Die Bezirksstadt Tjuchtet war ein kleines sibirisches Städtchen, das eher einem weit ausgedehnten Dorf glich. Es war mit Holzhäusern und gewöhnlichen Hütten bebaut, und lediglich im Zentrum befanden sich einige aus Stein errichtete Gebäude – das Verwaltungsgebäude, die städtische Schule und die Internatsschule für taubstumme Kinder (die man hier „die Taubstummen-Schule“ nannte). Untergebracht war sie in einem düsteren, einstöckigen und von einem dichten Holzzaun umgebenen Haus. Die Jungs aus der Stadt machten einen großen Bogen um diese „Schule“, denn wenn man die Taubstummen beleidigte, dann stürzten sie sich wütend auf den Angreifer – und so war es besser, mit ihnen gar nicht erst in Berührung zu geraten.
Zum Herbst 1943 waren eine Menge nicht untergebrachter Kinder zusammengekommen, darunter auch solche, deren Mütter in die Trudarmee mobilisiert worden waren. Und um wenigstens einen Teil dieser Kinder unterzubringen, erteilten die Behörden die Erlaubnis, innerhalb der Taubstummen-Schule ein Kinderheim zu schaffen. Die Taubstummen wurden fortgebracht, und das Gebäude mitsamt dem Personal dem neu organisierten Kinderheim übergeben.
Anfang Oktober brachte Tante Schura mich ins Kinderheim. Die Direktorin, eine strenge, ältere Frau, betrachtete meine Papiere, fragte Tante Schura etwas und stellte anschließend auch mir einige Fragen. Dann kam eine Erzieherin, brachte mich in den Schlafraum und zeigte mir meine Bettstelle. So begann mein Leben im Kinderheim.
Noch auf dem Wege dorthin dachte ich – am wichtigsten ist, dass ich dort zur Schule gehen kann. Weniger beunruhigte mich die Frage, wie ich dort wohl leben würde, welche Bedingungen dort herrschten. Aber diese Bedingungen sollten sich schon sehr bald bemerkbar machen.
Vor allem hatten wir ständig Hunger. Trotz der schwierigen Kriegszeit wurde das Kinderheim mit Lebensmitteln versorgt. Aber ein guter Teil davon wurde allem Anschein nach gestohlen, denn die uns zustehenden Portionen, die auch so schon ziemlich bescheiden ausfielen, waren, bis sie uns vorgesetzt wurden, noch spärlicher geworden. Einmal bekamen wir zum Abendessen mit Butter angerichtete Makkaroni. Das war eine ungewöhnliche schmackhafte Mahlzeit, aber auf meinem Teller lagen einige, viel kürzere Makkaroni. An das heftige Hungergefühl, das ich nach dem Essen empfand, kann ich mich noch heute erinnern.
Im Winter war es in dem Gebäude kalt, besonders bei strengem Frost – es fehlte an Brennholz, obgleich es in der Umgebung Wald gab. Nachts musste man in seiner Oberbekleidung schlafen. Ich passte mich der Situation an, zog meinen Mantel über und drehte mich zum Schlafen auf den Bauch – mit angezogenen Knien, den Kopf mit einer Stoffdecke zugedeckt, unter der man warme Luft atmen konnte.
Aber das Schwierigste war, dass im Kinderheim eine drückende Atmosphäre herrschte, welche die Erzieherinnen, die es gewohnt waren mit Kindern mit körperlichen Defekten zu arbeiten, aus der ehemaligen Taubstummen-Schule mitgebracht hatten. Offenbar unterschieden wir uns sehr von diesen taubstummen Kindern, denn die stets gereizten und nervösen Erzieherinnen kamen mit der versammelten Kinderschar irgendwie überhaupt nicht zurecht. Im Kinderheim passierte ständig irgendetwas – irgendeiner der Jungs war unartig oder prügelte sich, ein anderer ging ohne Erlaubnis in die Stadt, häufig verschwanden auch Löffel, Handtücher, Bettlaken (das ließ sich auf dem benachbarten Markt verkaufen). Infolgedessen gab es Verhöre und Durchsuchungen in den Schlafräumen.
Ganz besonders fürchteten wir uns vor einem jungen, schwindsüchtig aussehenden Erzieher. Er rief uns einzeln in sein Kabinett und verhörte uns dort, während er mit einem Gummirohr spielte. Die Kinder berichteten, dass er einigen von ihnen damit schmerzhafte Schläge versetzt hätte.
Für irgendein Vergehen wurde oftmals nicht nur der Schuldige bestraft – es wurden auch Kollektivstrafen verhängt. Besonders häufig war dies mit unserer Lausbubengruppe der Fall – wir mussten stundenlang in Reih und Glied ausharren oder durften tagelang nicht nach draußen.
Jeden Abend ließ man uns zum Appell antreten, bei dem ganz sicher jedes Mal alle durchgezählt werden mussten und wir fast immer Zurechtweisungen und Tadel zu hören bekamen. Während solcher Rügen kam es vor, dass die Erzieherinnen plötzlich schwiegen und in der Taubstummensprache fortfuhren. Sie gestikulierten und „erörterten“ irgendetwas auf recht energische Weise. Nachdem sie sich in dieser tödlichen Stille beratschlagt hatten, verkündeten sie ihren Beschluss:
- Iwanow, vortreten! Aufgrund deines Verhaltens wird eure Gruppe morgen nicht nach draußen gehen! - Oder noch irgendetwas anderes in der Art.
Diese ganze bedrückende Situation hatte ihre Auswirkungen auf die Kinder. Mehrmals liefen einige von ihnen aus dem Kinderheim fort, aber bis zur Bahnstation, wohin sie im allgemeine strebten, waren es, wie ich bereits sagte, vierzig Kilometer, und die eingeleitete Verfolgung holte die Geflohenen jedes Mal ein.
Später musste ich eine Zeit lang an der Eisenbahn-Kindersammelstelle und in einem anderen Kinderheim bleiben, aber die Zeit, die ich in dieser „Taubstummen-Schule“ verbrachte (wie unser Kinderheim auch weiterhin genannt wurde), war für mich die schwerste.
Der Ort, an dem man wenigstens vorübergehend all dem entgehen konnte, war die städtische Schule. Wir lernten gemeinsam mit den Stadtkindern; sie hatten dort eine ganz gewöhnliche Lehrerin, deswegen fühlte ich mich in der Schule beinahe wie zuhause. Ich lernte mit Freude, und das Lernen viel mir auch leicht. Die Hausaufgaben erledigten wir alle gemeinsam, und ich, Schüler der dritten Klasse, löste häufig die Aufgaben der Fünftklässler.
Eine weitere Methode der Wirklichkeit zu entfliehen, war das Lesen von Büchern, die ich aus der Schulbibliothek mitnahm. Ich tauchte in eine ganz andere Welt ein, eine Welt der Abenteuer, eine Welt wunderbarer und kühner Menschen.
Im Frühjahr 1944 erhielt Tante Schura von ihrem Mann Christian Horst einen Aufruf (ohne einen derartigen Aufruf war es unmöglich mit der Eisenbahn zu fahren) zu ihm zu ziehen. Aber es war weit bis dorthin, bis in den Nord-Ural. Tante Schura beschloss, nicht allein mit dem kleinen Kind auf den Armen dorthin zu fahren. Sie kam ins Kinderheim und schlug mir vor, die Reise mit ihr zusammen anzutreten. Ich war natürlich einverstanden, denn das gab mir die Möglichkeit, dieser „Taubstummen-Schule“ zu entfliehen.