einer benachbarten Region, leichter, diesen Schlag zu ertragen: falls mir eine „Verleumdungsanzeige“ in den Krasnojarsker Künstlerverband zukommen sollte, dann werden sie dieser Sünde keine ernsthafte Aufmerksamkeit schenken, es konnte ohne organisatorische Konsequenzen umgangen werden. Und den Journalisten Jermolajew und den verdienten tuwinischen Künstler Demin betrifft der hier vorliegende Konflikt nicht – sie sind hier als rechtschaffene und sehr ehrbare Leute bekannt.

Unerwartet unterstützte mich der Oberst der Miliz. Er war Realist. Er riet dazu, einen Strafzettel über fünfhundert Rubel auszustellen, und als Form der Begleichung wird er die Portraits der Mitglieder des Politbüros im NKWD-Club restaurieren. Diese salomonische Entscheidung wurde von allen wohlwollend aufgenommen, außer von Demin. Er meinte, daß die vorgeschlagene Arbeit vom Wert her fünfmal mehr wert sei. Und um einen endgültigen und richtigen Beschluß treffen zu können, kamen sie überei, sich morgen im Club zu treffen, wo die Portraits hingen. Aber jetzt wollten sie erst einmal schnell prüfen, ob die Fünfhundert-Rubel-Vorspeise auch schon ausreichend feste Formen angenommen hatte.

Wie sich herausstellte, versammelten sich am Tisch ausschließlich Jäger und Fischer, sowohl ehemalige als auch heute noch aktive, und so gab es eine Menge zu erinnern und zu erzählen. Irgendeiner hatte auf Tschuchotka gedient und war mit einem Kutter bei einem Orkan bis nach Amerika fortgetragen worden, nachdem die Steuerung ausgefallen war. Ein anderer hatte in den Bergen der Mandschurei gekämpft, den Kaiser Pu-Yi gefangen genommen und aus Mukden ein Motorrad herantransportiert. Auch ich mußte von meinen Jugend-Abenteuern bei der Goldsuche erzählen.

Irgendjemand sagte, daß der Mensch das ganze Weltall sei, welches mit tausenden von Fäden mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden wäre. In seiner Zukunft kann der Mensch eine bessere Variante wählen, als der bloße Zufall ihm vorschlägt. Aber weshalb kann ich nur nicht diese bestmögliche Variante finden, nicht einmal zufällig? Ständig gerate ich mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten in Berührung. Oftmals muß ich mich entscheiden, mit welchen zukünftigen Unannehmlichkeiten ich durch eigene Wahl zusammenstoßen will. Na, und anstatt nun in Mungun-Taiga Skizzen zu machen, werde ich Portraits flicken, die für jemanden angefertigt worden sind und möglicherweise noch gar nicht ausgebessert weren brauchen. Portraits altern, ebenso wie die Menschen, moralisch und körperlich, sie leiden an Abnutzungserscheinungen. Morgen werden wir sehen.

Unsere zufällige Zusammenkunft zog sich unmerklich in die Länge, man wollte noch vieles erfahren und hören, aber die Gäste standen wie auf Kommando um Punkt ein Uhr nachts vom Tisch auf. Ein Zufallstreffen. Und ich versicherte mich nochmals, daß es uninteressante Menschen einfach nicht gibt; es erfordert nur eine passende Gelegenheit, damit der Mensch sich offen zeigt.

Im NKWD-Club hatte sich die ganze Mannschaft versammelt, die auch bei unserem gestrigen Tischgespräch dabei gewesen war, und sie trafen sich wie langerwartete, gute Freunde und sahen sich die Portraits an; sie waren mittels der „Trocken-Pinsel“-Technik ziemlich meisterlich angefertigt worden. Man muß sie mit einem feuchten Radiergummi reinigen und dann den Grund ein wenig auffrischen. Man kann die schwarzen Konturen hervorheben und den Augen die Kontraste offenbaren. Bei der Schnätzung kam heraus, daß wir, die Künstler, von diesem Club noch eintausendfünfundert Rubel zu bekommen hatten.

- Morgen machen wir uns an die Arbeit, - versprach Demin. – Aber heute möge es nicht schaden, den Moskauer Gast mit tuwinischem Tee zu bewirten, und vielleicht auch mit Arrak, falls sich sowas in diesem Hause finden läßt.

Es stellte sich heraus, daß in den Nebengebäuden des Clubs all das vorhanden war. Ich muß gestehen, daß dieser milchige Wodka – Arrak – mir nicht gefiel; er roch und schmeckte nach vergorener Sauermilch und ungewaschenem Milchgeschirr. Und der Tee, zu großen Platten gepreßt, - das waren Zweige und Stengel, Abfallstoffe aus der Teeproduktion. Wenn dieser Tee mit den hier üblichen Komponenten gekocht wird, d.h. mit Butter, Salz, den Blättern der Bergenie (Steinbrechgewächs; Anm. d. Übers.), des wilden Majorans oder Thymian, - dann erhält man ein originelles Getränk, das einem nach einem Rausch den Katzenjammer und die Müdigkeit nimmt. Und wenn sich auf dem Tisch noch altes, gesalzenes Brot befindet, dann ergibt das etwas sehr Originelles nach östlichem Stil.

Während des Teetrinkens wurde klar, daß die Künstler des Tuwinsker Dramas Olzej-Ool in der Steppenjurte das Abendessen bestellten und wir zu diesem Abendessen eingeladen wurden. Dort bereiten sie schon das besondere Nationalgericht Chan oder Kan zu. Was ist das? Frisches Hammelblut kocht lange Zeit auf mittlerer Flamme in dem gereinigten Hammelmagen, nachdem man ein wenig Salz und aromatische Kräuter hinzugegeben hat. Russische Spezialisten dieses tuwinischen Gerichts fügen dem Gemisch auch noch ein Loorbeerblatt bei, welches den Schafstall-Geruch mildert.

Während der Milizleiter im einzelnen die Prozedur für die Zubereitung dieser Mahlzeit erläuterte, wurde durch das geöffnete Fenster die Melodie eines bekannten Marsches aus der Ferne herangetragen und wurde nach und nach lauter. Der Oberst sah auf die Uhr, stand schnurstracks auf und sagte:

- Laßt uns zum Fenster gehen und hinaussehen ...

Die Musik schwoll an, das Gesicht des Oberst veränderte sich und nahm einen selbstgefällig- feierlichen Ausdruck an. Ich sah ebenfalls aus dem Fenster. Vor einer Kolonne einheitlich in schwarze Joppen gekleideter und völlig mit Staub bedeckter Menschen ging ein Mann mit einer roten Fahne in den Händen. Zu sechst in einer Reihe, aber nicht vollständig in Reih und Glied, Schritt die Kolonne aus jungen Leuten einher, dem Aussehen nach gesunde und braungebrannte Tuwinier. Neben der Kolonne tippelte der Begleitsoldat, der einen kräftigen Schäferhund mit rötlichbraunem Fell an der Leine hielt. In Intervallen von wenigen Schritten wurde die ganze Kolonne immer wieder ausgeschimpft.

- Das sind Brigaden, - erklärte der Oberst. – Die von der Leistung her beste Brigade geht vorneweg, sie tragen heute ein rotes Banner.

Ein kleines Soldatenorchester und einige MP-Schützen marchierten in den letzten Reihen dieser Sechsergruppen.

- Genosse Oberst, wie es aussieht, verstehe ich das nicht ganz. Ich habe Häftlingskolonnen gesehen und mit ihnen gearbeitet, aber daß die Gefangenen mit einer roten Fahne durch die Stadt marschieren – das ist mir neu ...

Die Kolonne ging vorbei, und durch einen leichten Staubschleier, sich nach allen Seiten umblickend, sahen die Inhaftierten aus den letzten Reihen zu uns herüber.

Der Oberst seufzte:

- Das sind unsere Lehrjahre, bei uns sind die Sowjets immer jeweils fünf Jahre an der Macht. Diese Jungs sind hauptsächlich aus dörflichen Gegenden. Bei uns sind die Anfangsgründe des Sozialismus vorbei. Im Gebietskomitee machen sie schon Witze und nennen diese Kolonnen nach meinem Namen ... Ja, ja! Die Poschechonowsker Lehrjahre. Die Situation ist folgende: ich habe eigenmächtig einen Kolchoshammel geschlachtet – und dafür ein Jahr Gefängnis bekommen. Aber das ist kein Gefängnis, sondern nur eine Übernachtung hinter Stacheldraht, und ansonsten ist man den ganzen Tag an der frischen Luft, auf irgendwelchen Bauplätzen. Es werden Fundamente gemauert, man lernt Wände zu errichten, eignet sich alle Arten von Bautechniken an, angefangen mit der Bedienung von Betonmischmaschinen und Transportbändern. Aber es beinhaltet auch den Umgang mit der Schubkarre – die Grundlage des technischen Unterrichts. Hier lernt man auch die Gesetze des gemeinschaftlichen Zusammenlebens: morgens waschen, Zähne putzen, sich an die in den gastronomischen Betrieben übliche Ernährung gewöhnen. Hier erlernt man die russische Sprache und – wie man die sowjetischen Gesetze achtet. Später mitunter, nach Verbüßung der Haftstrafe, kommen sie in die Stadt, besuchen uns, und behalten uns in guter Erinnerung. Ich persönlich glaube an ein solches System der Erziehung ...

- Und wieviele Aufseher oder Erzieher habt ihr? – interessierte ich mich vorsichtig. – Es ist wichtig, daß in diesem Milieu keine Gewalt herrscht, wie in unseren sibirischen Lagern, damit keine Schlechtigkeiten und Aggressivität anerzogen wurden.

- Hier bei uns geht es ganz normal zu, aber da in den Zonen, wo die erwachsenen, notorischen Diebe sitzen – da ist es schlimmer. Es kommt vor, daß welche weglaufen. Dann wird geschossen.

- Aber wozu schießen? Er kommt doch sowieso nicht viel weiter als seine Jurte.

- Flucht ist Flucht – das müssen alle begreifen. Nun, Sie fahren da durch die Gegend. Dann denken Sie daran, in entfernten Bezirken vorsichtig zu sein. In diesen Gegenden, mit Verlaub gesagt, ist Diebstahl ein normales Erscheinungsbild, und einen russischen Spezialisten – einen Agronom oder Veterinär – zu erschießen, ist beinahe eine heroische Tat.

- Na so etwas! Es hat Fälle gegeben, in denen man gegen russische Spezialisten die Hand erhoben hat?

- Das ganze Elend liegt darin, daß es uns bislang nicht gelungen ist, auch nur einen einzigen Terroristen zu ergreifen. Es ist unabdingbar, mit der Bevölkerung zu arbeiten, zu lernen mit ihr umzugehen und sie willfährig zu machen, sie zu zähmen und dabei die nationalen Besonderheiten und Traditionen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet haben, zu erfahren – das alles ist nicht einfach.

- Sagen Sie, Genosse Oberst, wenn das Durchsickern geheimer Informationen Sie nicht erschreckt, aus welchem Grunde sind wir dann hierher gekommen? Wer soll hier von wem befreit werden? Hier haben wir doch nichts weiter als Nachteile.

- Das provoziert mich schon, Genosse Künstler. Sie wissen doch, daß die Interessen Rußlands und der UdSSR in dieser Welt geschichtlich begründet sind. Zudem existieren unsere strategischen Aufgaben und internationalen Pflichten. Wenn nicht wir, dann kommen andre hierher. Sind Sie beim Denkmal „Der Mittelpunkt Asiens“ gewesen?

- Ja, war ich.

- Wissen Sie, wer es errichtet hat?

- Nein, das weiß ich nicht.

- Das war 1912 der englische Topograph und Forscher Sir Carruthers. Und in demselben Jahr suchte der russische Gelehrte Bliznjak einen Weg nach China – über den Jenissej und den Bij-Chem. Damals, im Jahre 1914, hatte der russische Zar auf Bitten der tuwinischen Feudalherren die Urjanchajsker Region unter seine ehrenvolle Protektion genommen. Dieses Protektorat wurde 1928 durch die tuwinische Nationalregierung abgelehnt, aber im Jahre 1944 fällte der Große Chural (das gesetzgebende Machtorgan; Anm. d. Übers.) von Tuwa die Entscheidung, daß der Oberste Sowjet der UdSSR Tuwa in den Bestand der Sowjetunion hineinnehmen sollte, wie es auch heute noch der Fall ist ...

- Vielen Dank für die interessanten geschichtlichen Angaben.

Wir schwiegen eine Weile, und dann stellte ich eine Frage, aber ich rechnete nicht damit, eine Antwort darauf zu erhalten.

- Weshalb haben unsere Beamten mit Hilfe der tuwinischen Kommunisten die großen buddhistischen Klöster und die heiligen Anlagen der Schamanen zerstört? Es scheint, daß wir mit unseren großen Stiefeln die hiesigen geistlichen Werte zertreten haben.

- Ich halte diese Aktionen für einen groben Fehler, für den es keine Rechtfertigung oder Entschuldigung gibt – niemals darf man dem Volk die Symbole ihres Glaubens wegnehmen.

- Danke, ich freue mich über ihre Antwort. Sie müßten als Kulturminister arbeiten, - vollständig und aufrichtig würde ich seine Gedanken und Schlußfolgerungen gutheißen.

- Einstweilen ist hier die Not bei den Straforganen wichtiger. Kommt Zeit, kommt Rat. Wir werden sehen ...

Vom Fenster her rief uns der Jägermeister der Region zu sich.

- Es ist Zeit, daß wir uns in die Jurte Olzy-Ools begeben, von dort war auch schon der Verbindungsmann; sie haben uns eingeladen, der Khan hat sich beruhigt, so daß wir hingehen können. Führt eure philosophische Unterhaltung über die leuchtende Zukunft dort nach der warmen Mahlzeit fort.

Ich weiß nicht, wie sich unsere Beziehungen, sowohl in dienstlicher als auch in persönlicher Hinsicht, im weiteren Verlauf gestaltet hätte, aber an jenem Abend, in der Jurte des Olzy-Ool, standen wir vor dem Gott der Jagd alle gleich da, wir vergaßen sozusagen alles über die Bereiche der staatlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten, dachten nicht mehr an das Alter und daran, daß wir fünf Nationalitäten der Sowjetunion vertraten. Und erst als Sascha Jermolajew anfing, ein Kamasinsker Volkslied anzustimmen und eingestand, daß er einer der letzten Kamasinzer war – der Vorsitzende einer niemals groß gewesenen Gemeinschaft von Sajan-Jägern – da dachten wir über die tragischen Schicksale unserer Vorfahren und das ungewisse Los unserer Abkömmlinge nach.

Anschließend tranken wir auf die großartige und mächtige russische Sprache, die uns verbindet und uns alle mit der stolzen Bezeichnung „Russen“ verbindet. Danach ging es ans Spielen: wer wen beim Amdrücken am Tisch bezwingen konnte oder wer mit verbundenen Augen durch einen Schuß mit der Pistole eine einen Meter entfernt stehende brennende Kerze zum Erlöschen bringen würde. Es wird gesagt, daß ein gelehrter Wirtschaftswissenschaftler, ein Soziologe und Psychologe, berechnet hatte, daß – wenn eine schwere und eintönige Tätigkeit des Menschen als Spiel aufgefaßt werden könnte – sich die Arbeitsproduktivität um 30% steigern ließe.

Ich kann mich daran so gut erinnern, weil der gastfreundliche Hausherr es für erwiesen hielt, daß fünf Minuten herzlichen Lachens dem Kalorienwert von 100 g gekochten Hammelfleisches entsprechen würden.

Über andere lustige Berechnungen werde ich nicht schreiben, denn manches habe ich vergessen, und viele Männerspäße sind ja auch nicht unbedingt dafür geeignet gedruckt zu werden.

BEI DEN ALTGLÄUBIGEN VON TOSBULUK

Den ganzen heutigen Tag gehen wir auf einem schmalen Pfad mitten durch die dichte Taiga, die ebenso endlos ist, wie in Sibirien. Geographisch gesehen gehört Tuwa ebenfalls zu Sibirien, nur eben zum südlichen Teil. Hier, auf der bergigen Hochebene des Todsch, führte auch unser Weg entlang: vom Osas-See in die Altgläubigen-Siedlung Tosbuluk, die sich auf einer Waldlichtung versteckt hält, welche sich der Mensch von der Taiga angeeignet hat, schon fast am Ufer des Bij-Chem. Fast – das heißt in einem Kilometer Entfernung. Man kann auf dem Bij-Chem an Tosbuluk vorbeifahren, ohne überhaupt seine Existenz zu bemerken. Das Leben ist hier so eingerichtet, daß man sich weit fernhält von der sündigen Welt und sich nur in die weltlichen Siedlungen – Toora-Chem und Sildam – begibt, wenn man sich in der himmelschreienden Not nach Mehl und Munition, Schießpulver und Schrot befindet. Die Bewohner dieser Siedlung sind wie Splitter einer alten Welt. In ihrer Erinnerung leben sowohl die schrecklichen Ereignisse der Kirchenspaltung der Rus vor der Herrschaft Peters, als auch die Verfolgungen durch den Zaren-Satan Peter, vor dessen Namen allein die Menschen schon in die unbekannten Weiten des Ural, des Altai und des Sajan flohen. Nach den Werken von Mjelnikow-Petscherskij, Schischkow, Tscherkasow und anderen Schriftstellern hat sich bei uns eine feste Vorstellung über das Leben in den Einsiedeleien der Taiga herausgebildet, den Überresten eines ernsthaften Stromes von freiheitsliebenden Umsiedlern, welche in lebenden Beispielen die Geschichte der Rus des 16. und 17. Jahrhunderts bewahrt haben. Uns stand eine Begegnung mit den lebenden Nachfahren des längst vergangenen russischen Mittelalters bevor.

Einmal, gegen Abend, näherten wir uns leise einem Bären, der neben dem Pfad seine Abendmahlzeit an einem von ihm zerstörten Ameisenhaufen zu sich nahm – offensichtlich sind die weißen, wie Reiskörner aussehenden Ameiseneier für das Raubtier die herrlichsten Leckerbissen. Der hellbraune Bär war von mittlerer Größe und ächzte sogar vor Vergnügen, wobei er sich das Naschwerk aus der Taiga von den Krallen seiner Pfoten ableckte; verzaubert durch sein Fressen bemerkte der Bär auch nicht, wie Alexander sein Gewehr neu lud und ich den Fotoapparat für eine seltene Aufnahme vorbereitete. Aber die hinter mir gehende Ksenja sagte freundlich, daß er überhaupt nicht schrecklich aussähe – und von dem Klang ihrer Stimme warf es den Bären förmerlich in die Höhe; er flog, ohne einen einzigen Zweig zu zerbrechen, über das Buschwerk an uns vorbei, wobei er lediglich den unangenehmen Geruch eines aufgeschreckten Bären hinterließ.

So hielt sich Alexander auch nicht schußbereit. Der Bär war nutzlos für uns, um so mehr, als wir uns hier in der Taiga auf den Besitzungen der Altgläubigen befanden. Es lag bei ihnen, über das Schicksal des Bären zu entscheiden, sobald der kalte Herbst heranrückte, wenn er sich seinen Fettvorrat anfraß. Ich bedauerte, daß es mir nicht ein einziges Mal gelungen war, diese unverhoffte Begegnung zu fotografieren. Es war auch nicht der erste Fall, bei dem ich aus unmittelbarer Nähe einen Bären gesehen und nicht reagiert hatte – sondern vielmehr den Bären entwischen ließ - und die Chance einer seltenen Fotoaufnahme ebenfalls.

Die Taiga sieht hier zwar ganz und gar sibirisch aus, aber dennoch zeigt hier der Süden seine typischen Spuren: die hellen Tage sind kürzer als im Norden, und die Dunkelheit bricht stets ohne die geheimnisvolle Dämmerung herein, so daß wir für die verbleibenden 30 km Weges, die Kilometer in der Dunkelheit nicht mitgerechnet, eine ziemlich lange Zeit brauchten. Die schweren Rucksäcke ließen uns ganz krumm werden, wenn wir über irgendwelches Wurzelgeflecht stolperten, oder sie rissen uns mit einem Ruck nach hinten, wenn wir uns nach einer kurzen Rast weiter durch die Dunkelheit voranbewegten.

Gegen Mitternacht trug der Wind den Geruch von Rauch heran, und als die Hunde anschlugen, hatten uns bereits die Kräfte verlassen, aber ich beharrte darauf, keine Minute zu verlieren – die Menschen in der Siedlung, die durch das aufgeregte Gebell der Hunde aufgeweckt worden waren, sollten nicht lange im Zustand der Erwartung bleiben – die Minuten der Ungewißheit rauben einem unwiderruflich irgendetwas Wichtiges.

Die Waldlichtung mit den Häusern und Scheunen, den sich ausruhenden, wiederkäuenden Kühen und den Hunden, die einen Höllenlärm angestimmt hatten, schien von dem dunkellilafarbenen Himmel ein wenig heller zu werden. Aus dem dunklen Türdurchgang schritt uns ein Mensch entgegen, ganz in Weiß gekleidet, genau wie das Gespenst aus einem uralten Kindermärchen. Er nannte sich Alexej Schmakow und fügte hinzu:

- Herzlich willkommen. Ich hab schon von euch gehört. Der Waschtrog steht da drüben auf dem Pfosten, Wasser könnt ihr aus dem kleinen Kübel eingießen. Auf dem Herd ist Tee, zwar schon kalt geworden, aber ihr könnt ihn aufwärmen. Mit euren Rucksäcken könnt ihr euch in der guten Stube niederlassen. Morgen früh werde ich euch zu essen geben, was Gott geschenkt hat, und dann werden wir entscheiden, was weiter wird. Jakow aus Asas war in Saldom, er hat auch von euch gesprochen. Gute Nacht.

Alexej Schmakow neigte den Kopf in einer tiefen Verbeugung und verschwand dann in der Dunkelheit seines Hauses, wobei er beinahe versehentlich mit seinem hellen Haarschopf am oberen Querbalken des Türrahmens hängengeblieben wäre.

Am Morgen, während des Frühstücks, hatten sich die wenigen Bewohner der Siedlung eingefunden, um uns neugierig zu betrachten. Hier gibt es ein paar Häuser, aber es leben dort nur zwei Familien – die Schmakows und die Popows. Das Haus Bedarews steht leer – er ist gerade mit seiner Frau fortgefahren. Der hier am besten lesen und schreiben kann – das ist Popows Sohn Pjotr. Er ist Forstaufseher und besitzt eine Uniform und eine Schirmmütze mit einem bescheidenen Abzeichen daran. In diesem Anzug fährt er durch das 40 km große Taiga-Revier an den Ufern des Bij-Chem ... Die Arbeit ist nicht anstrengend, - scherzt Pjotr, - aber ich bin trotzdem ganz bei der Sache. Sonst geben sie uns weder eine Lizenz für Zobel, noch für Schrotkugeln. Die Steuer auf Pferde beträgt achtzig Rubel, aber einen Arbeitsverdienst erhalten sie nicht. Zwar wird der Reiter nicht besteuert – aber ich reite auf meinem Pferd wie auf einem staatlichen – so daß sie das irgendwie ausgleichen müßten, aber so findig sind sie nicht, darauf kommen sie nicht.

- Dann, Pjotr Alexejewitsch, befinden sie sich also nach wie vor nicht gerade in Eintracht mit der Obrigkeit, so wie damals der Zar und der Patriarch Nikon.

- Gott sei Dank, man wird nicht erschossen ...

- Aber unterdrücken sie einen nicht trotzdem?

- Nein, sie unterdrücken nicht. Aber sie lassen einen nicht leben. Zwei Lizenz vergeben sie – das heißt, daß du dir zwei Zobel beschaffen darfst. Aber man muß sie abgeben, und noch dazu zum niedrigsten Preis; von dem erhaltenen Geld muß man dann auch noch die Grundsteuern sowie die Steuern für die Pferde und das andere Vieh zahlen. Und woher soll man das ganze Geld nehmen? Schließlich haben wir hier doch keinen Warenverkauf – wir können doch nicht die Taiga roden, als wäre es Ackerland ...

- Hat man euch denn empfohlenen in eine Kolchose einzutreten?

- Hier nicht, aber in den nördlichen Regionen der Taiga, am Fluß Ket, haben sie uns vorgeschlagen eine Kolchose zu gründen, doch dann haben die Machtorgane selbst die Angelegenheit plötzlich vertuscht. Wir sind nicht gegen eine Kooperative, wenn auch wir einen Vorteil davon haben, aber das ist ja nicht der Fall. Wenn einer einen Hakenpflug hat, dann finden sich auch sieben mit einem Löffel (gemeint ist: wenn einer arbeitet, dann gibt es auch sieben, die essen wollen; Anm. d. Übers.). Darin liegt der ganze Kummer der heutigen russischen Lebensart, welche wir nicht akzeptieren und begreifen können.

- Bei euch ist jeder verpflichtet dazu beizutragen, daß sowohl die Gemeinde als auch das Individuum überleben kann.

- Verzeihen Sie, ich habe nicht verstanden. Beitragen – was bedeutet das? Zu einer gemeinsamen Sache beitragen?

- Von den Ergebnissen her – ja, aber von der Wortbildung her ist das auch ein Synonym.

- Ich kenne mich mit Ihren Schreibregeln nicht aus ...

- Aber Sie können doch lesen und schreiben?

- Bei uns wird zuhause unterrichtet, aber das muß geändert werden. Schmakow hat sieben Kinder; einer von denen will nicht hierbleiben und zieht in die weite Welt hinaus. Das heißt, man braucht eine Schule, mit der die Kinder auch für die weite Welt gerüstet sind. Es kann sein, daß Alexej Schmakow sich irgendwo in der Umgebung von Saldom ansiedeln muß, um eine Schule in der Nähe zu haben. Er, Alexej, ist gezwungen worden, im Krieg zu kämpfen, auf Menschen zu schießen, aus Soldatengeschirr zu essen. Die Unseren haben ihn ausgestoßen. Können Sie das verstehen?

- Es ist schon verständlich, aber nicht ganz. Braucht er jetzt Geschirr, einen Schrank? Und wie ist es mit einer Ehefrau? Ferneziehungen oder ein Treffen draußen in der Taiga, in weiterer Entfernung von den Augen der wahrhaft Gläubigen?

- Darüber spricht man bei uns nicht. Mit der Erlaubnis Gottes entscheidet jeder seine persönlichen Dinge selbst ...

Vom ethnischen Typus her ähneln die tuwinischen Altgläubigen den europäischen Nordländern. Solchen Gesichtern bin ich in Welikij Ustjug und Kargopol begegnet. Sie haben keinerlei asiatische Beimischungen. Da haben wir den Genofond (die Gesamtheit aller russischen Gene; Anm. d. Übers.) in seiner reinsten Form.

Bei der morgendlichen Inspektion erklärten wir, so gut es ging, die Ziele und Aufgaben unseres Fußmarsches; daß wir zu dem großen Jenissejsker Wasserfall wollten, wo sich der Legende nach die Söhne des Sonnengottes Bele zu einer Strömung, dem Bij-Chem, vereinigt hatten, um sich in Form eines Wasserfalls durch die unüberwindlichen Felsen einen Weg zu bahnen, in die weite Welt hinaus zu fließen und sich alle Besitztümer ihres Sonnen-Vaters genau anzusehen. Unseren gutmütigen Wirtsleuten war nicht ganz klar, wieso gleich sechs Künstler auf einmal wegen ein- und derselben Angelegenheit unterwegs waren. Aber wir konnten alles ins richtige Licht rücken, als wir erklärten, daß wir aus verschiedenen Gegenden der Region Krasnojarsk, Sibiriens, Chakassiens und Tuwas stammten.

Großvater Alexej führte uns ans Ufer des Bij-Chem, zeigte uns, wo die Boote, die Ruder und die Netze versteckt waren. Er erklärte uns die Art und Weise des nächtlichen Fischfangs mit den dreiwandigen Schwimmnetzen. Er zeigte uns auch, wie man das Netz und das ausgebreitete Kreuzholz in die Strömung herunterlassen muß, erzählte uns, wie man bei Dunkelheit die Fische vom Ufer forttreibt. Wir dankten Großvater Popow und setzten ihn davon in Kenntnis, daß wir am morgigen Tag auf unserer geplanten Route weiterziehen würden.

Völlig unerwartet begannen fast alle Einwohner dieser Einsiedelei uns bei den Vorbereitungen für unseren Fußmarsch zu helfen, auf dem wir keiner Menschenseele begegnen würden. Da wir die Absicht hatten, vom Wasserfall aus auf einem hölzernen Floß bis nach Toori-Chem zu fahren, nahmen wir eine Quersäge und eine Axt mit. Jetzt kontrollierte Alexej noch einmal die Schränkung (seitliche Biegung der Sägezähne; Anm. d. Übers.), schliff die Sägezähne nach, schärfte die Axt und beschwor den Axtstiel, wie es sich gehört. Er überprüfte auch unser fast hart gewordenes Schuhwerk, besserte es ein wenig aus, fettete es mit irgendetwas ein und schnitt aus Birkenrinde neue Einlegesohlen zurecht.

- Du warst doch bestimmt Hauptfeldwebel in der Armee, wenn man so sieht, wie geschickt du alles hinbekommst, fragte Alexander, der selbst zufuß auf den Kriegspfaden von der Wolga bis an die Oder gelaufen war, schon halb überzeugt.

- Nein, Alexander, Gott bewahre, ich habe nicht gekämpft. Die Taiga hat mich alles gelehrt ...

Der Forstaufseher – Popows Sohn, versprach uns Lastpferde bis an den Fluß Basch-Chem. Weiter gab es für den Menschen dort keine Wege – nur Tiere konnten sich dort noch durchschlagen. In unsere Rucksäcke stopften sie gedörrte Lenoks (mandschurische Lachsforellen; Anm. d. Übers.) und Äschen.

- Vertraut meiner Erfahrung, - sagte der Forstaufseher, das ist die beste und nützlichste Nahrung für euer heutiges Vorhaben. Tabak gibt es bei uns nicht, ich kann euch keinen geben, denn ich kann nur dringend von diesem Giftkraut abraten – sein Fehlen macht einen Raucher sehr nervös, und ein nervöser Mensch kann bei den Bedingungen, die unterwegs herrschen, der Sache ziemlich schaden. Nun, was ich euch da lehre, das wißt ihr ja selbst ...

Wir waren zu der Überzeugung gelangt, daß bei den Altgläubigen die Sorge über Ihresgleichen, über die ihnen Nahestehenden, das wichtigste Gebot des Sittenkodex darstellt. Ihre Aufmerksamkeit, die Sorge brachte uns in einen Zustand kraftloser Bestürzung – so viel Gutes konnten wir mit nichts bezahlen. Ich versuchte, dem Forstaufseher ein Messer mit allen möglichen Vorrichtungen für ein Leben unterwegs zu schenken, aber er wies meine Gabe mit folgenden Worten zurück:

- Später, später, wenn ihr zurückkehrt, dann vielleicht ... Das hat ja noch Zeit.

Der Morgen dämmerte, als wir auf dem unbekannten Pfad fortgingen. Und wieder gerieten wir in eine uns unverständliche Situation. Während des gemeinsamen Frühstücks wurde sehr wenig gesprochen; die Frauen waren hell und sauber gekleidet, die Kinder gewaschen und gekämmt. Leider dachte ich, daß unsere herzlichen Wirtsleute das Unbekannte der Taiga überbewerten und unsere Erfahrung unterschätzen. Uns kann nur ein äußerst seltener Zufall, der eigene Leichtsinn oder Liederlichkeit zugrunde richten. Ich werde nie das rührende Mitgefühl der Taigabauern beim Abschiednehmen vergessen. Der Forstaufseher Pjotr führte drei Pferde, die mit unseren Rucksäcken beladen waren, dann kamen wir im Gänsemarsch, und hinter uns die Frauen mit den Kindern an den Händen. Irgendetwas Klares – vor lauter Heiligkeit womöglich? – lag da in der Silhouette der Gruppe, aber da war auch etwas Beunruhigendes: wir gingen sozusagen für immer, und die gutherzigen Menschen fühlten das.

Als wir begannen, in das Tal des Taigaflüßchens hinunterzusteigen, blieben die uns begleitenden Frauen auf der Anhöhe der Wiese stehen. Wir sahen uns nach allen Seiten um, blieben ebenfalls stehen und blickten zu den Frauen herüber. Irgendwo auf den Wandmalereien von Kirchen und vielleicht auch auf klassischen Bildern hatte ich schon einmal so etwas gesehen: in den gleichmäßigen, scharfen Silhouetten und Linien kam eine verborgene Unruhe, eine gewisse Besorgnis zum Ausdruck und eine Vorahnung von Unheil. Ich begann sie anzusehen. Wahrscheinlich sogar unanständig lange. Pjotrs Ehefrau winkte zum Abschied. Und unsere Truppe marschierte weiter.

Ksenja, die mich auf dem schmalen Weg vorangehen ließ, wischte sich die Tränen ab und sagte, daß sie vor einem solchen Abschied Angst hätte. Alexander, der offensichtlich die gleichen Gefühle durchlebte, reagierte mit einem plumpen Witz.

Für dich, Ksenja, wäre es richtiger, dich mit einem Tritt in den Hintern von so einem heiligen Ort, von solchen Menschen fortzujagen.

Ksenja drehte sich um, um ihm einen Schlag ins Genick zu versetzen, schlug aber daneben? Und das machte sich Alexander zunutze. So wie eine Ameise eine Maikäferraupe ergreift, so preßte er die Beute, die zu winseln begann, zusammen, in dem erfolglosen Bemühen, sie sich auf die Schulter zu werfen.

Gegen Abend kamen wir an den Fluß Basch-Chem, der rauschend und brodelnd über die schwarzen Steine einer abschüssigen Sandbank strömte. Hier steht uns morgen das Übersetzen bevor. Pjotr bringen wir am Morgen hinüber. Nach der gemeinsamen Einschätzung wird alles gutgehen. Jeder weiß, was er zu tun hat.

Pjotr empfahl mir, zum Solonetz (mit Salz angereicherter Boden; Anm. d. Übers.) zu gehen und dort zu warten, ob nicht vielleicht zur dunkelsten Stunde, um Mitternacht, ein Wildschwein dort auftauchen würde, und dann könnte man ein wenig schießen. Der Solonetz befand sich stromaufwärts, hinter der Flußbiegung. In der tiefen Dämmerung erkannte ich dennoch zahlreiche Spuren – vielleicht aus der vergangenen Nacht. Es kann sein, daß ein Wildschwein auch tagsüber den Solonetz aufsucht, aber nur bei windstillem Wetter, wenn sein Gehör alle Töne voneinander unterscheiden und auch die leisesten Geräusche wahrnehmen kann.

Pjotr gab mir Anweisung, wohin ich mich setzen sollte. Und so warten wir in absoluter Stille

eine ganze, unendliche erscheinende Stunde. Schließlich knackte ein Zweig unter den schweren Hufen des Wildschweins; es erschrak selber davor, tat einen scharfen Sprung zur Seite und erstarrte. Es schien mir, als ob ich sein Atmen hören konnte, aber es war mein eigenes unterdrücktes Atemgeräusch und die klopfenden Schläge in meiner Brust. Falls sich das Wildschwein erdreisten sollte, bis zur Mitte des Solonetz voranzugehen, dann würde er mir ins Visier geraten und ich würde den Hahn spannen. Einen Fehlschuß würde es nicht geben. Aber der Wind, der jetzt schwach vom Fluß herüber zu wehen begann, trug dem Tier offensichtlich den Geruch der Stiefel des Forstaufsehers, die mit Teer eingeschmiert waren, zu – Pjotr hatte vergessen, andere Schuhe anzuziehen! Und das Wildschwein rannte weg. Schweigend kehrten wir zurück, aber als wir den Rauch des Lagerfeuers und den Schein der roten Flammen auf den Baumstämmen sahen, sagte mein Gefährte:

- Ich riskiere es nicht, die Pferde auf diese Sandbank zu jagen ...

- Das ist nicht nötig, Pjotr, wir werden selbst gehen. Wir werden am Morgen den besten Übergang durch den Sumpf auskundschaften und werden versuchen, uns zu jenem hervorstehenden Bergvorsprung durchzuschlagen – dort setzt sich ganz bestimmt der schmale Weg fort. Vielen Dank für die Pferde. Sie haben prächtig gearbeitet, und jede beliebige Arbeit muß bezahlt werden. Sie haben doch den ganzen Sommer keinen anderen Verdienst gehabt. Nimm also das Geld und bezahl die Steuern.

- Na, verflixt nochmal, mit den Pferden hast du mich überzeugt. Vielen Dank.

Sie begrüßten uns mit einem Scherz.

- Na, Jägersleute, was ist – habt ihr die Wildschweinspur gesehen?

- Die Spur schon, nur das Wildschwein nicht, aber es ist vorbeigekommen. Und im Augenblick brauchen wir es auch gar nicht. Aber es ist wichtig zu wissen, daß es da ist. Aber zum Herbst hin werde ich ihm auflauern, - tröstete Pjotr Alexander.

Am Morgen, nach der Abreise des Forstaufsehers, gestatteten wir uns, unseren Aufenthalt zu verlängern – als Touristen: wir legten uns nieder und schliefen noch ein wenig, so lange bis der Hunger uns aus unseren Schlafsäcken trieb. Während die Jungs die Leinen und Seile für die Überfahrt vorbereiteten und das Lager abbrachen, zeichnete ich eine Skizze: den golden schimmernden Berg auf einem hellen Hintergrund, der Blick durch die gemusterten Äste des schattigen Vordergrundes mit dem Fluß, in dem sich der Himmel widerspiegelte.

Das Übersetzen gestaltete sich schwieriger als wir gedacht hatten. Ksenja und Pawel, die am Fluß aufgewachsen waren, durchschwammen diese Sandbank mehrere Male – es bereitete ihnen Vergnügen. Ich hatte noch nie einen Fluß mit großen Steinen und steilen Wellenbergen durchschwommen, und schon gar nicht mit einem Rucksack auf dem Rücken. Aber auch ohne Last brachte ich es zustande, mir in der Brandung das Knie unter Wasser an einem unbemerkten Stein zu stoßen. Nachdem wir den Fluß durchquert hatten, waren wir noch lange Zeit durch den Sumpf unterwegs, bis wir am Fuße eines Berges einen Pfad entdeckten, der in die von uns gewünschte Richtung bergauf führte.

Wir liefen ein Stück weiter – die Müdigkeit von dem gestrigen 30-km-Marsch war noch nicht verflogen. Die Karte, die wir von der tuwinischen Republik besaßen, war im allgemeinen richtig, aber der Maßstab war einfach nicht geeignet, um sich in einem Revier von fünf mal fünf Kilometern orientieren zu können. Nach der Karte hätten wir schon längst im Tal eines anderen Flusses – des Elitschig-Chem - sein sollen, aber hier war kein Fluß, und nach den örtlichen Gegebenheiten zu urteilen, würde das heute auch nicht mehr der Fall sein. Also waren wir nach dem Überqueren des Flusses ungefähr sieben Kilometer gelaufen, aber es hätten fünfzehn sein müssen. Na schön, überanstrengen werden wir uns nicht; wir werden uns allmählich daran gewöhnen.

Der alte Popow gab uns ziemlich verunsichert den Rat, durch das Jenissej-Tal zum Wasserfall zu gehen, damit wir uns - wie er sagte – nicht verliefen. Da widersprach ich ihm: wozu sollten wir die ganzen Flußwindungen wiederholen, uns den Weg durch das Gestrüpp von Bärenlauch und Purpurweise bahnen, wenn wir hundert Kilometer Fußweg sparen konnten, indem wir gerade durch die Berge gingen. Und das machen wir jetzt auch. Wir werden schmale Wege benutzen, auch wenn es Tierpfade sind, wenn sie nur in die von uns gewünschte Richtung führen: an den Ulagan-Chol-See, und dort, hinter der Gebirgskette – war auch schon der Wasserfall.

In dem Buch von Kurotschkin las ich zum ersten Mal von dem goldenen Kelch Tropins. In Kysyl erzählte der alte Kalinkin diese Legende auch wieder, wobei er zu seinen Lebzeiten versuchte das Geheimnis des Tropin-Schatzes zu enthüllen, obwohl in den Erzählungen noch nicht einmal die Namen der Flüsse erwähnt sind – die Goldsucher verstehen es, das Geheimnis zu hüten. Aber der alte Kalinkin verplapperte sich trotzdem, indem er den Berg am Fluß Elitschig-Chem nannte. Das bedeutete, daß irgendjemand hier, in der Todschinsker Taiga, dieses Drama hervorgebracht hatte.

Die Nacht überraschte uns, als wir noch unterwegs waren, und wir beschlossen, ohne Zelte zu übernachten: das Wetter war, Gott sei Dank, gut, die Farbe des Himmels ging fließend von einem hellen, blauen Horizont in ein dunkelblaues bis schwarzes Gemisch über, bis hin zu einem pechschwarzen Zenit.

Ich war immer der Meinung gewesen, daß eine gute Erzählung über Aufenthaltsorte, an die die Neugier des Reisenden einen geführt hatte, sich tief in der Seele einprägt und in der Erinnerung erhalten bleibt.

Zu Beginn des Jahrhunderts also, als auf den Straßen von Minusinsk Anschläge aushingen, mit denen kräftige Männer aufgerufen wurden, daß sie beim Bau der Stadt Belozarsk sowie derm Weg durch das Sajan-Gebirge in die Urjanchajsker Region gutes Geld verdienen konnten. Iwan Tropin sagte zu seiner Ehefrau: „Solange die Mädchen noch klein sind und du mit der Arbeit bei Wilner gut zurechtkommst, werde ich mich ein bißchen in der großen Welt herumtreiben - auf der Suche nach einer Glückssträhne“. Und dazu entschieden sie sich dann auch. So geriet Tropin nach Tuwa, nach Todsche. Er arbeitete in vielen Genossenschaften an den Flüssen Sistig-Chem und Charil, aber sein Charakter gestattete es ihm nicht, sich mit dem Wenigen zufrieden zu geben. Er wußte, daß er – früher oder später – Pech haben würde. Da er von Natur aus ein Romantiker und ein eigensinniger Mensch war, befand er sich immer im Angesicht des Schicksals und, verzaubert durch die Schönheit dieser Orte, setzte er die Suche nach seinem Glück fort und bemerkte gar nicht, wie er immer mehr in die Fänge des Teufels geriet, welcher den Weg zu den reichen Goldvorkommen kannte.

Tropin wußte aus seiner Erfahrung und den Erzählungen, daß, wenn die ursprünglichen Fundstätten irgendwo am oberen Flußlauf lagern und irgendwann einmal durch Erdbeben zerstört wurden, dann verwandeln Wasser und Gestein dieses weiche Metall in kleine Flitter und glitzernde Stäubchen, die über viele, viele Jahre zum Unterlauf des Flußes hingeschwemmt werden, wobei sie goldhaltige Landzungen und seichte Uferstellen in den Windungen des Flußbettes formen.

Und so war Iwan den ganzen Sommer an dem kleinen, steil abfallenden Flüßchen unterwegs, nahm auf jeder Landzunge Proben, und je weiter er flußaufwärts ging, deso reicher waren die seichten Flußuferstellen und sandigen Lanzungen an Gold. Er arbeitete bis zur Ekstase – um nicht den sich auf halbem Wege unverhofft eröffnenden Reichtum aufzugeben, aber den Oberlauf dieses Bächleins nimmt ihm ja niemand weg. Doch einmal hörte er nicht weit entfernt zwei Schüsse. Er befand sich also nicht allein an der Biegung dieses Gebirgsrückens mit seinen weißen, kalkhaltigen Felsen, wo vielleicht die Hauptfundstätte liegt. Die Dose mit dem gewaschenen Gold zerrte schon lange schwer an seinem Schultersack, aber Iwan, der hastig Proben entnahm, bewegte sich beharrlich weiter in Richtung auf die Quelle. Das Fluß entsprang unter einem überhängenden Felsen mit tiefen Rissen, welche Regen und Fröste hinterlassen hatten. Dort, wo die kräftigste Strömung in den Trichter mit den zerbröckelten Gesteinsschichten hineinrauschte, beschloß er eine neue Schürfung vorzunehmen. Alle zehn Werschok (altes russisches Längenmaß = 4,4 cm; Anm. d. Übers.) wusch er die Proben, und bald erstrahlte der Boden des fast schwarz verbrannten Zedernholzbootes vor lauter glänzenden Goldstückchen. Und Tropin begriff, daß er seinen unter den langen Qualen des Umherstreifens erreichten Erfolg dennoch beim Schwanze gepackt hatte.

Was war, wenn das Glück einem in die schwieligen Hände gefallen war? Man müßte die Schürfstelle zuschütten und fortgehen. Hier konnte er doch die ganze Dose gleich mit einem Mal füllen und anschließend den Rückweg nach Hause antreten, die Familie einmal wieder sehen, nach Krasnojarsk fahren und Meldung über die Entdeckung der Fundstätte machen. Eine Genossenschaft bilden und alle Formalitäten so erledigen, wie es das Gesetz vorschrieb. Aber Tropin stand bereits ganz in der Macht des goldenen Teufels, welcher ihm eindringlich ins Ohr flüsterte; arbeite noch einen Tag weiter, grabe unter dem Stück Felsen die zerbröckelten Kalksteine aus, vielleicht wird auch ein Felssplitter die Schürfstelle verdecken, aber in der Tiefe würde er dier Quarzader finden, seine Hauptbelohnung – einen Naturstein so groß wie ein Hammelkopf.

Diese Träume schwebten ihm bereits in aller Klarheit vor, und er begann wie rasend mit der Spitzhacke zu hantieren und die Quarzader an der Basis des überhängenden Felsbrockens zu zersplittern. Plötzlich begann irgendetwas zu schwanken, abzubröckeln und fiel dann auf das linke Handgelenk, und zwar so heftig, daß Iwan in der roten Welle des plötzlich zusammenströmenden Schmerzes in sich zusammensank. Und er verlor das Bewußtsein. Und als er von all diesem unermeßlichen Schmerz und der Kälte erwachte, da sah Iwan, daß seine Hand unter den Felstrümmern eingequetscht war. Iwan erinnerte sich an Gott, nur konnte er nicht vernünftig beten.

Tropin war ein wohlorganisierter Mensch, für alle Fälle hatte er alles bei der Hand. Mit der freien rechten Hand machte er einen Riemen aus rohem Leder ausfindig, der noch vor kurzer Zeit als Leine für einen Hunde gedient hatte, den er bei einem Kampf mit einem Bären verloren hatte. Mit dem Jagdmesser trennte er den linken Ärmel etwas unterhalb des Ellbogens ab, verband den unbedeckten Arm oberhalb des Handgelenkes mit diesem Rohlederriemen, wobei er seine Zähne und die freie rechte Hand gebrauchte. Als die linke Hand steif wurde und dumpf zu schmerzen begann, trennte Iwan eben mit jenem Messer die Hand am Gelenk ab, wobei er mit großer Mühe die zähen Sehnen durchschnitt. Taumelnd trat er an das erlöschende Lagerfeuer heran, tauchte den Stumpf in die dicke Aschenschicht und schleppte sich fort, immer dem Lauf des Baches folgend, wo bei er das Gewehr und den Patronenbeutel hinter sich her zog.

Ab und zu verlor er das Bewußtsein – und auch jedes Zeitgefühl. Er aß reife Preiselbeeren, aber irgendwie wurde ihm davon übel. Als der linke Arm ganz schwer geworden war und es unter der Schulter heißzu werden und zu brennen begann, stieß er unerwartet auf den Asas-See und auf die Jurte eines alten Tuwiniers. Mühsam betrat er die Jurte und brach vor dem Herd zusammen. Durch seinen Dämmerzustand hindurch hörte er, wie der alte Tuwinier seine Götter um Rat fragte, einige Gräser und Kräuter zerrieb, eine Teekanne zum Kochen brachte und einen großen Topf auf die Kohle stellte.

- Steh auf, Kumpel, du mußt behandelt werden, sehr schnell mußt du behandelt werden ...

Bei der Untersuchung bemerkten sowohl Tropin selbst als auch der Wunderheiler, daß der Wundbrand bereits eingesetzt hatte.

- Man muß schneiden, - sagte der Alte.

- Wenn es sein muß, dann schneide …

Er schnürte den Arm oberhalb des Ellbogens zusammen und trennte fast ohne Schmerzen im Gelenk das gefährlich infizierte Fleisch ab.

Iwan betete so gut er konnte, der alte Lopsan redete sich irgendetwas zusammen, sie rieben den Stumpf mit gelbbräunlichem, honigdicken Lärchen-Terpentin und mit einer Lösung aus Bärengalle ein. Und als der Fluß zugefroren war, da kam auch ein Fuhrwerk mit Fischen für den Kaufmann Safjanow nach Kysyl. Iwan beschenkte den Volksheiler großzügig mit Gold und begab sich nach Hause nach Minusinsk.

Seine Ehefrau und die Kinder traf er nicht an. Die Nachbarn sagten, daß sie zu der verwitweten jüngsten Schwester nach Jenisejsk gefahren wären. In der Familie hatte man geglaubt, daß Iwan bereits in dem fernen Dickicht der Taiga umgekommen war. Iwan hatte Lähmungserscheinungen im Kreuz, und sein linkes Bein begann taub zu werden, aber trotzdem gelangte er mit Mühe nach Krasnojarsk und meldete bei der Bergbauverwaltung seine Entdeckung an. Er nannte den Ort, aber auf der Karte zeigen konnte er ihn nicht. So ungenau waren die Karten zu der damaligen Zeit. Da begannen verschiedene Leute Tropin dazu zu bewegen, seinen Fund zu verkaufen, versprachen ihm auch, ihm bei seiner Heilung zu helfen und die Kinder in einem Pensionat unterzubringen. Tropin war damit nicht einverstanden und fuhr nach Jenisejsk. Er fand seine Frau mit den Töchtern, die sich anfangs sogar vor ihm fürchteten, als sie ihn so hinkend und ohne Arm erblickten. Er kaufte ein ganz kleines Häuschen, Kleidung und Schuhwerk für die Familie. Aber schlimm war es, daß er anfing zu trinken. Die verschiedensten Freunde scharwenzelten um ihn herum: er träumte nur noch davon, eine Genossenschaft zu organisieren und ernsthaft die aufgespürte Fundstätte in Angriff zu nehmen. Aber da brach der Krieg gegen die Deutschen aus, dann die Revolution, und dann fingen jeder an gegen jeden in den Krieg zu ziehen, wer gerade wem in die Quere kam: Russen gegen Russen, Russen gegen Japaner und Engländer, Tschechen und Italiener trieben sich in den Städten Sibirnes herum, anschließend Partisanen und Sowjets, dann erneut Weiße und wieder Rote ...

Eines Nachts klopften zwei Männer in schwarzen ledernen Uniformen und ledernen Schirm-mützen mit roten Sternen an Tropins Haus.

- Gemäß einemDekret, das von Lenin unterzeichnet wurde, suchen wir Gold in Fertigwaren zaristische Zehnrubel-Goldmünzen und Stückgold, welches illegal von Privatpersonen aufbewahrt wird. Ist das klar?

Iwan Tropin glaubte seinen Augen und Ohren nicht zu trauen.

- Wir wissen alles über dich. Los, zeig, wo das Gold ist!

- Zeigen Sie mir doch erstmal das Dekret und ihre Ausweise, wenn Sie hier für fremdes Wohl auf Goldsuche gehen wollen.

- Du, Alter, sag hier ja keine Grobheiten, sonst stecken wir dich ins Gefängnis, ohne Rücksicht darauf, ob du ein armloser Invalide bist oder nicht.

- Maria Petrowna, gib es heraus. Es ist dort, hinter der Heiligen, hinter der Ikone ...

Die Hausherrin holte ein zugebundenes Gefäß aus dunkelblauem Glas, in dem man den grobkörnigen Goldstaub, der an Machorka erinnerte, gut sehen konnte.

- Nehmen Sie – und ersticken Sie bloß nicht daran. Wen berauben Sie, Sie Schützer der Volksmacht?

Unterschreiben Sie, daß sie freiwillig diese Abgabe an den Staat geleistet haben.

Tropin setzte seine schnörkelige Unterschrift auf das Papier. Die Gäste verschwanden. Die Hausherrin fing leise an zu weinen.

- Beruhig dich wieder. Wir haben nicht alles verloren. Ich zeige dir die Stelle, wo das gefundene Gold sicher vergraben ist. Wenn du in Not geraten solltest, dann kannst du es dirzunutze machen. Aber treib dich nicht allein bei den Krämerseelen herum. Manchmal wird der Gehilf von einem Zahnarzt zu dir kommen, mit dem kannst du ruhig Geschäfte machen. Aber ich muß fortgehen. Sammel du ein paar zuverlässige Leute um dich und geh dorthin – zu den Fundstätten, bevor die sogenannten Genossen sich dorthin auf den Weg gemacht haben.

Kurz darauf ging Tropin fort. Man sah ihn noch einmal in Minusinsk und Belozarsk, aber wohin er sich dann weiter begab, das wußte niemand ...

Der schmale Pfad, der uns am Morgen ins Tal des Elitschig-Chem geführt hatte, zog sich kaum merklich zu den am Ufer aufgeschobenen Gesteinsbrocken hin und von dort weiter zum Oberlauf des Flusses. Wir setzten ziemlich schnell zum linken schroff abfallenden Ufer über und gingen durch ein ausgetrocknetes spärliches Kiefernwäldchen nach Osten. Irgendwo dort, hinter dem Berg, in nördlicher Richtung, hatte Iwan Tropin seinen goldenen Becher gesucht und gefunden.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie es mir damals in den Sinn kam, daß auch wir uns irgendwann einmal, vielleicht sogar mit dieser Truppe, einen Weg an jene Orte bahnen würden und wir dort vielleicht ebenfalls Glück haben würden.

So lange die Tage noch sonnig waren, konnten wir uns zwischen den Bergrücken gut orientieren, wobei wir für den Vormarsch nach Osten die am besten geeigneten Abhänge wählten. Am Morgen des fünften, schon ziemlich trüben Tages kamen wir überraschend an einen gut ausgetretenen Pfad. Er stieg von Westen her aus den sumpfigen Niederungen bergan. Auf diesem schmalen Weg bewegten wir uns auch weiter und befanden uns bald am Ufer des recht großen Ulatschin-Chil-Sees mit seinen felsigen Inseln. Anhand der Karte zeigte es sich, daß, wenn wir am westlichen Ufer des Sees noch etwa 6-7 Kilometer bis zu der scharfen Uferbiegung nach Westen entlangliefen und dann nach oben auf den Gebirgsrücken kletterten, wir uns dann über dem Tal des Bik-Chem wiederfinden würden, dort, wo ein großer Wasserfall des Oberen Jenissej die Felsen durchbricht.

Aber der düstere Tag und das merkwürdige Verhalten des Kompasses spielten mit uns einen üblen Scherz. Es hatte den Anschein, daß wir an der erforderlichen Stelle einen Bergrücken hinaufgestiegen waren, dann noch einen zweiten, hinterher noch einige Felsen überschritten hatten – und dann sahen wir den Ulagin-Chol-See von seinem anderen Ende. Wir hatten ihn schon von der Felseninsel aus gesehen. So war der ganze Tag mit nutzlosem Umherirren verlorengegangen. Die Sonne, die sich kurz vor ihrem Untergang noch einmal zeigte, half uns bei der Orientierung, und wir bewältigten noch einen weiteren Aufstieg über felsige Steilhänge und aufgeschüttetes Schottergestein und kamen auf einer steinigen Hochebene heraus, von wo man in der Dämmerung die Berge jenseits des Jenissej sehen konnte.

Das Zelt mußten wir auf den Gesteinsbrocken errichten, wobei wir den Untergrund mit Hilfe der kleinen Zweige von Zwergkiefern ebneten, wodurch wir dieses steinerne Chaos irgendwie verschönerten. Die Axt klirrt, als sie den dünnen Zweig abschlägt! Später träume ich von diesem melodischen Klang des Metalls so klar und deutlich, daß ich in der Morgendäm-merung das Zelt verlassen muß, um zu sehen, wer diese mit weichem Grün bedeckten und fest wie Stacheldraht wirkenden Zweige abholzt, wo doch unsere einzige Axt friedlich unter meinem Schlafsack lag.

Mit voller Brust atmete ich die nächtliche Feuchtigkeit ein, als ob ich ganz wach war, aber das metallische Klirren auf den Zweigen dauerte an – und so ging ich dem Klang nach. Und bald begriff ich, daß es nicht die Axt war, die diesen Klang verbreitete, sondern meine eigene Müdigkeit, der Nervenschock über das dumme Umherirren auf den Bergzügen des Ulagin-Chol. Die Hauptsache war, daß man das Unbegreifliche verstand. Das Geräusch hörte auf, und ich kroch ins Zelt zurück, wo meine Kameraden schwer atmeten und abwechselnd schnarchten. Sollen sie nur schlafen. Vor uns liegen schließlich noch eine ganze Reihe von schwierigen Auf- und Abstiegen. Auch ich legte mich nieder und entschwand irgendwohin ins Nichts, und ich kam erst wieder zu mir, als mir vom Zelt herüber, durch die Sonnenstrahlen erwärmt, der Geruch irgendeiner ekelerregenden Chemikalie in die Nase stieg.

Wenn man der Karte glauben kann, dann sollen wir absteigen – ein Weg von 5 Kilometern – und werden uns dann unter dem Wasserfall befinden. Und erneut machten wir uns auf den Weg. Unverhofft endeten die Geröll-Aufschüttungen, das gleichmäßige Oval des Gipfels ging über in den steilen Abhang einer Alpenwiese mit einer Fülle von Blumen und niedrigen, saftigen Gräsern. Vielleicht hatte es hier heute Nacht geregnet, oder die gestrige Feuchtigkeit war noch nicht zu den Wolken hinaufgestiegen. Und diesen Umstand machten sich unsere findigen Burschen auf ihre Weise zunutze, indem sie dem Rat Majakowskijs folgten: „Um sich zu überzeugen, daß die Erde rund ist, setz dich auf den eigenen Hintern und rutsche hinunter!“

Und wir rutschten die abschüssige Wiese hinab, wobei wir die Blumen zerdrückten und den wenigen Steinen auswichen, bis wir am Rande eines dichten Tannenwaldes zum Stillstand kamen. Wie gut war es, den Berges hinunter zu gehen, wenn der Westwind dir das dumpfe Getöse des Wasserfalls herüberträgt, dem du eifrig entgegen strebst, wobei du dir alle möglichen Varianten für die Komposition des zukünftigen Bildes „die Geburt des Jenissej“ ausmalst. Aus einer Erzählung von Kolja Filipow, der noch vor uns diese Orte aufgesucht hatte, begriff ich, daß der Fluß, nachdem er schon die Nebenflüsse vom Flachland des Odegen in sich aufgenommen hatte, hier auf einer Breite von 6-7 Metern in die felsige Schlucht hineingepreßt ist und mit weißen, schrecklich ungestümen Schaumkronen steil von oben herabfällt. Hinter dem Wasserfall strebt der Berg Sinjaja (blauer Berg; Anm. d. Übers.) gen Himmel, auf dem im Frühjahr weiße Schneeflecken schimmern.

Aus dem dunklen Zedernwäldchen kommen wir unerwartet an das sanft abfallende, sandige Ufer, das malerisch mit Unmengen von Baumstämmen aus dem Wald versperrt ist, über denen verzaubernd die untere Kaskade des Wasserfalls glitzert. Eine breite, stille Lagune trennte uns von der endlosen Freude am tanzenden Wasser und dem sonnigen Licht.

Eine Weile ergötzten wir uns schweigend am Anblick des Wasserfalls, dann begannen die Jungs aus einer Schrotflinte und einem Kleinkaliber-Gewehr in den blauen Himmel zu schießen, wobei sie die Tannenhäher, die mit einem aufgeregten Schrei in die Luft emporstießen. Später legten wir uns in den Sand, blickten in die hohen Federwolken und lauschten dem Getöse des Wasserfalls. Nun, nach einem so anstrengenden Übergang, kann man auch reichlich schlafen, aber zuerst möchten wir Farben und Zeichenkarton auftreiben, ein wenig näher an den Wasserfall herangehen und uns ein wenig umschauen. Ich bezwinge meine Ungeduld. Als nächstes müssen wir über die unaufschiebbaren Dinge reden und die vordringlichsten Arbeiten für den nächsten Tag festlegen. Am schwierigsten wird es sein, das Floß zusammenzunageln. Wir sind sechs Mann. Also muß das Floß aus zwölf - oder besser vierzehn - haltbaren, zuverlässigen Baumstämmen bestehen. Man muß lange Ruder behauen und die Vertiefungen anfertigen, in denen die Rudergriffe liegen sollen. An den Ufern der Lagune gibt es soviel Floßholz, wie das Herz begehrt, wenngleich es für ganz lange Flöße wenig geeignet ist – denn es weicht schnell durch und geht dann unter. Bis nach Toora-Chem werden wir etwa 5-6 Tage brauchen, wenn man die Arbeit und die Zwischenstops bei den Altgläubigen einrechnet – 10 Tage.

Was noch? Es müssen noch schnell Taimen (sibirischer Lachs; Anm. d. Übers.) und Charius (Grünlinge; Anm. d. Übers.) gefangen werden. Ein Wildschwein wäre auch nicht zu verachten, aber ich weiß nicht, ob es hier in der Gegend irgendwo salzhaltigen Boden

gibt. Wir haben auch noch einen Vorrat an Fischkonserven, einige Dosen Büchsenmilch und, wenn wir sparsam damit umgehen, für ein paar Tage Zucker. Wir gingen ganz bewußt zu einer Beschränkung unserer Lebensmittelvorräte über. Es war uns wichtig, von hier farbige Skizzen mitzubringen. Na was schon, dann müssen wir uns eben noch ein paar Löcher mehr in unsere Gürtel machen.

Am Morgen gelang es Pawel einen Tajmen direkt unter der Wasseroberfläche zu fangen, aber damit war unser Erfolg dann auch zu Ende. Auch andere hatten das Verlangen Tajmen zu fangen. Alexander kam zu dem Schluß, daß sich unter dem steilen Felsen, wo die tanzenden Wellen in die Tiefe stürzten, sich die Tajmen aufhalten mußten, von denen Pawel einen gefangen hatte, und das war nichts gegen das, was sich hier noch im Wasser befand. Und da wurde die Angelschnur ausgeworden und sofort von irgendetwas Unsichtbarem, Schwerem und Schwerfälligem ergriffen. Langsam zieht Alexander die Beute heraus. Als in dem durchsichtigen Wasser der riesige Kopf von irgendeinem wundersamen Wesen auftauchte, gelang es mir zu rufen:

- Slawka, schieß!

Slawa begann geschäftig hin und her zu eilen. Der feinfühlige Tajmen nahm seine Bewegungen wahr; er zog mit einem jähen Ruck die Rolle der Angelrute nach unten, riß den Metallköder ab und – weg war er. Alexander konnte auf dem Steilhang kaum das Gleichgewicht halten und brach in schreckliche Flüche und Verwünschungen an die Adresse alles und jeden aus. Aber es kam noch schlimmer. Es stellte sich heraus, daß wir die Schachtel mit den Haken und Blinkködern an der meteorologischen Station in Toora-Chem vergessen hatten. Mein Reservelöffel aus Aluminium mußte für die Sache herhalten, aber ... die Fische bissen nicht mehr an; die Fischer mußten an einen anderen Ort umziehen, dort standen sie bis zum Gürtel im Wasser in der Brandung, wo sie einen ziemlich großen Charius fingen.

Anfangs schien es, daß wir hier keine Skizzen anfertigen, sondern vielmehr Ruderflossen aussägen und Balken für die Ruder behauen mußten. Nichtsdestoweniger paßte sich jeder von uns ständig weiter den Gegebenheiten des Wetters, dem Leuchten des Wasserfalls und der Felsen an und überlegte gründlich, wie seine Variante des Bildes aussehen sollte. Wir kamen darin überein, daß jeder jede beliebige Tätigkeit, bei der er gerade war, unterbrechen konnte, falls er plötzlich Lust dazu verspüren sollte, den Pinsel in die Hand zu nehmen. Die ziemlich trüben Tage dauerten an, und es schien, als ob die Lage über dem Wasserfall sich nicht ändern würde; jedenfalls war es dort nicht sehr interessant. Aber eine kühle Nacht brachte uns einen Morgen mit viel Nebel und dem grellen Licht der aufgehenden Sonne über den Kronen der Brandungswellen des nicht zur Ruhe kommenden Stromes. Die Taiga über dem Wasserfall war mit einem goldglänzenden Schein eingefaßt, und die Nebelschwaden über dem Wasserfall, die ständig ihre Form wechselten, erinnerten bisweilen an auffliegende Engel oder Geister dieser geheimnisvollen, sich ewig bewegenden Naturkraft.

Mir kam diese Situation äußerst erfolgreich vor; es war einfach eine Fundstätte für romantische Kompositionen. Die Skizze war ziemlich leicht und schnell gezeichnet; auf dem seelischen Hoch gelang es mir, sie buchstäblich aus der schnell entschwindenden Helligkeit herauszuziehen. Weitere Skizzen fertigte ich nicht an. Ich schlenderte über das umliegende Felsgestein, fand kleine Herden von Bergrehen, aber es gelang mir nicht, mich ihnen anzunähern, um sie zu schießen.

Auf den speziellen Baumstamm-Rollen glänzte weiß das neue Floß, das mit selbstgemachten Tauen aus Weiden-Ruten und den Wurzeln von Purpurweiden fest zusammengebunden war. Aus den am Ufer liegenden Weidenstöckchen hatten die Jungs eine Ausstellung mit von der Natur erschaffenen Skulpturen hergerichtet. In den Wurzelgeflechten konnte man bei einem ganz bestimmten Lichteinfall und unter Hinzuziehung seiner Phantasie nicht nur sich raufende Hunde, sondern auch den durch den Wind schreitenten Beethoven und den ganz in Gedanken versunkenen Tolstoi erkennen ... Nach der Ausstellung Stepan Ersis in Moskau und Reproduktionen seiner Arbeiten in verschiedenen Zeitschriften lernten viele Kunstliebhaber, wie man unerwartete und lustige Sujets in den kleinen Ästen und Wurzeln der Bäume sehen kann, und entwarfen sogar ganze Kompositionen aus diesem vermeintlich wertlosen Guten, was sich auf Schritt und Tritt um uns herum befindet. Für den Transport dieser künstlerischen Weidenstöcken und Baumstümpfe stellten wir ein spezielles, kleines Floß her, damit wir die Sachen wenigstens bis nach Toora-Chem schwimmen lassen konnten. Aber an der allerersten Sandbank erfaßten die Wellen die ungewöhnliche Kollektion und verstreuten sie über den gesamten Jenissej.

Die erste ernsthafte Prüfung für unser Floß bescherte uns die Krasnoretschensker Stromschnelle. Wir mußten äußerst, wirklich äußerst angestrengt mit den schweren Rudern arbeiten, um nicht an den Steinen zu zerschellen, die im Flußbett zwischen den hohen, schaumgekrönten Wellen lagen. Alles, was sich auf dem Floß befand, geriet im Nu in die Gewalt der reißenden Strömung. Was nicht festgebunden war, wie z. B. die Spinningrute und der Kessel mit der übriggebliebenen Grütze, wurde im Handumdrehen von den Wellen fortgespült. Der Einstieg war bei diesem Floß niedrig, aber wir hatten auch nicht extra einen Baumstamm an seiner Breitseite hinzugefügt, denn das hätte die Durchfahrt zwischen den Steinen auf der Sandbank und im seichten Wasser erschwert.

Danach war wieder „stilles Wasser“, wie die Einheimischen hier das ruhige Dahinfließen des Flusses und die langen Abschnitte mit langsamer Strömung nennen. An heißen Tagen sprangen wir ins Wasser und schwammen vergnüglich umher, um uns von der Langeweile und dem qualvollen Sitzen auf dem offenen Floß in der prallen Sonne abzulenken, wo wir tagelang gezwungenermaßen beim Nichtstun bräunten. Nach diesen ruhigen, eigentümlichen Stauseen, die dem Charakter des Jenissej im großen und ganzen überhaupt nicht zueigen waren, kamen wir an die Serlig-Chemsker Stromschnelle. In einem großen Gewässer wäre sie vermutlich gar nicht weiter aufgefallen, aber hier an der schmalen Stelle und dazu noch am Abend, gegen die untergehende Sonne gesehen, tauchten wir ein in eine brodelnde Legierung aus Silber und Gold und waren kaum in der Lage, den häufig herausragenden Steinen auszuweichen. Die Hindernisse tauchten völlig überraschend auf, und jeder spitze Vorsprung konnte im Nu die selbstgefertigten Befestigungen des Floßes aufreißen. So forderten uns Aufmerksamkeit und Reaktion auf die Hindernisse Unglaubliches ab.

Nach der Stromschnelle war die Strömung ziemlich stark, und wir machten kaum an einem der hier so zahlreichen Waldbäche halt, um ein paar Äschen für Schaschliks zu fangen. An einem recht lang und geradlining verlaufenden Flußabschnitt bemerkten sie noch aus weiter Ferne einen Menschen mit einer Angel, und als die Strömung uns schließlich ein wenig näher herangetragen hatte, da erkannten wir auch ein Boot, ein auf dem Boden stehendes, großes Faß und einen Hund, der gerade am Fressen war. Der Fischer winkte uns mit der Hand zu, zum Zeichen, daß wir anlegen sollten. Wir lenkten das Floß ans Ufer, aber dort, in der Tiefe, gab es eine sehr starke Strömung. Wir warfen dem Fischer das Tau hinüber, und jener half uns, das Floß ans steinige Ufer heranzuziehen.

- Sind alle am Leben? – lautete die erste Frage.

- Ja, Gott sei Dank – und gesund.

- Sie werden schon seit zwei Wochen in Tas-Bulik erwartet. Und mich haben sie gebeten hier heraufzu kommen, flußaufwärts, damit ich mir wenigstens ein wenig Klarheit über Ihre Expedition verschaffen kann.

Der Altgläubige, mit dem wir hier zusammengetroffen sind, ist Wassilij Bedarew. Er stammt aus Saldam. Bei ihm fand sich ein Päckchen Machorka für unsere Raucher und ein großer Sack Roggen- und Weizenzwieback für die ganze Reisegesellschaft. Der Hund beschnupperte alle vorsichtig und akzeptierte sie dann als die Seinen. Der Geruch des Feuers und des Fisches hatte letztendlich seine Zweifel zerstreut.

- Na was denn! Ich werde auch zurückkehren; ich habe einen kleinen Tajmen gefangen – und das ist genug.

Wir vertäuten Wasilijs Boot seitlich am Floß, und Vasuilij selbst und sein Hund Pirat, die mit uns schnell vertraut geworden waren, siedelten um auf unser selbstschwimmendes Gebilde.

- Wie weit ist es bis nach Tos-Bulinka?

- Morgen sollten wir dort sein, die Strömung ist hier gut. Und konntet ihr all das machen, was ihr geplant und euch vorgenommen hattet?

- Ja, imwesentlichen schon. Aber wir hatten nicht festgelegt, wann wir genau zurück sein wollten, so daß es unnötig war, so beunruhigt zu sein und, mehr noch, euch von der Arbeit loszureißen ...

- Kinder, was redet ihr denn da. Die Popows und die Schmakows haben euch doch auf diesem Weg ihren Segen mitgegeben, sie sind vor Gott verantwortlich. Schon seit einigen Tagen am Ufer, an der Schlucht, weiße Bettücher, damit ihr nicht vorbeifahrt. Die Frauen und Kinder sammeln Heidelbeeren, sehen auf den Fluß – und da schwimmen plötzlich irgendwelche Sachen von eurem Floß auf dem Jenissej vorbei – so etwas hätte doch auch sein können, daß ...

- Nein, Vasilij, das hätte nicht sein können. Vielen Dank für die Hilfe und das Mitgefühl, besser gesagt – die Anteilnahme. Wer hätte denken können, daß wir in der Taiga so treuen und zuverlässigen Schutzengeln begegnen. Übrignes, hat sich Großvater Popow gar nicht über uns beklagt?

- Nein, im Gegenteil. Er sagt, das sind solche friedfertigen, solche umgänglichen und zuvorkommenden Leute; sie trinken nicht, fluchen nicht, nehmen nichts weg, bitten für alles um Erlaubnis, - lachte Vasilij – und der treue Hund Pirat unterstützte ihn dabei mit einem kurzen, fröhlichen Bellen; und dann wurde die Unterhaltung wieder ernsthaft fortgeführt. – Wir leben in der tiefsten Taiga, wie Wilde, sprechen wenig, aber mit unserem Herzen sind wir immer bei den uns Nahestehenden. Wieviel Gutes liegt in den Seelen unsere Menschen! – ihr müßt nur genau hinsehen. Ich wäre schon längst von dieser Welt abgetreten, aber ich kann ihre Liebe und ihr Vertrauen nicht erschüttern – es sind meine allernächsten Verwandten, und zwar nicht nur Blutsverwandte, sondern auch was Geist und Seele betrifft.

Die Ankunft unseres Floßes hatten die Altgläubigen irgendwie berechnet, und alle waren herausgekommen, um uns zu begrüßen. Mir schien es, als ob in der Menschenmenge blonde, bärtige Burschen auftauchten, die wir hier frühe rnicht gesehen hatten ... Von weitem erkenne ich Pjotr, den kräftigen, untersetzten Waldarbeiter mit seiner Dienstmütze ... In der Menge herrscht keinerlei Hast und Eile. Auch wir standen auf; ich lenke das Floß leicht auf die uns Begrüßenden zu. Vasilij befand sich vorn, und irgendwie bemerkte er nicht, daß wir auf einen großen Stein zuhielten. Es gab einen Schlag – und das Vorderteil des Floßes brach auseinander wie ein Fächer. Ärgerlich. Aber trotzdem gut, daß dies nicht im tiefen Wasser passiert war.

Vorsichtig umarmen sie uns, naß und müde wie wir sind, an den Schultern und blicken uns in die Augen. Pjotrs Mutter, ganz in Weiß, mit rosigem Gesicht und ergraut, sieht mir ins Gesicht und sagt leise: „Gott sei Dank, Gott sei Dank“. Und da mußte ich an meine Mutter denken, die nicht weiß, wo ich mich gerade herumtreibe – so war es immer und so wird es so lange sein, bis die technische Revolution in die Tiefen Sibiriens ein kleines Wunder hineingebracht haben wird – drahtlose Telefone.

Pjotr und die jungen Rechtgläubigen zogen unsere Sachen von dem zerstörten Floß ans Ufer und, als sie sahen, wie unzuverlässig das Floß zusammengebunden, die Hölzer aneinander befestigt waren, da lachten sie so aufrichtig, daß sie zu Boden fielen, wobei die Enden ihrer dünnen Ziegenbärtchen in die Höhe wirbeln. Da erhielt Pjotr eine praktische Unterrichtsstunde, wie man nämlich aus jungen Birken eine ringförmige Befestigung zweier Stämme herstellen kann. Eine Holzklemme zum Zusammendrücken des Ringes gibt es an jeder verlassenen Feuerstelle am äußersten Oberlauf des Jenissej. Wir wußten das bloß nicht und kamen auch nicht darauf, wenigstens einmal zu fragen, was das für ein tiefer Einschnitt an der alten Lärche war, mit einem Keil darin. Alle lachten, aber Alexander und mir war überhaupt nicht danach zumute. Die gesamte Betakelung des Floßes war eigenes Machwerk, sozusagen entstammte es unserer schöpferischen Praxis.

Nachdem wir nichts Sichtbares mehr am Ufer zurückgelassen hatten, machten wir uns hinter Oma und Opa Popow auf den Weg nach Tos-Buluk. Und die weißblonden Burschen fragten mich, ob wir nicht einen kurzen Abstecher zu ihnen nach O-Chem machen könnten, das wäre ganz in der Nähe, um dort ihre Kinderchen zu fotografieren. Ich versprach vorbeizukommen, wies aber vorsorglich darauf hin, daß die Bilder erst im Spätherbst fertig wären und ich sie dann nach Sandam an Bedarew oder Schmakow schicken würde.

Bei unserer Rückkehr waren die Gurken und kleine süße Melonen reif geworden. Auf dem Tisch stand frische saure Sahne und ungesalzene, beinahe süßlich schmeckende Butter. Ehe er uns am Tisch PLatz nehmen ließ, führte Pjotr uns in den kalten Seitenflügel der kleinen Kate und bot jedem von uns aus einem weltlichen Blechkrug ein wenig verdünnten Alkohol an. Mit gedörrten Chariussen in den Händen setzten wir uns an den gemeinsamen Tisch und wiederholten nach dem Hausherrn zaghaft das ungeschickte Ritual des obligatorischen Gebetes.

Nach dem Abendessen zog es uns zum Feuer hin, zum gemütlichen Beisammensitzen, selbst wenn wir es schweigend gestalten würden – anscheinend hatten wir uns so aneinander gewöhnt, daß wir uns sofort und sogar ganz ohne Worte verstanden.

Alexander hatte einen schlechte Angewohnheit; er stieß mir seinen Ellbogen in die Seite.

- Kauf bei Pjotr ein Boot, irgendwie hab ich es satt, nach dem Willen der Wellen zu schwimmen, so eine Reise zu Wasser engt unsere Arbeit ein. Und dann, haben wir etwa umsonst den Motor hierher, nach Toopa-Chem, gezogen?

- Ich werde mit Pjotr sprechen. Ich habe ihm versprochen, seine Kinderchen in O-Chem zu fotografieren; ich denke, daß wir bei ihnen auch ein Boot holen werden, falls eins über ist – sie brauchen Geld um die Steuern zu zahlen, hier gibt es doch nichts, womit sie was verdienen können.

Am Morgen stellten unsere Jungs zusammen mit Pjotr das Floß wieder her: sie befestigten jeweils zwei Stämme mit Ringen an dem Querbalken, lernten, wie man den Ring zusammendreht. Ich ging mit dem Skizzenblock zum Ende des alten Flußbettes, wo sich die dünnstämmigen Birken mit ihrem blaßgrünen Laubwerk in dem braunen, stehenden Wasser widerspiegelten. Und über den Birken die dunklen Wipfel der Fichten und Silhouetten entfernter Berge. Dieses Sujet war für mich nichts Neues – ich hatte Birken schon in Kemtschug und in Msta gezeichnet. Aber ich wollte so gern ein paar genaue Einzelheiten zur Erinnerung an diese kleine Welt der russischen Geistlichkeit auf dem Papier festhalten. Es hatte den Anschein, daß ich mein Gefühl des stillen Entzückens über diese friedliche Gemeinschaft ganz gut auf das kleine Stückchen Leinwand zu übertragen verstand.

- Ist es möglich, sich eine Weile bei Ihnen aufzuhalten? ...

Ich sah Großvater Popow. Er näherte sich geräuschlos vom Wald her.

- Bitte, sehen sie mal ...

Der Großvater betrachtete lange das Bild; dann fragte er verlegen:

- Sie sind keiner von uns?

Nein. Ich bin noch nicht einmal Russe Ich lebe nur in Rußland, schon lange, schon immer.

- Und dem Geist und der Seele nach sind Sie Rechtgläubiger. Die Taiga und das Wasser haben sich ihnen anvertraut. Ich glaube, daß Sie den Wald nicht fürchten.

-Nein, Alexej Petrowitsch, den Wald fürchte ich nicht. Ich kann mich lange Zeit in der Taiga aufhalten, aber dann muß ich wieder dorthin, wo Menschen sind ...

Nach einer ruhigen, bedächtigen Unterhaltung war das Hauptproblem dieser Gemeinschaft klar geworden – es werden selten Mädchen geboren, es gibt keine Bräute ... In Asas gab es

eine; unser Bursche, jener blonde aus O-Chem ging andauernd hin, um sie zu sehen. Ihr Vater ist streng, er hat entschieden, sie an den rothaarigen Afon zu vergeben, einen bereits nicht mehr jungen, frommen Mann. So ging diese Aksinja denn auch mit einem Stein um den Hals vom Boot in den See. Was für ein Charakter. Dieser Bursche, Tichon, fuhr im vergangenen Jahr, im März, auf dem Kleinen Jenissej, Kaa-Chem wird er genannt, mit Skiern über den verkrusteten Schnee - als die Tage lang waren und es viel Tageslicht gab. Wen er sich dort ausgesucht hatte, sagte er nicht, aber er baut ein neues Haus. Er ist also im Begriff sich abzusondern und für sich zu leben. Wahrscheinlich wird er im kommenden März auf Brautschau gehen. Und so leben wir ...

- Kann man sich denn nicht aus der Welt (von außerhalb der Gemeinschaft; Anm. d. Übers.) ein gutes Mädchen aussuchen?

- Das dürfen wir nicht. Und wer von ihnen will in der heutigen Zeit schon im Wald wohnen?

- Das würden sie schon, wenn die Liebe stark genug ist ...

- Die Entwicklung einer starken Liebe braucht Zeit, man muß sich öfter sehen, aber bei uns geschieht das alles nach dem Gesetz und nicht nach der Liebe. Obwohl sie natürlich später aus der Verbindung auch erwachsen kann.

Popow schwieg nachdenklich und setzte dann gemächlich die Unterhaltung fort.

- Sie können hier bei uns wohnen und arbeiten, soviel sie wollen. Aber, fühlen sie sich nicht gekränkt oder beleidigt, es wäre besser, wenn sie ihren Gastaufenthalt nicht in die Länge ziehen würden. Wir jagen auch nicht fort, aber die Leute fragen schon, wann Sie sich mit ihrem Floß wieder auf den Weg machen ...

- Vielleicht heute noch, aber ganz bestimmt morgen.

Als er meine Verlegenheit spürte, erklärte mir der Großvater lang und breit, daß sie das Mädchen vor mir versteckten; sie ist ein wonniges Geschöpf, erzählt nichts, blickt lange auf einen und denselben Punkt, fährt mit dem Finger über ein Glas und sieht sowohl irgendetwas auf dem Boden als auch in der Luft. Sie hat uns, die Gäste, schon beim ersten Besuch durch eine Ritze in der Scheunenwand beobachtet ... Irgendetwas in ihr hat sich jetzt verändert, sie ist aufgeblüht – das sieht man. Sie kann keine normale Mutter sein, obwohl ihr Wesen zu einer Versuchung führen kann. Jetzt bummelt sie irgendwo im Wald herum ... Das wollte mir der Großvater auch sagen.

- Beleidigen Sie sie nicht, falls sie sich nähert, sie ist ein stiller Mensch. So ist das, ich wollte es nicht, aber ich mußte es sagen ...

Ich trat auf die Jungs zu, die mit dem Zusammenfügen des Floßes fertig waren, und fragte, ob wir bereit wären, heute schon abzulegen – in O-Chem hab ich noch was zu erledigen ...

- Nein-nein, heute wird gebadet, danach trinken wir Tee, wann gibt Gott uns sonst noch die Gelegenheit uns zu treffen ...

-

Stimmen wir ab! – Drei, vier ... – und ich mußte zustimmen, aber Pjotr fühlte meinen Widerstand.

- Wir können nach dem Bad mit dem Hauptmann noch hinabsteigen zum Salzgestein, das ist nicht weit von hier ...

- Das lohnt nicht, wir sollten uns nicht über unnütze Abenteuer Gedanken machen ...

Das Problem lag in einer Kleinigkeit: wer zuerst in den Baderaum gehen sollte. Ich schlug vor, den Frauen den Vortritt zu lassen, sie schlagen nicht den ganzen Dampf heraus und bereiten hinterher in Ruhe den Tisch vor, damit wir noch gemütlich Tee trinken können. Aber es scheint so, als ob hier die Frauen erst dann drankommen, wenn die Männer ihr Dampfbad genommen haben. So ist es immer schon gewesen. Pjotr ging los, um sich mit dem Vater und der Mutter zu beratschlagen, und die Jungs zischelten mir zu: was willst du auch unbedingt mit deinen Gesetzen in ein fremdes Kloster eindringen..

Aber da kam Pjotr zurück und sagte, daß der Vorschlag des Hauptmanns angenommen worden sei. Er hatte angefangen mich als Hauptmann zu bezeichnen, nachdem ich das Floß, als wir am Ufer festmachen wollten, auf jenen unglückseligen schwarzen Stein beim Ufer gelenkt hatte.

Nachdem ich Alexander damit beauftragt hatte zu überprüfen, ob wir zum Abflößen bereit wären, ging ich in den Wald, zu dem Platz, wo sich die wirtschaftlichen Aktivitäten der Siedlungsbewohner abspielten. Ein kaum sichtbarer winziger Pfad führte zu einem Birkenwald, w. aufgestellt wie eine Pyramide. Die vorbereiteten Axtstiele, Spatenstiele, fertige Deichselgabeln standen - etwas mir noch Unverständliches – denn sie waren gebogen. Möglicherweise waren das noch unbearbeitete Dauben für Fässer, nun ja. Nicht für einfache Fässer, sondern für die. In die man selbstgebrautes Dünnbier hineintat. Am Rande des Fichtenwaldes war etwas zu entdecken, das einer noch nicht fertig gebauten Laubhütte ähnlich sah, mit einer dicken Schicht aus Moos und Gräsern als Unterlage. Vielleicht laufen die Kinder hierhin, sie haben Spaß daran, solche geheimnisvollen Hütten zu bauen. Obwohl es für Kinder ziemlich weit ist. Übrigens, die hiesigen Kinder fürchten sich nicht vor dem Wald.

Während meines Rundgangs in dem bogenförmigen, alten Flußbett des Nebenarmes gelangte ich ganz unverhofft zum Badehaus – es spiegelte sich so klar und deutlich im Nebenarm wider, als ob der Lufthauch des Windes niemals die Oberfläche dieses sauberen Waldspiegels in Unruhe versetzte.

Wahrscheinlich tauchte Pjotr mit seiner Frau geradewegs von diesen unbearbeiteten Bretterstegen ein in diese Durchsichtigkeit. Die spärliche Staubfäden des Rohrkolben-Schilfes und die gelben Seerosen drängten sich an dem grauen Stein zusammen – hinter ihnen die weißen Äderchen der dünnen Birkenstämme im schwarzgrünen Hintergrund der Taiga – und all das war so unnatürlich anzusehen, weil es in der geheimnisvollen Spiegelung des Wassers auf dem Kopf stand, daß das Herz einem vor Schreck erstarrte. Auf diesem grauen Stein könnten die barfüßige von Wasnezow gemalte Alenuschka und eine Wassernymphe sitzen.

Irgendjemand begann hinter dem Badehaus Holz zu hacken, das bedeutet, daß ich bis zum Bad drei bis vier freie Stunden habe. Nein, die Zeit wird mir nicht reichen, um zu zeichnen ... Und da war wieder fast dasselbe – der dunkle See mit seinen Spiegelungen, aber er machte sich bemerkbar mit singenden Klängen irgendwo in der Tiefe des Sees und in mir selbst.

Ich stamme von einem Einzelgehöft im Wald, vom Ufer des Ladoga-Sees. Sowohl die Stille als auch das dumpfe Getöse der Meeresbrandung machen mich zufrieden. Könnte ich in diese Taigawelt zurückkehren oder nicht? Nein, ich kann nicht, und ich will es nicht. Sämtliche Kräfte gehen damit drauf am Leben zu bleiben.

Der alte Popow sagte: „Lebe und arbeite“. Vorübergehend kann man das auch, eine Zeit lang zu Gast sein und dann fortgehen ... Aber die Menschen, die leben hier, und so leben sie alle in der sibirischen Taiga – ohne Ilitschs kleines Lämpchen, wohl hergerichtete Badewannen und warme Toiletten, ohne Kino, Radio und Zeitungen ... Und langweilen tun sie sich nicht ... Einmal in zwei Jahren kommen sie nach Krasnojarsk gefahren, halten sich eine Zeit lang in der Kirche auf, in der Musikkömödie; aber um auch noch in die Oper oder ins Drama zu gehen, dafür reicht ihre Kraft schon nicht mehr ...

- Weder gibt es zu essen, noch kann man auf menschliche Weise sein Geschäft verrichten, und dann halte deine Tasche gut fest und sieh zu, daß sie dich nicht prellen ... Du mein Gott! Die Türen alle verschlossen, die Eingänge verschmutzt ...

Darüber beklagte sich bei mir ein ehemaliger Stadtbewohner, der nach Beendigung seines Studiums am Institut irgendwo im Taigagebiet der Angara Forstaufseher geworden war.

Und mir kommt es so vor, als wenn die Altgläubigen am Oberlauf des Jenissej in einer rosigen Zukunft leben; hier sprechen nicht alle vom Paradies auf Erden und fürchten nicht den Atom-Armageddon (der Ort, wo die endgültige, entscheidende Schlacht zwischen Gut und Böse am Ende der Weltzeit stattfinden wird; Anm. d. Übers.). Sie leben einfach, um sich zur gegenseitigen Freude zu gereichen.

Das Leben in einer großen Gesellschaft, in einem großen Land mit all den komplizierten, wechselseitigen Zusammenhängen verstehen sie nicht – es hat ihnen einfach niemand erklärt. Ich glaube, daß die Kenntnis dieser speziellen Wissenschaft sie auch nicht glücklich machen würde.

Unser Floß sah aus wie ein echtes. Aus den Verbindungsringen, die fest den querverlaufenden Balken umklammern, sehen solide Keile hervor – die du nicht einmal mit dem Beilrücken zertrümmern kannst. Falls wir morgen kein Boot kaufen, werden wir damit bis nach Toora-Chem fahren – es hat sich bewährt, dieses Boot. Auf Anraten Pjotrs haben die Jungs ein paar stabile und glatte Stangen besorgt.

- Dort, voraus, gibt es viele scharfe Biegungen und unangenehme machalki, - sagte Pjotr.

Eine machalka, das kann eine Fichte oder irgendein anderer Baum sein, der durch die Strömung vom unterspülten Ufer ins Wasser gefallen ist, und sich mit dem Willen der Wellen und der Strömung im Wasser so biegt, daßi er seine Zweige aufrichtet.

- Er schrubbt wie eine Bürste! Man muß die Stelle auf dem Trockenen umgehen und bloß nicht geradewegs hineinfahren..

Alexander machte auf militärische Art Meldung, daß unsere gesmate Wirtschaft in Ordnung sei. Die Rucksäcke waren für die Weiterfahrt mit dem Floß bereit, und wir erbaten vom Großvater etwas Birkenrinde zum Anheizen, damit wir nicht die Birken am Ufer kleinhauen mußten.

Die ortsansässigen Frauen zogen auch unseren Ksenja mit sich fort in das heiße, belüftete Bad. Ich hatte ihr davon abgeraten sich dorthin zu begeben, vielleicht ist es nicht angebracht, wenn sie zusammen mit den Weltlichen ein Dampfbad nehmen. Aber alles verlief glatt. Als die Dämmerung hereinbrach, stürzte Ksenja in unsere Hälfte der „guten Stube“ herein, rot und erhitzt von dem heißen Dampf. Sie hatte von den Rutenbesen soviel brennende Feuchtigkeit in sich aufgenommen, daß wie uns von ihr wegsetzen mußten – ans Ende der langen Sitzank. Hinter ihrem Rücken nannten wir sie „Bootsmann“ – sie erledigte freiwillig fast alle kleineren Hausarbeiten, bat nur darum, Slawas verlorengegangenes Boot durch Alexanders selbstgefertiftes, hölzernes zu ersetzen – sie hatte selber angefangen es zu bauen, aber es war nichts geworden ...

Na, was ist, Kapitän, was ist, ihr Seewölfe, seid ihr bereit fürs Bad? Ich habe alles trocknen

lassen, in zwei Rutenbesen noch ein paar Brennesselzweige gesteckt, es gibt auch Tannen- ...

- Das ist was für mich, - verkündete Wanja Kusnetsow, - seit ich an der Front war, sind meine Knie noch nicht wieder gesundgepflegt; kurz bevor es regnet – schmerzen sie dumpf, und nichts hilft.

Das Tosbuluksker Bad, zeichnete sich, im Unterschied zu anderen von mir erprobten Bädern der Taiga darin aus, daß man auf der oberen Schwitzbank sitzen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen, und der Boden war glatt und aus Holz, nicht kalt.

- Nachdem wir in Erdhütten gelebt hatten, haben wir zuerst hier gewohnt ... – erklärte Pjotr, indem er ganz akkurat eine halbe Schöpfkelle voll Wasser auf die heißen Steine verspritzte. Sogleich nahmen alle gleichzeitig ein Dampfbad und schlugen sich dann nacheinander gegenseitig mit den Birkenruten, nicht sehr stark, sondern in aller Gutmütigkeit und Sorgfalt. Ich hatte nicht gewußt, wie angenehm der Rücken - entweder von den Brennessel-Birken- oder den Tannenruten - juckte und schmerzte, aber man möchte sich damit immer weiter schlagen, nach Herzenslust.

Aus heiterem Himmel gab Pjotr plötzlich das Kommando:

- Hopp-hopp, alle Mann in den See!

Vor langer Zeit, vielleicht sogar niemals, hatte ich diese stille, kleine, flache Bucht gesehen, mit ihren ächzenden und stöhnenden Walrossen, aber aus der Entfernung schien mir die rosa Farbe der durch den heißen Dampf geröteten Körper irgendwie himmelblau.

Die Jungs begannen zum Bad zurückzukehren, ich blieb auf jenem Stein Alenuschkas (aus dem Bild Vasnizows; Anm. d.Übers.) am fernen Ufer des Nebenflußes sitzen.

- Was ist mit dir, Kapitän?

- Ich sitze ein Weilchen und lasse mir den Kopf vom Wind durchpusten; ich habe wohl des Guten zuviel getan.

Ich hatte das Gefühl, als ob sich hinter mir irgendetwas leicht bewegen würde, als ob ein kaltes Knie meinen Rücken streifte. Auf dem rauhen Stein konnte ich mich schlecht rühren, und schon umfing mich irgendwelche schwachen, beinahe kalten Hände ... Ich drehte den Kopf und fand mich in den langen, nassen Haaren einer ortsansässigen Wassernixe ...

„Kränke unsere Glückselige nicht“ – sagte Großvater Popow ... und ich wußte sogleich, daß sie es war. Ich hörte, wie ihr Herz bebte, und mir wurde aus irgendeinem Grund ängstlich zumute. Sie nahm ihre Hände nicht fort, als ob sie erstarrt wäre, nur ihre feuchte Nase suchte etwas an meinem Hals hinter dem Ohr. Ein Kälteschauer lief mir den Rücken hinunter, und zwar so heftig, daß ich Herzstiche bekam.

- Wassernixe, laß mich los ... Laß mich los, - und ich streichelte ihre Hand, - laß mich los, ich verliere sonst noch den ... Ich könnte dein Vater sein.

- Ich brauche ja auch ein Vater ... Komm mit mir ...

- Nein, ich muß mit dem Floß fort ...

- Wir werden zusammen mit dem Floß fahren, ich habe auch unter Wasser ein Tal, in dem ich leben kann.

Und da zog ich die schwachen Hände kraftvoll auseinander; sie versuchte mich erneut zu umschlingen, aber ich sprang ins Wasser und riß sie ungeschickt mit mir. Als sie wieder an der Wasseroberfläche auftauchte, begann sie laut zu husten, wobei sie den Mund mit den Hanflächen zusammenpreßte. Ich hielt sie über Wasser, versuchte sie auf den Stein zu setzen, aber sie umschlang unerwartet heftig meinen Hals und bedeckte meine Nase und meinen Mund mit dem geschmeidig klingenden Schlag des Herzens in ihrer Brust. Ich versuchte dieses verzaubernde, straffe Gesicht beiseite zu schieben, aber ein ganz unvermittelt aus den schwarzen Wolken herabfallender Blitz durchbohrte sie dermaßen, daß ich schon keine Kraft mehr besaß, sie von mir fortzuschieben. Eine mir gänzlich unbekannte Schwäche begann mich auf den Grund des Sees fortzutragen.

- Wo bist du, Kapitän? Irgendwo steckengeblieben? - ertönte die fröhliche Stimme von Förster Pjotr. Als Antwort hörte er das klangvolle Husten der Nixe.

- Ach du, nichtswürdiges Ding, ich nehme gleich den Gürtel ...

Die Nymphe tauchte unter, kroch, wie es mir schien, etwa fünf Meter von mir entfernt auf allen Vieren ans Ufer und verschwand.

Ich schwamm auf dem Rücken zum Badehaus hinüber und hörte lediglich das Rauschen des Wassers. Ja, ein Rauschen - das Ohr nimmt ein Rauschen wahr, wenn du auf dem Rücken schwimmst. Genauer gesagt: ein Rauschen mit modulierenden Tönen.

Und als der Mond den Abend festhält,
die himmelblaue Dunkelheit,
erhebt sich das zarte Rauschen
der Blätter über mir.

Irgendwelche Gedichte aus der Jugendzeit, die unerwartet im Gedächtnis aufgeflammt waren, führten mich aus dem beinahe ausweglosen Zustand und meiner hilflosen Verfassung heraus.

Am Morgen, sobald der Nebel zu den Wipfeln der Zirbelkiefern aufgestiegen war, stießen wir das Floß vom Ufer ab, Großvater Popow verließ zum Heranrudern das Floßende, mit dem man anlegte, und bekreuzigte sich. Mit einzelnen leichten Bewegungen seiner Hände bekreuzigte er die gesamte am Ufer eingetroffene erwachsene Bevölkerung. Ich betrachtete sie, wobei ich mit den Handflächen das Gesicht bedeckte, aber ich sah auch den Uferhang, und zwischen den Büschen hob sich rötlich die Nixe ab; ihr Gesicht war nicht zu sehen – ich sah nur ihre langen, dunklen Haare, den schlanken Hals und die entblößte Brust im breiten Ausschnitt eines Kleides, das von einer fremden Schulter stammte (das irgendjemand ihr gegeben hatte; Anm.d.Übers.).

Bis zur Flußbiegung riß unsere Verbindung mit dem Ufer und der sich entfernenden Gruppe der Einwohner von Tosbuluk nicht ab. Irgendetwas veranlaßte mich, mitunter zum rechten, hochgelegenen Ufer emporzusehen, zu dem Berghang mit dem reinen Kiefernwäldchen. Und es zeigte sich, daß hinter den Baumstämmen die gestrige Wassernymphe vorüberhuschte – fast himmelblau. Es mag auch sein, daß ich sie unbedingt hellblau sehen wollte, und meinem Wunschbild entsprechend huschte sie vorüber, als ob sie vom Berghang in den durchsichtigen Schatten des Morgens hineinschwamm.

Hiermit wäre meine Erzählung auch zuende gewesen, aber die realen Fakten, an die sich das ganze Thema hält, zwingen Sie, wenigstens noch bis zum nächsten Absatz weiterzulesen – als wir aus der Welt des Vergangenen, des bewahrten reinen Glaubens, zurückkehrten in die Welt des siegreichen Sozialismus, in die Ortschaft Toora-Chem, wo sich die tuwinischen Viehzüchter und Jäger bereits zehn Jahre lang an die Sowjetmacht gewöhnen.

Ergreifend war das Treffen in O-Chem, wo man uns zur Begrüßung einen Eimer kuhwarmer Milch brachte. Wir fotografierten die Familien und kleinen Kinder, schrieben uns die Vor- und Familiennamen auf und baten schließlich darum, uns ein Boot zu verkaufen. Aber ein derartiges Boot, bei dem man am Heck einen Motor einbauen konnte, gab es nicht. Wir wurden nachdenklich. Aus der Not half uns ein Junge von etwa zwölf Jahren.

- Wenn ihr rudert, dann könnt ihr mit diesem Boot bis nach Saldam fahren; dort gebt ihr es bei Onkel Sena ab, und schon wird er euch ein Boot aussuchen, wie ihr es benötigt. Er besitzt ein zweites Haus, das an dem Weg liegt, der aus dem Wald führt.

In Toora-Chem kamen wir am frühen Morgen an, als die verschlafenen Hähne gerade erst ihre krächzenden Kehlen weich machten. Die Hunde verhielten sich ruhig. Vom Ufer bis zur Wetterstation, wo wir ein vorübergehendes Basislager hatten, trugen wir die Rucksäcke und unsere Bündel mit den Schlafsäcken durch die morgendliche Menschenleere, als ob diese sich von uns durch die geflochtenen Stakettenzäune der kleinen Gemüsegärten abgesondert hätte. Unser unerwartetes Auftauchen an der Wetterstation beunruhigte die Leiterin sehr, wenngleich diese sowohl angekleidet als auch gekämmt war. Sie saß in einem winzigen Kontor und blätterte Zeitschriften durch. Als sie uns sah, erwiderte sie leise unseren Gruß und fing ganz unvermittelt an zu weinen.

- Man hat uns gesagt, daß ihr ertrunken seid. Oh Gott, was sollen wir jetzt bloß tun?

- Was passiert ist – nun, ertrunken sind wir nicht; wir sind ohne Vorankündigung gekommen, aber wozu denn Tränen vergießen?

- Mein nichtsnutziger Saschka hat euren Motor für einen Liter Schnaps verkauft, und gestern Abend hat er in Saldam erfahren, daß ihr in Tosbuluk gesehen worden seid; da hat er seine Flinte genommen und ist in den Wald gerannt.

- Also ist der Motor hier!

- Das heißt, er hat irgendwelche Motorteile verkauft. Geht so schnell wie möglich zur saldamowsker Waldwirtschaft; die Teile sind bei den dortigen Leuten. Geht, sonst fahren sie gleich zur Heumahd, und dort werdet ihr sie nicht finden.

Der Besitzer des Motors, Wanja Kusnezow wurde erst rot, lief dann weißlich-violett an und schlug mit der Faust an den Türpfosten.

- Und wir sind nicht ertrunken! Das ist sie – die Liebe zum Nächsten. Ach, du verfluchter Asiat, du ungewaschener Lump! Kapitän, was sollen wir tun? Ergreif irgendwelche Maßnahmen.

Saschka – Chakasse, ein Mensch, der infolge der nationalen Schwäche zu diesem Getränk dem Wodka verfallen ist, verkauft für eine Flasche Wodka nicht nur den Motor. So dass eigentlich eher jene Leute daran schuld sind, dass er zu dieser Gemeinheit getrieben wurde.

Nachdem die Hauswirtin sich die Tränen abgewischt hatte, ging sie fort, um die Kuh zu melken. Wir berieten uns und kamen dann zu dem Entschluß, vorläufig weder zur Miliz noch zum Kreis-Komitee zu gehen. Zur Mittagszeit wird Alexander ins Kreis-Komitee gehen; er trägt immer sein Parteibuch am Herzen. Ich werde mit Wanja zur Miliz gehen, aber danach werden wir uns mit den Leuten aus der Waldwirtschaft treffen, die bei der Heumahd arbeiten. Wir haben nicht gefrühstückt. Die Diebe könnten den Weg kontrollieren und die Fortschwimmenden warnen.

Unsere bewaffneten Jungs, bereit zum Handeln, näherten sich von beiden Seiten dem zur Abfahrt fertigen Boot, wo der Mechaniker Schelupow am Motor herumhantierte und zwei andere sich bereits auf Säcken niedergelassen hatten. Einer der Sitzenden griff nach seinem Gewehr, aber Alexander schrie ihn fürchterlich an.

- Hände hoch, ihr dreckiges Diebsgesindel! Pawel, Slawa, taucht den Motoristen ins Wasser, aber schlagt ihn nicht, nehmt bloß den Motor weg.

- Ihr habt nicht das Recht dazu, wir haben die Teile an der meteorologischen Station von Saschka dem Chakassen, dem Ehemann der Leiterin, gekauft. Man hat uns gesagt, daß ihr ertrunken seid – irgendjemand hätte sowieso eure Sachen genommen ...

- Schluß jetzt mit dem Baden! Nehmt alle Teile mit unseren Nummern. Und eure nehmt in Anwesenheit der Miliz mit ...

So berichteten mir die Jungs vom Treffen mit den Männern, die sich zur Heumahd zusammengefunden hatten. Den aussortierten Teilen hinterherzulaufen, mit denen unser Motor ausgerüstet worden war, darauf verzichteten die Mitarbeiter der Waldwirtschaft, sie eilten zur Heuernte.

Nach dem Frühstück begaben sich Iwan und ich zur Miliz und Alexander zum Kreis-Komitee, mit einem Bericht über die Beseitigung des unerwartet entstandenen Konfliktes. Mich persönlich interessierte die Reaktion dieser geschätzten Behörden auf das Verhalten ihrer Schäfchen: wie sich herausstellte, waren sowohl Saschka der Chakasse als auch der Mechaniker der Waldwirtschaft Mitglieder der Partei. Der Leiter der Miliz bat uns, eine ausführliche Erklärung zu schreiben.

- Also wenn Leutnant Darschaa-ool Olsej Monguschewitsch aus Asas herkommt, dann wird er die Kameraden zu sich kommen lassen, sich mit ihnen unterhalten, und Sie halten bitte für den Zeitpunkt die Zeugen bereit. Das ist eine schwierige Angelegenheit ...

Wir schrieben keine Erklärung, sondern sagten, daß wir dies selber auf unsere althergebrachte großväterliche Weise in Ordnung bringen wollten. So ginge es schneller und es würde auch mehr dabei herauskommen.

- Veranstaltet keine Eigenmächtigkeiten; ihr werdet selbst dafür die Verantwortung tragen.

- Wir verantworten das. Und ihr lebt ruhig weiter – sollen eure Leute doch wie ehedem stehlen ... Und wir hätten doch schließlich wirklich mit diesen unbrauchbaren Teilen im Motor ertrinken können – und eure Diebe hätten sich dafür nicht verantwortlich erklärt ...

Alexander kam verärgert aus dem Kreis-Komitee zurück. Man hatte seine Information über den Konflikt zwischen der Künstlergruppe und der örtlichen Bevölkerung mit Interesse angehört, sogar eine Zeitlang mitfühlend gelacht, und hatten dann höflich nach unseren Kontakten zu den Altgläubigen gefragt. Sie versuchten herauszubekommen, was für eine propagandistische Arbeit sie unter den Ortsbewohnern leisten, wie dort die Stimmung ist – was jeder so denkt und was in Tuwa über die Sowjetmacht gesagt wird. Es stellt sich heraus, daß man im Kreis-Komitee nicht die geringsten Informationen über das Leben der Altgläubigen besitzt, die elendig in den tiefsten Winkeln der Taiga hausen. Und den Konflikt mit den Ortsansässigen baten sie nicht aufzubauschen. Sie sagten, es sollte keine große Sache daraus gemacht werden. Das ganze sei ein grundloser und ganz unsinniger Vorfall.

Unser Boot brach am folgenden Morgen aus dieser Welt auf, sobald der Nebel über dem Fluß aufgestiegen war. Wir hatten zwei Kanister mit Benzin dabei, welches vom Mechaniker der Waldwirtschaft konfisziert worden war. Ob diese Männer sich bei der Miliz beschweren würden oder nicht, das interessierte uns schon gar nicht mehr. Uns stand noch bevor, mitten in den Bergen, in den engen Tälern, den dort hindurchfließenden Fluß Bij-Chem zu passieren, mit seinen stürmischen Stromschnellen, seinen Labyrinthen von Seitenarmen und Inseln in den Steppengebieten, durch die unsere Route uns führte – alles in allem etwa 400 Kilometer bis zur tuwinischen Hauptstadt Kysyl.

ZU EHREN DES KÜNSTLERS GURKIN

Die Bilder Gurkins „Nomadenlager in den Bergen des Altai“ und „See der Berggeister“ wurden Anfang der 1930er Jahre in der Sibirischen Enzyklopädie in Farbe nachgedruckt. Ich war zu der Zeit ein malender Jüngling; das, was damals verwunderte und die Gemüter erregte, berührt mich auch heute noch, und ich werde warm und taue förmerlich auf, wenn ich mich an jene nicht sehr fröhlichen Jahre erinnere.

Der Ruhm Gurkins schwebte in jenen Kreisen, als ich das Lesen und Schreiben begriffen hatte und die Ähren der eigenständigen, urwüchsigen sibirischen Kultur sammelte. In jenem Band der Enzyklopädie befanden sich ein kleines graphisches Porträt sowie Informationen über den Künstler. Erwähnt wurden seine bedeutendsten Bilder „Chan Altai“, „Die Krone des Katun“, „Der See der Berggeister“, und es wurde ferner gesagt, daß er von der altaischen Völkerschaft der Tschoros abstammte und Schüler des russischen Künstlers Schischkin war. Er hielt nichts von der Oktober-Revolution, verband sein Schicksal mit der nationalistischen Oberschicht des Altai und stand als einer der lese- und rechtschreibkundigen Menschen dieser Region an der Spitze der Berg-Duma. Mit der Waffe in den Händen kämpfte er gegen die Sowjets.

Ferner hieß es, daß er zusammen mit den zerschlagen Truppen von Ataman Bakitsch in die Mongolei zurückgewichen war. Nachdem er seine Überzeugung für die Aktivitäten dieser Vereinigung verloren hatte, streifte Gurkin allein durch die Siedlungen und Dörfer der Mongolei und Tuwas und bat um die Erlaubnis in die Heimat zurückkehren zu dürfen. Er unterrichtet an den Schulen von Ulala und Anos Malen und Zeichnen.

Ferner gab es Bilder – Bestellungen des Ministeriums für Kultur über Variationen seiner bedeutendsten Leinwandarbeiten für die Regierungskabinetts.

Es kam das Jahr 1937, und Gurkin verschwand. Seine Bilder blieben. In den Veröffentlichungen über sein Leben und Werk wird sehr wenig über seine Reisen

gesagt, und über die letzten Jahre sprach man höchstens hinter vorgehaltener Hand: er verschwand 1937 ...

Im Krasnojarsker Kunstmuseum befindet sich die Original-Fassung des Bildes „Der See der Berggeister“, die den Anlaß zu der gleichnamigen Erzählung des Romantikers und Fantasten Iwan Jefremow gab. Zu diesem Bild gehe ich an erfolglosen Tagen und wenn ich sehr müde bin. Es wirkt auf mich wie die Natur der Berge, wie Berglieder, wie die grenzenlose Taiga – es gibt Kraft. Im Laufe der Jahre bin ich verschiedentlich den Bildern Gurkins in Irkutsk, Nowosibirsk, Barnaul und Tomsk begegnet.

Ich geriet mit Leuten zusammen, die ihn gekannt hatten – mit den Künstlern A. Chmylew und N. Grigorjew studierte ich zu unterschiedlichen Zeiten an der Omsker Wrubel-Fachschule für Kunst und in Moskau auf den „Volkskunst“-Seminaren. Die Erzählungen über ihren Lehrer waren sehr verschiedenartig, ebenso wie diese Menschen selbst.

Leider verließ ich mich auf meim Erinnerungsvermögen und machte mir keinerlei Notizen. Vielleicht sind es nicht gerade die wichtigsten Einzelheiten, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind und aus denen ich meine Gestalt Gurkins zusammengesetzt habe. Ich hatte auch noch keine Gelegenheit, nach Gorno-Altaisk zu kommen, wo seine herrlichen Skizzen verwahrt werden, und die Erde des Altai selbst birgt seine Spuren in sich.

Aber meine Reisestrecken kreuzten sich mit seinen Wegen sowohl in Tuwa als auch in Krasnojarsk. Davon handelt die folgende Erzählung.

Irgendwie im Sommer, es war wohl das Jahr 1949, arbeitete ich in Tuwa mit einem interessanten Künstler und fröhlichen Menschen, Wasilij Fadejewitsch Demin, zusammen. Einmal bestellten uns die Mitarbeiter des Museums zur Identifizierung, beziehungsweise zur Erstellung von Expertisen von kleineren Malereien, freien Varianten bekannter Gurkinscher Bilder, die in den Städten Sibiriens zwischen 1912 und 1916 auf Ausstellungen gezeigt worden waren. Sie zierten die Wände der Jurten und Gotteshäuser von Kysyl-Choraj, verräuchert und glanzlos geworden – und man beschloß, sie ins Museum hinüberzubringen; vielleicht stammten sie ja tatsächlich aus der Hand von Gurkin. Es wird gesagt, daß hier zu Beginn der 1920er Jahre ein hochgewachsener Derwisch mit den Gesichtszügen eines sibirischen Bergbewohners herumlief, der für eine Tasse Öl und eine Schale Trockenquark Ölbilder malte.

Diese Gurkinschen Landschaften waren auf kleine Stücke gut grundierter Leinwand gemalt, mit haltbaren, dauerhaften Ölfarben; als Verdünnungsmittel nahm er wahrscheinlich Kerosin, denn die tiefe Glanzlosigkeit verminderte die Farbausstrahlung der interessanten Farbmischungen ganz erheblich.

Möglicherweise malte er, abgesehen von diesen erzwungenen Bestellungen, auch echte Studien und Skizzen, die er nicht verkaufte, aber vielleicht ließen ihm die militärischen Feldzüge in diesen Gegenden auch nicht die Kraft für schöpferische Arbeiten. Ich wollte zu den Eigentümern dieser Arbeiten gehen, aber ich kam nicht gleich dazu, und später habe ich es immer wieder aufgeschoben.

In jenem Museum zeigte W.Demin seine Arbeiten, die er hier in den Jahren seiner ausgedehnten Dienstreisen geschaffen hatte. Unter anderem gab es da auch ein Porträt S.K. Kotschetows – dem Kommandeur der Ukrainischen Roten Armee, der 1941, zusammen mit der tuwinischen Kavallerie, an den Kämpfen bei Moskau teilgenommen hatte ...

- Wir können hingehen, sagte Demin, - ein interessanter Mensch; 1919 hat er Gurkin als Kriegsgefangenen genommen und ihn, ohne zu wissen, daß er ein bedeutender Künstler war, laufen lassen ... Gehen wir, er wird sich freuen. Er wohnt in der Straße, die seinen Namen trägt ... Vielleicht ist er ja damit einverstanden, daß wir von ihm eine Skizze machen.

Demin rief bei Kotschetow an. Er sagte, daß er und ein sehr bekannter Künstler bei ihm um Empfang ersuchen würden – ein Preisträger gewisser Prämien, usw. An die Deminschen Scherze hatten seine Bekannten sich schon gewöhnt, aber uns, seine Freunde, brachte er manchmal in peinliche Situationen.

Zur vereinbarten Stunde klopften wir an die Tür des bescheidenen Hauses aus Holzbalken, in dem der Held des Bürgerkrieges, Invalide des Großen Vaterländischen Krieges und Pensionär wohnte. Mitunter empfängt er ähnlich neugierige Gäste wie wir es sind, ab und zu geht er aber auch selbst los und trifft sich mit Schülern.

Die Hauswirtin öffnete uns die Tür und sagte, daß der Hausherr zum Gebietskomitee der Partei gegangen sei. Vielleicht läßt sich am Büfett Cognac auftreiben, der darauf warten, daß irgendwelche bedeutsamen Leute herkommen.

- Na ja, bedeutsame sind wir nicht, aber trotzdem! Aber daraus wurde nichts, es war kein Cognac da – sagte Kusmitsch mißmutig. Wir hatten tatsächlich alles mitgebracht, nur Cognac war nicht aufzutreiben gewesen, aber ... trotzdem! – und Wasilij Fadejewitsch stellte eine Flasche mit lateinischen Buchstaben auf den Tisch.

Sergej Kusmitsch kam fröhlich herein. Für einen solchen Fall hatte man ihm zwei Flaschen Cognac und ein Kilogramm Apfelsinen gegeben, die zu jener Zeit äußerst selten waren.

Der Hausherr beklagte sich über sein Beschäftigtsein, aufgrunddessen er unmöglich alles über seine Begegnungen mit dem Künstler Gurkin erzählen oder wenigstens seine Erinnerungen aufschreiben könnte.

- Ich war jung und wußte nichts von Künstlern, und überhaupt, woher sollte ich das denn auch wissen – die Kriege rissen meine Jugend mit sich fort. Mit 19 Jahren befehligte ich die tuwinische Rote Armee. Lacht nicht – das war eine, wenn auch nicht große, so doch echte Armee, die hauptsächlich aus Reitern bestand. Es gab auch eine Kompagnie mit Maschinengewehren, eine Aufklärungseinheit, eine für besondere Einsatzzwecke, eine sog. „silberne“ Kompagnie – ortsansässige Partisanen, die sich uns freiwillig angeschlossen hatten. Das waren ehemalige Soldaten des japanischen und deutschen ...

Bakitsch wich mit seinen übriggebliebenen, damals starken Verbindungen aus der Mongolei zurück und kam durch die Berge von Tannu-Ola, auf dem Fluß Elegest, zu uns ins Ukrainische Gebiet. Und da, als wir wir aus den Bergen heraustraten und das Dorf Atamanowka sahen, beschlossen wir, ihm zu begegnen. Es war Frühling. Auf dem Elegest, obwohl es kein großer Fluß ist, hatte sich ein gefährlicher Eisstau gebildet, der mit plötzlichen Wasseranstiegen verbunden war. Wir vermuteten, daß Bakitsch beim Verlassen der Bergregion ans rechte Flußufer übersetzen würde, denn dort würde es leichter sein, über die Steppen-Hügeln nach Kysyl-Choraj zu gehen. Die örtlichen Truppen fürchtete er nicht, und alle, einschließlich seines Aufklärungstrupps, wußten, daß wir im Norden in kleinere Kämpfe mit den Usinsker Kosaken verwickelt waren, welche Koltschak unterstützten. Nach dem nächtlichen Marsch setzten wir uns gruppenweise unweit des Flußes hinter einer Purpurweide entlang des rechten Ufers nieder.

Wie wir uns später überzeugten und was die Gefangenen auch bestätigten, hatte Bakitsch in seinem Plan die schnelle Überquerung des Flußes berücksichtigt, sobald seine Truppen sich in der Ebene fanden, dort, wo der Elegest in einem einzigen Flußbett dahinfließt. Bakitschs Berater wußten, daß der Fluß weiter stromabwärts, in dem dichten Weidengestrüpp, in eine Vielzahl von Nebenarmen auseinanderfließt, die in einen Sumpf übergehen und für die Reiterei und die Artillerie Bakitschs undurchdringlich sind.

An der Stelle, wo der Weg vom Dorf durch den Fluß Elegest in Richtung Kysyl-Choraja führt, waren noch Brücken aus Eis vorhanden – sie sahen zwar ziemlich unbequem aus, waren aber durchaus passierbar und auf jeden Fall für den Hinübertransport der Artillerie geeignet. Hier fingen sie auch an. Wir sahen das und warteten, bis sie die Kanonen herüberziehen. Die Wagenzüge und Reservegeschosse interessierten uns nicht. Die Infanterie begann das Übersetzen in kleinen Gruppen auf zwei Flößchen. Von allen Abschnitten dieses Vorgangs kamen Nachrichten. Unterdessen ruhte sich die Reiterei in der Ferne aus. Die Kommandeure der Kompagnien waren rechtzeitig benachrichtigt worden, daß der Angriff aus allen Richtungen aus dem Hinterhalt erfolgen muß, wenn der Transport der Bakitschschen Wagenzüge beginnt und die Infanteristen sich umkleiden und nach dem kalten Bad ihre Unterwäsche wechseln. Aber es kam so, daß die „silberne“ Kompagnie mit der Attacke ohne allgemeinen Befehl begann.

Jetzt, dreißig Jahre nach jenen Ereignissen, erinnerte sich Sergej Kusmitsch und erzählte von seinem unüberlegten Versprechen.

- Ich sah keinen Nutzen in den alten Dorfbewohnern innerhalb der regulären Armee. Nach der Vernichtung Bakitschs versprach ich ihnen, sie zu entlassen – sollten sie doch ihr Vieh hüten und säen, aber Banden verfolgen – das war Sache unsere jungen Leute. Und so beschlossen die Alten auch sich zu beweisen.

Und dann waren wir ganz unerwartet erfolgreich. Der Angriff von der Dorfseite und den dicht wuchernden Pappeln her zog die Aufmerksamkeit aller auf sich, sowohl derer, die sich noch auf dem Eis befanden, als auch derer, die den Fluß bereits überquert hatten. Auch die Artillerie Bakitschs begann sich umzuformieren, bereit, auf die vom linken Ufer aus Angreifenden zu feuern. Da erhoben auch wir uns und gingenmit einem solchen Eifer los, daß den Kosaken Bakitschs nichts weiter übrigblieb, als sich mit erhobenen Händen auf den Boden zu setzen. Die Wagenzüge, denen es nicht mehr gelungen war überzusetzen, sowie die Reitertruppen Bakitschs wichen schnell in die Schlucht des Elegest zurück. Um sie zu verfolgen, dazu reichten unsere Kräfte schon nicht mehr. Dies war der friedlichste von mir durchgeführte Kampf – ohne jegliche Verluste. Wir nahmen alle siebzehn Kanonen mit, ferner den gesamten Zubehör – die Wagenzüge sowie die Reservegeschosse.

Die kriegsgefangenen Kosaken machten sich über uns lustig:

- Warum habz ihr euch denn die Wagenzüge durch die Lappen gehen lassen, dort in Bakitschs Harem – mehr als hundert Schönheiten aus ganz Asien hat er bei sich.

Wir sahen, wie sich unsere Gegner freuten, erschöpfte russische Menschen, - für sie war der Krieg zuende und ihr verhaßter General hatte sich im Stich gelassen. An den Leiterwagen, an dem ich die Meldungen entgegennahm, trat eine Gruppe Offiziere aus Bakitschs Stab heran, keine jungen Leute und sehr erschöpft. Der ältere von ihnen gab eine blanke Waffe ab und machte salutierend klar und deutlich Meldung:

- Der Stabsleiter General Schemetow ...

Ich stand auf, salutierte und sagte, kaum meine eigene Stimme wiedererkennend:

- General Schemetow, ich ernenne Sie zum Stabsleiter der Ukrainischen Roten Armee. Jungs, gebt dem General den Säbel.

Ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als ich sah, wie sein Schnurrbart erbebte und wie der alte Soldat zitterte und sein Schluchzen unterdrückte.

Dann kam ein hochgewachsener älterer Offizier auf mich zu, der einen strengen Gesichtsausdruck hatte und wie ein Chakasse aussah. Schulterstücke besaß er keine. Er bat darum, ihm ärztliche Hilfe zu erwiesen, sofern dies möglich sei. Ich sagte, daß man ihn zusammen mit den Verwundeten in das Dorf Ust-Elegest schicken würde – dort wäre unser Hospital. Es verhielt sich so, daß der Name Georgij Iwanowitsch Gurkin mir damals überhaupt nichts sagte. Nach seinen Papieren zählte er zu den Ratgebern im Stabe Bakitschs für nationale Fragen. Seine Waffen gab er nicht bei mir ab, vielleicht besaß er ja auch keine. Ich ließ ihn gehen. Jetzt erinnere mich daran, daß sein Gesicht nicht von dieser Welt zu sein schien, sondern eher ähnlich dem eines Lama oder eines Schamanen.

Die Geschehnisse jener Tage und Jahre sind Ihnen aus Veröffentlichungen bekannt. Ich verstand damals selber nicht, was wir weiter tun sollten. Unsere National-Regierung hatte entschieden, uns nicht hinter die Grenzen Tuwas zu schicken. Ich wußte damals nicht, daß Minusinsk von den Truppen Krawtschenko-Schtschetinkins eingenommen und die Armee Kappels vernichtet worden war, und daß die Truppen der Fünften Armee sich Irkutsk näherten. Ich wußte, daß der von Lenin und Trotzkij gestürzte russische Zar irgendwann Tuwa unter seine Finger genommen hatte, aber die tuwinische Regierung beschloß mit dem Fortgang des Zaren, sich nach dem Beispiel Rußlands, Volksrepublik zu nennen. Danach geschah alles Mögliche. Wir hatten auch unser Jahr 1923 und das Jahr 1937 mit ähnlichen Ereignissen wie eure sowjetischen. 1941 ging ich mit dem tuwinischen Kavallerie-Regiment als Freiwilliger an die Front. Tuwa gehörte damals noch nicht zum Bestand der UdSSR. Bei Moskau attackierten wir zusammen mit Bjelows Reiterarmee die deutschen Panzer und wurden geschlagen. Panzer sind Panzer, und unsere Kühnheit hatte hier das Nachsehen ... Bis heute kann ich nicht das Lied „Unsere Reserve ist stark und unsere Panzer schnell“ hören.

Sergej Kusmitsch schob mit einiger Mühe sein verstümmeltes Bein zurecht, setzte sich etwas bequemer hin und massierte seine geschwollene Hand.

- Los Jungs, schenkt ein und trinkt, solange ihr noch die Freude und Begeisterung fühlt von dem berauschenden ... Wenn die jungen Leute wüßten ...

Wir tranken sowohl auf Kotschetow und Gurkin, als auch auf unser ständig kriegführendes Vaterland, die russischen Knöchelchen, die verstreut im Sand der Mongolei, den Bergkuppen der Mandschurei, den Feldern Polens und der Tundra Lapplands lagen.

Ich konnte mir Sergej Kusmitsch überhaupt nicht als Kommandeur der Tuwinischen Roten Armee vorstellen. Auf Fotos sah man ihn als großen Jungen mit einer hohen, weißen Pelzmütze, noch ganz ohne Bart und Adlerblick. Auch konnte ich mir den Herrscher über die Schönheit und Erhabenheit der Berge des Altaj nicht vorstellen, des angsterfüllten und nachdenklichen Kunstmalers – dem fliegenden Kunstreiter in der Armee Bakitschs, der die Menschen in den Steppen-Auls der Mongolei und West-Chinas in Angst und Schrecken versetzte.

Aus den Erzählungen Sergej Kusmitschs erkannte ich einen enttäuschten und kranken Gurkin, in einer abgetragenen Uniform, der sich mit Mühe über die staubigen Wege der tuwinischen Steppen schleppte, um mit Genehmigung des Deputiertenrates und der OGPU durch das Sajan-Gebirge, Minusinsk und Krasnojarsk auf Umwegen in seine Heimat, die Altai-Region zurückzukehren.

Eine Variante des Bildes „Chan Altaj“ befindet sich im Kunstmuseum von Barnaul.

Es wurde in den dreißiger Jahren gemalt und läßt sich nicht verleichen mit dem „Chan Altaj“, das im Tomsker Museum hängt – einem mächtigen Kunstwerk, das mit dem stolzen Geist, der ausströmenden Kraft und der Weisheit seines Urhebers angefüllt ist.

Leider kann man sehen und erkennen, daß die langjährige Trennung von seiner künstlerischen Neigung und Praxis in einem nicht wieder gut zu machenden Verlust zum Ausdruck kamen – sie töten in ihm den Künstler. Ein solches Schicksal wurde dem großen Sohn des kleinen altaischen Tschoros-Volkes, Georgij Iwanowitsch Gurkin, zuteil.

Zu Beginn der 1960er Jahre betrat ein ältlicher Künstler und Kunstliebhaber namens Uschakow mein Atelier in der Mira-Straße in Krasnojarsk. Ich hatte seine Arbeiten auf einer Ausstellung gesehen und bei der Beurteilung sogar einige nette Worte an die Adresse ihres Urhebers gerichtet. Dieses flüchtige Ereignis machte seinen Besuch zu etwas Natürlichem – ein Künstler schaute zu einem Künstler herein. Aber Uschakow holte weit aus mit einer, wie es schien, unnötigen Erklärung.

- Sie wissen natürlich nicht, daß ich, bevor ich in Rente gegangen bin, als Gefängnisleiter tätig war, ich bin auch dem militärischen Dienstgrad nach ein Oberst der Truppen des MWD.

- Nein, das hätte ich nicht erraten. Verzeihen Sie, es hat mich nicht interessiert – die Tätigkeit eines Künstlers scheint für Sie geeigneter zu sein. Sie steht Ihnen besser zu Gesicht.

- Ich weiß, - fuhr er fort. – Sie sind auch mit Karatanow befreundet, haben ihm geholfen – das verschafft Ihnen Ehre ... Ich habe Ihr Büchlein über ihn gesehen ... Es bedeutet, daß Sie die Traditionen und die Geschichte unserer Kunst hoch einschätzen. Ich möchte Ihnen etwas sagen, das Ihnen vielleicht zustatten kommt: das war vor Beginn des Krieges. Damals war ich natürlich nicht Leiter des Gefängnisses, führte aber die Akten vieler interessanter Leute, in denen wir Volksfeinde suchten und sehen wollten. Jetzt haben wir eine andere Vorstellung, wir haben vieles begriffen, und vieles ist uns wie Schuppen von den Augen gefallen ...

- Ich bitte um Verzeihung, ich werde die Tür schließen ...

- Ich besaß die Möglichkeit, den Menschen , die mir sympathisch waren, ein wenig Gutes zu tun ... Lange Zeit befand sich bei uns der Künstler Gurkin, er starb im Frühjahr 1940 den Hungertod. Er war ein stolzer Mann, lehnte es ab. meine übriggebliebene Suppe zu essen, und eine neue Schüssel konnte ich ihm nicht füllen; ich hatte Angst, und es war auch nichts mehr da ...

- Wie konnten Sie all das so viele Jahre aushalten, Genosse Oberst? Sie haben doch, wie kein anderer, gesehen, daß sich das Schicksal vieler guter Menschen vor Ihren Augen vollendete, von Ihnen wurden die Leute zur Erschießung fortgebracht, und Sie wußten, daß Sie unschuldig waren.

- Das ist eine schwierige Frage ... Ich verehre Sie, deswegen bin ich gekommen.

- Sagen Sie, sind denn die Dokumente jener Jahre aufbewahrt worden, oder haben Sie den Befehl erhalten, Sie zu vernichten?

Ich bin nicht bereit zu antworten, vieles weiß ich einfach nicht. Ich blieb im Besitze vieler ungestellter Fragen, auf die ich niemals eine Antwort erhalten werden.

Warum hat keiner der krasnojarsker Künstler mir jemals etwas über das Schicksal Gurkins erzählt? Sie verheimlichten nicht, daß Wachtschakin, Petrakow, Andrejew, Sakowrjaschin 1937 verhaftet wurden und nicht wiederkamen. Im Jahre 1940 waren hier die der Verhaftung entgangenen Karatanow, Lekarenko und Waldman. Schließlich war Iwan Iwanowitsch Naliwajko hier, versah seinen Dienst beim NKWD und wurde erst 1943 Vorsitzender der Künstler-Vereinigung. Er dürfte wohl gewußt haben, welches Schicksal Gurkin widerfuhr.

Einmal, es war im Westen Tuwas, in Kysyl-Maschalyk, schaute der leningrader Archäologe Karalkin in mein Zelt herein. Er hatte, wie er sagte, eine Begegnung mit mir gesucht; aufgrund irgendeines Hinweises war er davon überzeugt, daß ich Gurkin persönlich gekannt hatte. Und so hatte er sich Hoffnungen gemacht, irgendetwas Neues über dessen Streifzüge durch die Mongolei und Tuwa zu erfahren. Aber ich konnte ihm auch nur das erzählen, was ich von Kotschetkow gehört hatte. An ihn verwies ich nun auch Karalkin. Wie er und Sergej Kusmitsch sich in Kysyl getroffen hatten, ob es ihm gelang, irgendetwas Neues zu erfahren, das Kotschetkow vielleicht vergessen hatte mir zu sagen - darüber habe ich nichts erfahren.

Nach einem Jahr erhielt ich von Pjotr Iwanowitsch Karalkin einen Brief aus Leningrad. Er bedauerte, daß sich für sein Thema weder Zeitschriften noch Verlage interessierten, und klagte über seine schlechte Gesundheit. Er bat mich ihm zu schreiben, falls ich etwas Neues in Erfahrung gebracht hatte. Ich informierte ihn über meine Begegnung mit dem ehemaligen Gefängnisleiter, riet ihm jedoch, eine offizielle Anfrage über einen Verlag an die Archive des NKWD der Region Krasnojarsk zu richten – vielleicht würden sie sich dann auch äußern, falls dort Dokumente aufbewahrt wurden. Danach schrieb Pjotr Iwanowitsch mir nicht mehr.

Es kam so, daß ich Zeuge einer Unterhaltung wurde, bei der sich mir buchstäblich das Herz vor lauter Peinlichkeit und Kränkungen zusammenkrampfte – ich sah die Verwirrung und Feigheit einer Amtsperson, die sich beim Hören des Namens Gurkin äußerst merkwürdig verhielt.

Um von dieser schmachvollen Szene, die sich im Büro des Sekretärs der Künstler-Vereinigung der Krasnojarsker Region zugetragen hatte, zu erzählen, muß ich einen kleinen Abstecher in unsere jüngste Geschichte unternehmen, als nämlich einem Dorfbewohner, einem Kolchosarbeiter der Ausweis weggenommen wurde, damit er nicht zum Arbeiten in die Fabrik in der Stadt fahren konnte. Und in der Kolchose gaben sie ihm kein Geld für ein neues Hemd oder Wodka. Und außerdem noch stand dem Kolchosarbeiter im hohen Alter keine Rente zu, ebenso wie uns, den Künstlern.

Einmal geschah es, daß in der Bauarbeiter-Siedlung des Krasnojarsker GES eine alte Kolchosbäuerin aus dem Altai-Gebiet auftauchte, die Tochter des Künstlers Gurkin. Nicht um beim Bau des Wasserkraftwerkes mitzuhelfen, sondern um ihrer Tochter beim Versorgen der Kinder zur Hand zu gehen, wofür sie noch genügend Kraft besaß – dazu war sie vom Fluß Katun an den Jenissej gekommen. Hier in der Arbeiter-Siedlung herrschte eine andere Ordnung als in der Kolchose, und man schlug ihr, der ältlichen Kolchosbäuerin, vor, Dokumente zusammenzusuchen, mit der sie die rechtskräftige Auszahlung einer Rente erwirken konnte.

Die mitleidigen Beamten der Diwnogorsker Abteilung für die sozialen Belange der Bevölkerung rieten der ehemaligen Kolchosarbeiterin zur Künstler-Vereinigung nach Krasnojarsk zu fahren und um eine amtliche Bescheinigung zu bitten, daß ihr Vater ein hervorragender russischer Künstler gewesen war. Vielleicht könnte ihr eine solche Bescheinigung bei der Erledigung ihrer Rentenangelegenheiten irgendwie helfen. Ausnahmsweise.

Der Vorsitzende der Vereinigung und seine nächsten Helfershelfer, zum Ausgehen gekleidet, hörte sich ungeduldig die Erklärungen der alten Frau an und wechselten Blicke miteinander.

- Die Tochter Gurkins also? – fragte der Vorsitzende noch einmal nach, wobei er einen traurigen Blick aufsetzte.

-Ja, die Tochter von Georgij Iwanowitsch. Michail Iwanowitsch Kalinin hat noch 1936 bei ihm Bilder für Moskau bestellt ...

Wir kennen Gurkin nicht, er war bei uns nicht registriert, so daß wir in keiner Weise behilflich sein können.

- Was? Sie kennen Gurkin nicht? – fragte die Frau unter Tränen. – Sie sind doch selber Künstler.

- Verzeihen Sie, aber wir haben es eilig, wir müssen zum Empfang, - und, unmißverständlich auf seine Uhr weisend, entfernte sich der Vorsitzende samt seinem Gefolge.

Kaum war ich von dieser meiner Meinung nach äußerst abscheulichen und gemeinen Unterhaltung wieder zur Besinnung gekommen, da schlug ich Gurkins Tochter vor, sich ein wenig zu setzen und einen Moment zu warten. Ich fragte die Sekretärin, die sich verstohlen die ganz unfreiwillig fließenden Tränen abwischte:

- Kann ich von Ihnen ein Blankoformular des Künstler-Verbandes klauen?

- Nehmen Sie nur, sie sind hier im Schrank ...

- Können Sie meine Unterschrift als Mitglied der Vereinigung beglaubigen?

Ja, das kann ich.

Nach wenigen Minuten steckte die verlegene Bittstellerin die von mir geschriebene Zeugenaussage in die Tasche, bedankte und verabschiedete sich.

Der Inhalt dieser Aussage lautete etwa so: G.I. Gurkin war ein bedeutender russischer und sowjetischer Maler. Seine Malereien eröffneten der Welt herrliche Bilder von der Natur des Altai-Gebirges, und sie besitzen eine große erzieherische Bedeutung für den sowjetischen Betrachter. Der Künstler Gurkin wurde im Jahre 1937 Opfer von Repressionen. Dies wurde der Tochter Gurkins zur Vorlage bei der Diwnogorsker Sozialfürsorge als Zeugenaussage mitgegeben.

Ich vermag nich zu sagen, ob dieses Dokument anerkannt wurde, aber meine Unterschrift wurde durch einen großen Stempel der Künstler-Vereinigung beglaubigt. Die Sekretärin wurde auf eigenen Wunsch entlassen und wechselte in die Buchhaltung des Künstler-Fonds über.

Der altaiische Gurkin-Forscher und Doktor der kunsthistorischen Wissenschaften Wladimir Edokow schrieb zwei Bücher über das Leben und Werk seines großartigen Landsmannes. Sie sind illustriert mit Fotografien und sehr schlechten Farbreproduktionen, die den Farbcharakter der Originale des Altai-Künstlers ganz verfälscht darstellen.

Die heutige Poligraphie ermöglicht es, diese Verhältnisse zu korrigieren. Wie schön wäre es, wenn irgendeiner der Aktieninhaber oder Präsidenten der zeitgenössischen poligraphischen Kombinate sich als Liebhaber des Schönen erweisen und es als sein Lebensprogramm ansehen würde, der Welt die vorhanden Kostbarkeiten unserer sibirischen Museen zu zeigen, darunter auch die überwältigenden, großartigen Bilder Gurkins.

Die Erinnerung an den Künstler, die Wahrheit über sein Leben, der wirkliche Wert seines Werkes müssen durch seine Bilder selbst zur Welt sprechen, und nicht durch voreingenommene Bewertungen und feige Aussagen seiner Zeitgenossen, jener, die nicht immer mit nachahmenswerten und gerechten Mitteln um „ihren Platz“ in der Welt der Kunst kämpften.

„Tag und Nacht“, Ausgabe 4-5, 1998


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