Das Lernen in der ersten Klasse empfand ich als schrecklich langweilig. Lesen
hatte ich schon lange vor Beginn der Schulzeit gelernt, und zur Darstellung der
Buchstaben im Schönschreib-Unterricht fehlte mir die Geduld – die Buchstaben
fielen allesamt krumm und schief aus. Vor den Sommerferien händigte die Lehrerin
mir ein sauberes Schönschreibheft aus und meinte, dass ich es während der
Sommerzeit für Schönschrift-Übungen benutzen sollte, und dass sie mich nur dann
in die zweite Klasse versetzen würde.
Der Sommer 1941 war warm, die Sonne schien, so dass ich den ganzen Tag über nach
draußen verschwand. Mit den Nachbarskindern spielte ich, laut lärmend, Krieg,
wir unternahmen Ausflüge zur Flieger-Fachschule, wo wir in den
Flugzeug-Werkstätten Maschinenteile von echten Flugzeugen fanden, rannten zum
alten Friedhof hinüber, machten dort wunderschöne Gedenksteine ausfindig und
versuchten die uralten Inschriften zu entziffern.
Manchmal erhielt ich die Erlaubnis, zur Tagesvorstellung ins Kino zu gehen. Zum
Kinotheater, welches sich im Stadtzentrum befand, gelangte ich mit dem
städtischen Autobus und fuhr dabei stets früher als nötig los, um mir noch vor
der Vorführung die im Foyer ausgehängten Fotografien anzuschauen, die ständig
ausgetauscht wurden, und die dort ausliegenden Zeitungen durchzublättern. Es
ertönte das erste Klingelzeichen, und die Kinderschar rannte in den Kinosaal.
Nach dem dritten Klingelton erlosch das Licht, und dann geschah ein Wunder – auf
der riesigen Leinwand erschien ein grauer Hintergrund mit weißen Funken, dann
ein zitternder Text, Menschen; der Film hatte begonnen! Und ich konnte nicht
aufhören mich zu wundern – wie war es möglich, dass sich auf der Leinwand alles
bewegte, aber auf dem Filmband, dessen abgerissenen Stückchen wir gefunden
hatte, alle Bilder völlig unbeweglich waren.
Damals gab es nur wenige Filme, aber sie gefielen uns alle sehr. Jedes Mal, wenn
wir uns wieder einen angeschaut hatten, diskutierten wir hinterher eifrig
darüber, und während wir einzelne Episoden daraus noch einmal lautstark
nacherzählten, fielen wir uns gegenseitig immer wieder ins Wort.
Mitunter fuhr ich nicht sofort wieder nach Hause, sondern begab mich vorher noch
an die Wolga, an den städtischen Strand (was man mir strengstens verboten
hatte). Mit dem Bus fuhr ich bis zur Anlegestelle für die Frachtschiffe; der
Strand lag nicht weit davon entfernt.
Am Frachtschiff-Anleger hielt ich mich immer eine Zeit lang auf – hier spielte
sich ein interessantes eigenes Leben ab. Überall roch es nach Fisch und Teer,
neben dem Anleger und entlang des Ufers standen schwarze Lastkähne mit braunem
Verdeck, am Ufer lagerten stapelweise Säcke, Holzfässer, Kisten und irgendwelche
Frachtgüter. Die Anlegestelle war mit dem Ufer durch eine breite Brücke
verbunden.
Die Lastkähne, die am Anleger festgemacht hatten, wurden abgeladen, und über die
Brücke liefen in beide Richtungen Ladearbeiter mit Gestellen (zweigriffigen
Tragen) auf dem Rücken. Die Lastenträger schleppten, halb gekrümmt, Säcke,
Ziegelsteine und irgendwelche Packen und Ballen ans Ufer, zwei von ihnen rollten
ein hölzernes Fass über die Brücke. Nachdem sie ihre Last abgeworfen hatten,
kehrten die Träger sogleich im Laufschritt wieder zum Lastschiff zurück und
luden sich erneut Frachtgut auf den Rücken, um es zum Ufer zu bringen.
Als ich mich an diesem Bild hinreichend sattgesehen hatte, ging ich, dem Verlauf
des Ufers folgend, zur Bootsüberfahrtsstelle. Dort stieg ich in ein großes Boot,
in dem bereits Passagiere saßen, und Onkelchen Bootsmann brachte uns mit
rythmisch quietschenden Ruderdollen über den Flussarm der Wolga zu der Insel,
auf der sich der städtische Strand befand.
Nachdem ich eine Weile im seichten Wasser geplanscht und im warmen, flachen Sand
gelegen hatte, kehrte ich mit demselben Boot ans Ufer zurück, ging zur
Autobus-Haltestelle und fuhr nach Hause.
Von diesen, meinen Unternehmungen wussten die Eltern natürlich nichts, aber Mama
gab mir immer das Geld für die Fahrten – in Form von Taschengeld.
Zudem mochte ich gern Bücher lesen, die ich mir aus der Schulbibliothek holte.
Anfangs gaben sie mir nur dünne Büchlein mit, die meinem Alter entsprachen. Ich
las sie während meines Heimwegs und kehrte auf halbem Wege um, um mir ein neues
zu besorgen. Sie glaubten mir nicht, stellten Fragen über den Inhalt des Buches.
Danach erlaubten sie mir, dickere Bücher mitzunehmen, und dann saß ich
stundenlang da, um sie durchzulesen.
Die Ferien waren herrlich, aber wenn ich zwischendurch an das Schönschreibheft
dachte, in dem immer noch kein einziger Buchstabe stand, dann war meine gute
Laune verdorben.
Für die Eltern war diese keine leichte Zeit. Noch frisch war die Erinnerung an
die Repressionen der 1930er Jahre, als mehrere Bekannte meiner Eltern ins
Gefängnis gesteckt wurden. Außer an leise Gespräche über das Thema, kann ich
mich aus der Zeit noch daran erinnern, dass die erschreckten Eltern, die zudem
nicht gut Russisch lesen und schreiben konnten, zur Demonstration ihrer
Loyalität den „Kurz-Lehrgang der Geschichte der WKP (B)“ kauften (den später nur
ich ein wenig durchblätterte), und anstelle eines Teppichs hängten sie über mein
Bett ein Plakat mit den Portraits der Mitglieder des Politbüros. Die strengen
Gesichter dieses „Politbüros“ prägten sich für lange Zeit in meinem kindlichen
Gedächtnis ein…
Gerade erst war der nicht sehr glanzvolle finnische Krieg zu Ende gegangen. In
der Stadt standen die Leute in Schlangen nach Brot an, es gab Unregelmäßigkeiten
bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Irgendwo in Europa führte Deutschland
Krieg, in dem es Faschisten gab – Feinde der Sowjetunion (das wusste ich aus den
Kinozeitschriften und von politischen Karikaturen).
Aufgrund all dieser Umstände ging es Zuhause unruhig zu. Die Eltern waren
besonders über das Kriegsgeschehen in Europa besorgt – wenn die Faschisten der
Sowjetunion den Krieg erklären würden, dann würden sie die Sowjet-Deutschen
erneut verhaften, wie das bereits im Jahre 1937 der Fall gewesen war.
Nachdem irgendeiner ihm eine Zeitschrift gezeigt hatte, in der eine Foto-Reportage
über die Ankunft eines deutschen Ministers in Moskau erschienen war, meinte der
Vater erleichtert:
- Na also! Es wird keinen Krieg mit Deutschland geben!
Aber er sollte sich, wie viele andere auch, gewaltig irren – der Krieg brach aus.
Am ersten Kriegstage wurde im Radio eine Rede ans Volk übertragen, es gab
alarmierende Informationen über Bombenangriffe, ständig erklangen
Kriegsmärsche und lauter Gesang. Auch ich durchschaute den Hass auf den über uns
herfallenden Feind und schrieb mit der riesigen Handschrift eines Erstklässlers
eine Art patriotisches Gedicht.
An unserem Stadtrand änderte sich wenig. Nur gelegentlich gab es Probe-Fliegeralarm,
man lehrte uns, wie man Gasmasken benutzt, und die Lehrgangsteilnehmer an der
Fliegerschule wurden aus irgendeinem Grund durch junge Matrosen ersetzt. Und in
den langen Schlangen der nach Brot Anstehenden fingen sie an, sich die Nummern
der Wartenden mit einem Kopierstift in die Handflächen zu schreiben.
In diesen Tagen beendeten die Eltern den Bau unseres Hauses. Zwei Jahre zuvor
waren wir dort eingezogen, als es noch gar nicht fertig war, und die ganze Zeit
war daran weiter gebaut worden (der Vater machte vieles selbst). Die Eltern
hatten eine ärmliche Kindheit in Waisenhäusern hinter sich; sie hatten kein
leichtes Leben gehabt und die letzten Jahre von nichts anderem, als von ihrem
eigenen Haus geträumt.
Das Haus war nicht groß, sah aber gefällig aus. Es stand auf einem sockelartigen,
steinernen Fundament, und die Außenseiten der Wände waren mit dünnen Brettern
bedeckt. Geschmückt war es durch ein rotes Ziegeldach und helle Fensterläden.
Vervollständigt wurde das Bild durch die geschnitzten Holztore, auf die der
Vater ganz besonders stolz war.
Auf der Leiter stehend war der Vater gerade dabei die Malerarbeiten an den
Fensterläden zu beenden, als die Mutter mit der Zeitung in der Hand angerannt
kam, um ihm laut den Ukas über die Aussiedlung der Deutschen aus der
Wolgarepublik vorzulesen.
Nachdem er Mama bis zu Ende zugehört hatte, stieg der Vater langsam von der
Leiter. Derart niedergeschlagen hatte ich ihn noch nie gesehen.
Am folgenden Tag setzte eine für mich vollkommen unverständliche Geschäftigkeit
ein.
Die Nachbarn trugen das gesamte an sie verschenkte Geschirr, Möbel und diverse
andere Sachen aus dem Haus. Jemand führte die Kuh Milka mit den großen Hörnern
vom Hof, ein anderer, zerrte, laut mit der Kette klirrend, den widerstrebenden
Polkan, unseren großen weißen Hund, hinter sich her.
Gegen Abend kam ein hagerer, erschöpft wirkender Mann in halbmilitärischer
Uniform zu uns auf den Hof, registrierte uns und teilte uns mit, wann am
morgigen Tag die Verladung auf den Zug stattfinden sollte. Irgendwie schrieb er
auch das hin, was wir sagten. Vor lauter Aufregung sprach der Vater mit einem
noch stärkeren Akzent als sonst, so dass der Mann unseren Familiennamen falsch
notierte (Jahre später stand ich in einem endlos langen Briefwechsel mit dem
MWD-Archiv der Stadt Saratow, das beharrlich immer wieder dieselbe Antwort an
mich schickte: niemand habe unsere Familie aus der Stadt Engels vertrieben.
Während dieser Unterhaltung schaute eine beleibte Frau aus dem zum Hof
hinauszeigenden Fenster, die bereits in unser Haus eingezogen war. In odessiter
Mundart schrie sie laut:
- Schreiben Sie da auch hin, dass sie uns nicht all ihre Möbel hierlassen wollen!
Der müde dreinblickende Mann blickte sie schweigend an und wandte sich dann ab.
Am nächsten Tag wurden wir auf den Zug verladen, der aus leeren Güterwaggons
bestand. Viele Menschen waren dort, aber die Verladung erfolgte in
organisierter Weise und mit deutscher Sachlichkeit. In einem solcher „Kälber“-Waggons
ließen wir und noch ein paar andere Familien uns nieder. Trotz des Verbots
hatten die Eltern eine große Truhe voller Kleidung mitgenommen. Der Vater hatte
seine Zigeunergitarre in dem schwarzen Etui dabei, und Mama hatte zu meiner
größten Freude auch unser Schoßhündchen Tscharlik eingepackt.
Endlich war die Verladung auf die Waggons beendet; ein paar Soldaten zählten uns
anhand der Listen durch, und dann setzte sich der Zug in Bewegung.
Und damit begann unsere lange Fahrt nach Sibirien.
Auf Umwegen brachten sie uns dorthin, über Mittel-Asien. Die ersten Tage flog
die trockene Herbststeppe nur so an uns vorüber, dann tauchten Landstriche mit
sandiger Einöde auf, am Horizont zeigten sich blaue Berge mit weißen Mützchen,
man sah das Grün der Gärten und all die Felder mit den uns unbekannten Pflanzen.
Dadurch, dass wir ständig entgegenkommende Züge passieren lassen mussten,
blieben wir häufig auf Abstellgleisen stehen. Bei kürzeren Zughalten durften wir
den Zug nicht verlassen – die Wache, deren Waggon direkt an unseren angekuppelt
war, achtete strengstens darauf. Manchmal blieb der Zug jedoch sehr lange stehen.
Dann wurde er von Soldaten umstellt, und alle Leute strömten ins Freie. Sie
verschafften sich ein wenig Bewegung, traten zu Grüppchen zusammen, fragten
einander nach Neuigkeiten, aber was im Lande und an der Front geschah, das
vermochte niemand zu sagen. Die Familie setzte sich kreisförmig auf den Boden,
und wenn zufällig ein wenig Brennmaterial vorhanden war (trockene Stängel vom
Männertreu, ein altes Brett, Holzspäne), dann entfachten sie ein Lagerfeuer und
kochten sich eine warme Mahlzeit.
Durch das Sitzen in den stickigen Waggons kamen die Kinder auf die Idee hin- und
herzurennen; neugierig betrachteten sie die Soldaten mit ihren Gewehren, Usbeken
mit dunklen Gesichtern, die in unmittelbarer Nähe mit ihren Eseln und Kamelen
umherstreiften.
Händler boten Äpfel, Honig- und Wassermelonen neben dem Zug feil. Auf einem der
Abstellgleise kaufte der Vater einen halben Sack voll Äpfel. Später bewirteten
wir die sibirischen Kinder damit, die Äpfel nur von Bildern kannten.
Alle waren von der langen Fahrt in den Güterwagen erschöpft. Es war heiß,
ständig gab es irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Essen, mit dem Wasser. Die
Erwachsen hatten natürlich besonders viele Probleme, die ich heute im Nachhinein
nur erraten kann. Aber für mich war das alles ein interessantes Abenteuer, und
den stärksten Eindruck hinterließen bei mir die hohen Berge mit den weißen
Gipfeln und die sonnenverbrannten, fast schwarzen, Usbeken in ihren bunten
Kitteln.
Auf einer der Ausweichschienen brachten Männer aus unserem Waggon Bretter herbei
und fertigten daraus Pritschen. Tscharlik und ich kamen fast nie davon
heruntergeklettert, so dass wir den Erwachsenen mit unserem Herumtoben nicht zur
Last fielen. Im Waggon waren auch noch andere Kinder, aber es kam, ausgerechnet
meinetwegen, zu einer unangenehmen Geschichte.
Unmittelbar vor unserer Abreise hatte der Nachbarsjunge mir zwei vollständig
geladene Jagdpatronen geschenkt. Je eine davon steckte ich in die beiden
Brusttaschen meines Hemdes, verschloss sie mit den Knöpfen und lief so die ganze
Zeit mit den Patronen herum.
Papa entdeckte sie erst am zweiten Tag unserer Fahrt, als er mir an einem der
kleinen Bahnhöfe beim Aussteigen half.
- Was hast du denn da?! – fragte er.
Ohne etwas zu sagen nahm ich die beiden Patronen heraus, und er entfernte sich
mit ihnen in aller Eile ein paar Meter. In dem Bemühen nicht entdeckt zu werden,
vergrub er die Patronen in der Erde. Heute kann ich mir vorstellen, was für eine
schreckliche Angst er gehabt haben muss – die Patronen waren nämlich verkapselt
und hätten durch einen einzigen Schlag in meiner Jackentasche explodieren können.
Zudem herrschte Krieg, und wenn man sie entdeckt hätte, wäre es nicht
auszudenken gewesen, wie es dann mit uns geendet hätte.
Als wir durch Sibirien fuhren, wurde die Fahrt langweiliger – der Zug war Tag
und Nacht in Bewegung, wenn er hielt, dann immer nur für kurze Zeit.
Gegen Ende der zweiten Woche begann der Zug kürzer zu werden – auf einigen
Ausweichschienen und kleineren Bahnstationen wurden jeweils ein oder zwei
Waggons abgekuppelt. Die Menschen aus den Waggons wurden anschließend in die
nahen und etwas weiter entfernt gelegenen Dörfer fortgebracht.
Am Morgen bemerkten wir, dass unser Waggon auf dem Abstellgleis irgendeines
Bahnhofs stand und der Zug bereits weitergefahren war. Später erfuhren wir, dass
wir uns in der Region Krasnojarsk befanden, und unser Waggon an der
Eisenbahnstation Bogotol stand.
Die Menschen strömten aus dem Waggon, blickten sich besorgt um; alle hatten
große Furcht vor der Ungewissheit. Selbst die Kinder verhielten sich ganz still.
Da erinnerte ich mich an mein Schönschreibheft, in das ich nun nichts mehr
hineinschreiben brauchte.
- Hier wird schon kein Mensch mehr danach fragen, - dachte ich erleichtert.