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Robert Riedel. Einschränkungen

1. Das Schönschreibheft

Das Lernen in der ersten Klasse empfand ich als schrecklich langweilig. Lesen hatte ich schon lange vor Beginn der Schulzeit gelernt, und zur Darstellung der Buchstaben im Schönschreib-Unterricht fehlte mir die Geduld – die Buchstaben fielen allesamt krumm und schief aus. Vor den Sommerferien händigte die Lehrerin mir ein sauberes Schönschreibheft aus und meinte, dass ich es während der Sommerzeit für Schönschrift-Übungen benutzen sollte, und dass sie mich nur dann in die zweite Klasse versetzen würde.
 
Der Sommer 1941 war warm, die Sonne schien, so dass ich den ganzen Tag über nach draußen verschwand. Mit den Nachbarskindern spielte ich, laut lärmend, Krieg, wir unternahmen Ausflüge zur Flieger-Fachschule, wo wir in den Flugzeug-Werkstätten Maschinenteile von echten Flugzeugen fanden, rannten zum alten Friedhof hinüber, machten dort wunderschöne Gedenksteine ausfindig und versuchten die uralten Inschriften zu entziffern.
 
Manchmal erhielt ich die Erlaubnis, zur Tagesvorstellung ins Kino zu gehen. Zum Kinotheater, welches sich im Stadtzentrum befand, gelangte ich mit dem städtischen Autobus und fuhr dabei stets früher als nötig los, um mir noch vor der Vorführung die im Foyer ausgehängten Fotografien anzuschauen, die ständig ausgetauscht wurden, und die dort ausliegenden Zeitungen durchzublättern. Es ertönte das erste Klingelzeichen, und die Kinderschar rannte in den Kinosaal. Nach dem dritten Klingelton erlosch das Licht, und dann geschah ein Wunder – auf der riesigen Leinwand erschien ein grauer Hintergrund mit weißen Funken, dann ein zitternder Text, Menschen; der Film hatte begonnen! Und ich konnte nicht aufhören mich zu wundern – wie war es möglich, dass sich auf der Leinwand alles bewegte, aber auf dem Filmband, dessen abgerissenen Stückchen wir gefunden hatte, alle Bilder völlig unbeweglich waren.
 
Damals gab es nur wenige Filme, aber sie gefielen uns alle sehr. Jedes Mal, wenn wir uns wieder einen angeschaut hatten, diskutierten wir hinterher eifrig darüber, und während wir einzelne Episoden daraus noch einmal lautstark nacherzählten, fielen wir uns gegenseitig immer wieder ins Wort.
 
Mitunter fuhr ich nicht sofort wieder nach Hause, sondern begab mich vorher noch an die Wolga, an den städtischen Strand (was man mir strengstens verboten hatte). Mit dem Bus fuhr ich bis zur Anlegestelle für die Frachtschiffe; der Strand lag nicht weit davon entfernt.
 
Am Frachtschiff-Anleger hielt ich mich immer eine Zeit lang auf – hier spielte sich ein interessantes eigenes Leben ab. Überall roch es nach Fisch und Teer, neben dem Anleger und entlang des Ufers standen schwarze Lastkähne mit braunem Verdeck, am Ufer lagerten stapelweise Säcke, Holzfässer, Kisten und irgendwelche Frachtgüter. Die Anlegestelle war mit dem Ufer durch eine breite Brücke verbunden.
 
Die Lastkähne, die am Anleger festgemacht hatten, wurden abgeladen, und über die Brücke liefen in beide Richtungen Ladearbeiter mit Gestellen (zweigriffigen Tragen) auf dem Rücken. Die Lastenträger schleppten, halb gekrümmt, Säcke, Ziegelsteine und irgendwelche Packen und Ballen ans Ufer, zwei von ihnen rollten ein hölzernes Fass über die Brücke. Nachdem sie ihre Last abgeworfen hatten, kehrten die Träger sogleich im Laufschritt wieder zum Lastschiff zurück und luden sich erneut Frachtgut auf den Rücken, um es zum Ufer zu bringen.
 
Als ich mich an diesem Bild hinreichend sattgesehen hatte, ging ich, dem Verlauf des Ufers folgend, zur Bootsüberfahrtsstelle. Dort stieg ich in ein großes Boot, in dem bereits Passagiere saßen, und Onkelchen Bootsmann brachte uns mit rythmisch quietschenden Ruderdollen über den Flussarm der Wolga zu der Insel, auf der sich der städtische Strand befand.
 
Nachdem ich eine Weile im seichten Wasser geplanscht und im warmen, flachen Sand gelegen  hatte, kehrte ich mit demselben Boot ans Ufer zurück, ging zur Autobus-Haltestelle und fuhr nach Hause.
 
Von diesen, meinen Unternehmungen wussten die Eltern natürlich nichts, aber Mama gab mir immer das Geld für die Fahrten – in Form von Taschengeld.
 
Zudem mochte ich gern Bücher lesen, die ich mir aus der Schulbibliothek holte. Anfangs gaben sie mir nur dünne Büchlein mit, die meinem Alter entsprachen. Ich las sie während meines Heimwegs und kehrte auf halbem Wege um, um mir ein neues zu besorgen. Sie glaubten mir nicht, stellten Fragen über den Inhalt des Buches. Danach erlaubten sie mir, dickere Bücher mitzunehmen, und dann saß ich stundenlang da, um sie durchzulesen.
 
Die Ferien waren herrlich, aber wenn ich zwischendurch an das Schönschreibheft dachte, in dem immer noch kein einziger Buchstabe stand, dann war meine gute Laune verdorben.
 
Für die Eltern war diese keine leichte Zeit. Noch frisch war die Erinnerung an die Repressionen der 1930er Jahre, als mehrere Bekannte meiner Eltern ins  Gefängnis gesteckt wurden. Außer an leise Gespräche über das Thema, kann ich mich aus der Zeit noch daran erinnern, dass die erschreckten Eltern, die zudem nicht gut Russisch lesen und schreiben konnten, zur Demonstration ihrer Loyalität den „Kurz-Lehrgang der Geschichte der WKP (B)“ kauften (den später nur ich ein wenig durchblätterte), und anstelle eines Teppichs hängten sie über mein Bett ein Plakat mit den Portraits der Mitglieder des Politbüros. Die strengen Gesichter dieses „Politbüros“ prägten sich für lange Zeit in meinem kindlichen Gedächtnis ein…
 
Gerade erst war der nicht sehr glanzvolle finnische Krieg zu Ende gegangen. In der Stadt standen die Leute in Schlangen nach Brot an, es gab Unregelmäßigkeiten bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Irgendwo in Europa führte Deutschland Krieg, in dem es Faschisten gab – Feinde der Sowjetunion (das wusste ich aus den Kinozeitschriften und von politischen Karikaturen).
 
Aufgrund all dieser Umstände ging es Zuhause unruhig zu. Die Eltern waren besonders über das Kriegsgeschehen in Europa besorgt – wenn die Faschisten der Sowjetunion den Krieg erklären würden, dann würden sie die Sowjet-Deutschen erneut verhaften, wie das bereits im Jahre 1937 der Fall gewesen war.
 
Nachdem irgendeiner ihm eine Zeitschrift gezeigt hatte, in der eine Foto-Reportage über die Ankunft eines deutschen Ministers in Moskau erschienen war, meinte der Vater erleichtert:
 
- Na also! Es wird keinen Krieg mit Deutschland geben!
 
Aber er sollte sich, wie viele andere auch, gewaltig irren – der Krieg brach aus.
 
Am ersten Kriegstage wurde im Radio eine Rede ans Volk übertragen, es gab alarmierende Informationen über  Bombenangriffe, ständig erklangen Kriegsmärsche und lauter Gesang. Auch ich durchschaute den Hass auf den über uns herfallenden Feind und schrieb mit der riesigen Handschrift eines Erstklässlers eine Art patriotisches Gedicht.
 
An unserem Stadtrand änderte sich wenig. Nur gelegentlich gab es Probe-Fliegeralarm, man lehrte uns, wie man Gasmasken benutzt, und die Lehrgangsteilnehmer an der Fliegerschule wurden aus irgendeinem Grund durch junge Matrosen ersetzt. Und in den langen Schlangen der nach Brot Anstehenden fingen sie an, sich die Nummern der Wartenden mit einem Kopierstift in die Handflächen zu schreiben.
 
In diesen Tagen beendeten die Eltern den Bau unseres Hauses. Zwei Jahre zuvor waren wir dort eingezogen, als es noch gar nicht fertig war, und die ganze Zeit war daran weiter gebaut worden (der Vater machte vieles selbst). Die Eltern hatten eine ärmliche Kindheit in Waisenhäusern hinter sich; sie hatten kein leichtes Leben gehabt und die letzten Jahre von nichts anderem, als von ihrem eigenen Haus geträumt.
 
Das Haus war nicht groß, sah aber gefällig aus. Es stand auf einem sockelartigen, steinernen Fundament, und die Außenseiten der Wände waren mit dünnen Brettern bedeckt. Geschmückt war es durch ein rotes Ziegeldach und helle Fensterläden. Vervollständigt wurde das Bild durch die geschnitzten Holztore, auf die der Vater ganz besonders stolz war.
 
Auf der Leiter stehend war der Vater gerade dabei die Malerarbeiten an den Fensterläden zu beenden, als die Mutter mit der Zeitung in der Hand angerannt kam, um ihm laut den Ukas über die Aussiedlung der Deutschen aus der Wolgarepublik vorzulesen.
 
Nachdem er Mama bis zu Ende zugehört hatte, stieg der Vater langsam von der Leiter. Derart niedergeschlagen hatte ich ihn noch nie gesehen.
 
Am folgenden Tag setzte eine für mich vollkommen unverständliche Geschäftigkeit ein.
 
Die Nachbarn trugen das gesamte an sie verschenkte Geschirr, Möbel und diverse andere Sachen aus dem Haus. Jemand führte die Kuh Milka mit den großen Hörnern vom Hof, ein anderer, zerrte, laut mit der Kette klirrend, den widerstrebenden Polkan, unseren großen weißen Hund, hinter sich her.
 
Gegen Abend kam ein hagerer, erschöpft wirkender Mann in halbmilitärischer Uniform zu uns auf den Hof, registrierte uns und teilte uns mit, wann am morgigen Tag die Verladung auf den Zug stattfinden sollte. Irgendwie schrieb er auch das hin, was wir sagten. Vor lauter Aufregung sprach der Vater mit einem noch stärkeren Akzent als sonst, so dass der Mann unseren Familiennamen falsch notierte (Jahre später stand ich in einem endlos langen Briefwechsel mit dem MWD-Archiv der Stadt Saratow, das beharrlich immer wieder dieselbe Antwort an mich schickte: niemand habe unsere Familie aus der Stadt Engels vertrieben.
 
Während dieser Unterhaltung schaute eine beleibte Frau aus dem zum Hof hinauszeigenden Fenster, die bereits in unser Haus eingezogen war. In odessiter Mundart schrie sie laut:
 
- Schreiben Sie da auch hin, dass sie uns nicht all ihre Möbel hierlassen wollen!
 
Der müde dreinblickende Mann blickte sie schweigend an und wandte sich dann ab.
 
Am nächsten Tag wurden wir auf den Zug verladen, der aus leeren Güterwaggons bestand. Viele Menschen waren dort, aber die Verladung erfolgte  in organisierter Weise und mit deutscher Sachlichkeit. In einem solcher „Kälber“-Waggons ließen wir und noch ein paar andere Familien uns nieder. Trotz des Verbots hatten die Eltern eine große Truhe voller Kleidung mitgenommen. Der Vater hatte seine Zigeunergitarre in dem schwarzen Etui dabei, und Mama hatte zu meiner größten Freude auch unser Schoßhündchen Tscharlik eingepackt.
 
Endlich war die Verladung auf die Waggons beendet; ein paar Soldaten zählten uns anhand der Listen durch, und dann setzte sich der Zug in Bewegung.
 
Und damit begann unsere lange Fahrt nach Sibirien.
 
Auf Umwegen brachten sie uns dorthin, über Mittel-Asien. Die ersten Tage flog die trockene Herbststeppe nur so an uns vorüber, dann tauchten Landstriche mit sandiger Einöde auf, am Horizont zeigten sich blaue Berge mit weißen Mützchen, man sah das Grün der Gärten und all die Felder mit den uns unbekannten Pflanzen.
 
Dadurch, dass wir ständig entgegenkommende Züge passieren lassen mussten, blieben wir häufig auf Abstellgleisen stehen. Bei kürzeren Zughalten durften wir den Zug nicht verlassen – die Wache, deren Waggon direkt an unseren angekuppelt war, achtete strengstens darauf. Manchmal blieb der Zug jedoch sehr lange stehen. Dann wurde er von Soldaten umstellt, und alle Leute strömten ins Freie. Sie verschafften sich ein wenig Bewegung, traten zu Grüppchen zusammen, fragten einander nach Neuigkeiten, aber was im Lande und an der Front geschah, das vermochte niemand zu sagen. Die Familie setzte sich kreisförmig auf den Boden, und wenn zufällig ein wenig Brennmaterial vorhanden war (trockene Stängel vom Männertreu, ein altes Brett, Holzspäne), dann entfachten sie ein Lagerfeuer und kochten sich eine warme Mahlzeit.
 
Durch das Sitzen in den stickigen Waggons kamen die Kinder auf die Idee hin- und herzurennen; neugierig betrachteten sie die Soldaten mit ihren Gewehren, Usbeken mit dunklen Gesichtern, die in unmittelbarer Nähe mit ihren Eseln und Kamelen umherstreiften.
 
Händler boten Äpfel, Honig- und Wassermelonen neben dem Zug feil. Auf einem der Abstellgleise kaufte der Vater einen halben Sack voll Äpfel. Später bewirteten wir die sibirischen Kinder damit, die Äpfel nur von Bildern kannten.
 
Alle waren von der langen Fahrt in den Güterwagen erschöpft. Es war heiß, ständig gab es irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Essen, mit dem Wasser. Die Erwachsen hatten natürlich besonders viele Probleme, die ich heute im Nachhinein nur erraten kann. Aber für mich war das alles ein interessantes Abenteuer, und den stärksten Eindruck hinterließen bei mir die hohen Berge mit den weißen Gipfeln und die sonnenverbrannten, fast schwarzen, Usbeken in ihren bunten Kitteln.
 
Auf einer der Ausweichschienen brachten Männer aus unserem Waggon Bretter herbei und fertigten daraus Pritschen. Tscharlik und ich kamen fast nie davon heruntergeklettert, so dass wir den Erwachsenen mit unserem Herumtoben nicht zur Last fielen. Im Waggon waren auch noch andere Kinder, aber es kam, ausgerechnet meinetwegen, zu einer unangenehmen Geschichte.
 
Unmittelbar vor unserer Abreise hatte der Nachbarsjunge mir zwei vollständig geladene Jagdpatronen geschenkt. Je eine davon steckte ich in die beiden Brusttaschen meines Hemdes, verschloss sie mit den Knöpfen und lief so die ganze Zeit mit den Patronen herum.
 
Papa entdeckte sie erst am zweiten Tag unserer Fahrt, als er mir an einem der kleinen Bahnhöfe beim Aussteigen half.
 
- Was hast du denn da?! – fragte er.
 
Ohne etwas zu sagen nahm ich die beiden Patronen heraus, und er entfernte sich mit ihnen in aller Eile ein paar Meter. In dem Bemühen nicht entdeckt zu werden, vergrub er die Patronen in der Erde. Heute kann ich mir vorstellen, was für eine schreckliche Angst er gehabt haben muss – die Patronen waren nämlich verkapselt und hätten durch einen einzigen Schlag in meiner Jackentasche explodieren können. Zudem herrschte Krieg, und wenn man sie entdeckt hätte, wäre es nicht auszudenken gewesen, wie es dann mit uns geendet hätte.
 
Als wir durch Sibirien fuhren, wurde die Fahrt langweiliger – der Zug war Tag und Nacht in Bewegung, wenn er hielt, dann immer nur für kurze Zeit.
 
Gegen Ende der zweiten Woche begann der Zug kürzer zu werden – auf einigen Ausweichschienen und kleineren Bahnstationen wurden jeweils ein oder zwei Waggons abgekuppelt. Die Menschen aus den Waggons wurden anschließend in die nahen und etwas weiter entfernt gelegenen Dörfer fortgebracht.
 
Am Morgen bemerkten wir, dass unser Waggon auf dem Abstellgleis irgendeines Bahnhofs stand und der Zug bereits weitergefahren war. Später erfuhren wir, dass wir uns in der Region Krasnojarsk befanden, und unser Waggon an der Eisenbahnstation Bogotol stand.
 
Die Menschen strömten aus dem Waggon, blickten sich besorgt um; alle hatten große Furcht vor der Ungewissheit. Selbst die Kinder verhielten sich ganz still.
 
Da erinnerte ich mich an mein Schönschreibheft, in das ich nun nichts mehr hineinschreiben brauchte.
 
- Hier wird schon kein Mensch mehr danach fragen, - dachte ich erleichtert. 


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