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Robert Riedel. Einschränkungen

9. Die Erzieherinnen im Kinderheim

Unsere Erzieherinnen arbeiteten unter sehr schwierigen Bedingungen, besonders in den ersten Jahren, in denen das Kinderheim existierte.

Bei uns waren Kinder mit ganz unterschiedlichen, oft auch regelrecht zerbrochenen Schicksalen, und alle nahmen einen unterschiedlichen Entwicklungsstand ein. Es gab ehemalige Straßenkinder, die das Leben „ganz unten“ kennengelernt hatten. Einige von ihnen waren noch nie zur Schule gegangen und konnten fast überhaupt nicht lesen und schreiben. Und dann waren da noch die Kinder aus intelligenten, zumeist repressierten Familien. Und mit jedem von ihnen musste man auf ganz unterschiedliche Art und Weise umgehen.

Man musste berücksichtigen, dass die Kinder immer hungrig waren und dass sie vor allem das interessierte, was in irgendeiner Form mit Essen in Zusammenhang gebracht werden konnte. Auch beim Lernen gab es Schwierigkeiten – im Kinderheim gab es viele Halbwüchsige, die überhaupt nicht den Wunsch hatten zu lernen, es gab nicht genügend Lehrbücher (sie waren zerfetzt und stammten noch aus der Zeit vor dem Krieg), es gab keine Schreibhefte; geschrieben wurde auf allen möglichen Blättern. Schlecht stand es auch um die Literatur – wir hatten keine eigene Bibliothek, und in der Schule fanden sich nur alte Vorkriegsbücher. Dem Kinderheim fehlte auch eine Turnhalle, und es war auch kein einziges Musikinstrument vorhanden.

Die ersten Erzieherinnen bei uns kamen aus dem ehemaligen „Bessheim“. Diese düster dreinblickenden Frauen wussten, dass man sie bald auswechseln würde, und deswegen saßen sie hier bei uns lediglich noch ihre Zeit ab. Sie hatten wenig Umgang mit uns; es war eher so, dass wir von ihnen Kommandos hörten, etwa:

- Aufstellen zum Mittagessen!

- Zum Abendappell in einer Reihe aufstellen!

- Nachtruhe – alle schlafen!

Und so weiter …

Einige Monate später wurden sie von neuen Erzieherinnen abgelöst, größtenteils jungen Frauen. Sie benahmen sich uns gegenüber ganz einfach und schlicht, und es kam uns deswegen fast so vor, als wären wir zuhause.

Damals kamen auch männliche Erzieher auf. Ehemalige Frontoffiziere, die mit uns nicht zimperlich umgingen, was uns Jungchen sehr gefiel.

Ende 1945 kam Wladimir Petrowitsch zu uns, ein junger, demobilisierter Offizier. Mit seiner gut gebauten Statur und dem kleinem Schnurrbärtchen eroberte uns der brünette Mann sogleich mit seinem militärischen Auftreten und seiner rastlosen Energie. Jede beliebige Aufgabe löste er mit seinem frontgeschulten Scharfsinn.

Unser Territorium musste mit einer Einzäunung versehen werden. Die Stangen dafür fertigten wir in der Waldparzelle an, die sich am Ufer des Flusses Put befand. Die Stangen herzustellen war nicht das Problem, aber wir hatten nichts, um sie heranzuschaffen. Wladimir Petrowitsch versammelte eine Gruppe älterer Kinder um sich und ging mit uns zur Parzelle, wo die vorbereiteten Stangen lagen. Aus diesen Stangen fügte jeder von uns mit Hilfe von Weidenruten ein schmales Floß zusammen. Diese Flöße ließen wir ins Wasser, dann entkleideten wir uns bis auf die Unterhosen, und jeder setzte sich auf sein Floß.

Indem wir uns mit den langen Stangen abstießen, schwammen wir so flussabwärts in Richtung Kinderheim. Wladimir Petrowitsch verfolgte die ganze Aktion vom Ufer aus, gab uns Hilfestellung und erteilte Kommandos.

Einige Flöße kippten um, aber die Kinder kletterten wieder hinauf und schwammen weiter. Bis zum Kinderheim hatten wir ein gutes Stück zu fahren, es waren einige Kilometer, und der Fluß war an einigen Stellen ziemlich tief, aber alles fand schließlich sein gutes Ende.

Für diese riskante Maßnahme bekam Wladimir Petrowitsch eine gehörige Standpauke vom pädagogischen Rat zu hören, aber wir waren begeistert.

Ein anderes gefährliches Abenteuer hing ebenfalls mit Wladimir Petrowitsch zusammen. Nach heftigen Regenfällen war eine der hölzernen Absperrungen auf dem Fluss Put davongeschwemmt worden. Sie hatte sich gegenüber unseres Gebäudes befunden und ich sah zufällig, wie sie fortgerissen wurde – das Wasser durchbrach ein Ende der Absperrung, und die ganze Konstruktion begann sich so zu drehen, als ob eine Tür geöffnet würde. Durch das stürmische, aufgepeitschte Wasser schossen Balken, auf denen sich teilweise Ratten aus der Mühle in Sicherheit gebracht hatten. Man konnte sehen, wie die sich ergießenden Wassermassen den Fluss Bisert anschwellen ließen, in den der Put mündete; nach einer Weile nahm die Strömung des Bisert ab. Dann wich das Wasser zurück, und ein Teil der fortgeschwemmten Stämme blieb am Ufer zurück. Einer der Balken verfing sich unweit des Kinderheims, und wie beschlossen, ihn uns als Brennholz für die Küche zu holen – und zwar schnellstens, weil ihn sich sonst womöglich andere schnappten. Transportmittel hatten wir natürlich nicht zur Verfügung, und so machte sich Wladimir Petrowitsch an die Lösung des Problems.

Er stellte uns der Größe nach zu beiden Seiten des Stammes auf, dessen Länge nicht weniger als fünf-sechs Meter betrug. Dann meinte er, dass jeder den Stamm von unten fassen sollte. Wir standen so eng beieinander, dass unsere Hände sich berührten. Auf sein Kommando hoben wir einmütig den Stamm hoch, legten ihn uns auf die Schultern und trugen ihn dann, wie die Ameisen, in Richtung Kinderheim davon. Wir mussten einen kleinen Schritt vor den anderen setzen, um nicht aus dem Gleichschritt zu kommen, und dazu sangen wir ein ausgelassenes Lied:

Aus dem Wald, aus dem dunklen,
Haben sie den Riesen gebracht.
Sie brachten ihn auf sieben Ochsen.
Er, der Arme, war in Ketten gelegt.

Und so weiter … In diesem Lied gab es auch ein paar gänzlich unanständige Wörter, aber die erschrockenen Erzieherinnen, die uns am Kinderheim in Empfang nahmen, beschlossen, unseren Gesang nicht zu unterbrechen, denn sie hatten Angst, dass wir aus dem Gleichschritt kommen könnten und der schwere Stamm uns zu Krüppeln machen könnte. Obwohl er für jeden einzelnen von uns gar nicht so schwer war; und außerdem waren wir nicht weniger als 35-40 Jungs, so dass auf jeden also nur ein kleiner Teil der Last entfiel. Aber wenn einer von uns hingefallen wäre, dann wäre unsere ganze Formation zum Einsturz gekommen, und dann hätte der Stamm uns tatsächlich Unglück bringen können. Aber alles ging gut aus – wir gelangten bis auf unseren Hof, hoben auf Kommando den Stamm von unseren Schultern in die Arme und ließen ihn dann gleichzeitig auf den Boden herab.

Für diese Geschichte erhielt Wladimir Petrowitsch erneut eine gehörige Standpauke, und für die Jungs wurde sie zu einer wahren Legende.

Er blieb insgesamt ein Jahr im Kinderheim – dann wurde es ihm mit all seiner Energie bei uns zu eng. Aber vielleicht war auch die Heimleitung seiner Aktivitäten überdrüssig geworden …

Unser anderer Erzieher, Wasilij Sidorowitsch Utkin, kam 1946 ins Kinderheim. Als Offizier der Artillerie hatte er den ganzen Krieg hindurch im Fernen Osten gedient. Als der Krieg gegen Japan begann, zersplitterte ihm beim Übersetzen über den Amur ein Geschoß den Kiefer. Er wurde lange behandelt und kam dann direkt aus dem Hospital zu uns, wo sie ihm nach und nach das Gesicht wieder zusammengeflickt hatten. Er mag um die vierzig Jahre alt gewesen sein, aber uns kam er ziemlich betagt vor.

Was für eine Ausbildung er genossen hatte, weiß ich nicht, aber er liebte Gedichte und verfasste sogar selber welche. Er zeigte mir ein Poem, das er noch zu Armeezeiten geschrieben hatte, in dem es über die Liebesabenteuer eines jungen Leutnants ging, wie er den eifersüchtigen Ehemann betrog, wie er, auf der Flucht vor diesem, aus dem zweiten Stockwerk gesprungen war usw. Das Poem war wohl autobiographisch, aber es machte keinerlei Eindruck auf mich.

Von ihm hörte ich zum ersten Mal Gedichte von Sergej Jesenin, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Wir beschafften im Wald Brennholz, und während der Pausen führte er mich hinter einen Baum und zeigte mir ein kleines Büchlein mit festem Einband:

- Das ist Sergej Jesenin, meinte er und blickte sich vorsichtig um. – Der ist verboten.

Hör mal zu.

Er öffnete das Büchlein:

Lebst du noch, meine Alte?
Ich lebe auch. Ich grüße dich!
Möge sich ausbreiten über deiner Hütte
Jenes unbeschreibliche Abendlicht.

- Was für Verse! – sagte er.

Er stammte aus hiesigen Gefilden, und vieles von dem, was wir über das Landleben und über die Umgebung hörten, das erfuhren wir durch ihn.

Als ich mich für die Aufnahme am Technikum vorbereitete, sagte Wasilij Sidorowitsch:

- Ich habe dir eine gute Beurteilung gegeben, damit werden sie dich ganz bestimmt nehmen.

Diese Beurteilung bekam ich erst unmittelbar vor meiner Abreise zu sehen, als man mir meine Dokumente aushändigte. Neben lobenden Beiworten („genießt das Ansehen seiner Altersgenossen“, „lernt sehr eifrig“, „in der Öffentlichkeit aktiv“ usw.) stand darin folgendes:

- Streitet gern und versucht dabei den Sieg zu erringen; führt Streitgespräche am liebsten mit Älteren.

- Fleißig, bemüht sich aber eine Reihe objektiver Gründe zu finden, um die ihm aufgetragenen Arbeiten nicht erledigen zu müssen.

Wenn ich mit ersterem vielleicht auch einverstanden gewesen wäre (obwohl man nicht sagen kann, dass es sehr positiv klang), so konnte man aus der zweiten Aussage überhaupt nicht erkennen, ob ich nun tatsächlich fleißig war oder nicht. Als ich ihn fragte, was er damit meinte, als er von „objektiven Gründen“ sprach, erinnerte er mich an den Vorfall mit der Säge.

Das hatte ich natürlich noch nicht vergessen. Wir hatten damals im Wald Brennholz vorbereitet, und unsere Bügelsäge war kaputt gegangen. Wasilij Sidorowitsch hatte mich losgeschickt, um bei einem Bekannten im Nachbardorf eine Säge zu besorgen. Das Dorf lag nicht in unmittelbarer Nähe, und um nicht mit leeren Händen wiederzukommen, versuchte ich zu ermitteln, ob ich eventuell eine andere Säge bekommen könnte, falls sein Bekannter keine Bügelsäge hatte, und an wen ich mich wohl für den Fall wenden könnte, dass dieser gar nicht zuhause war. Während Wasilij Sidorowitsch auf all mein „Wenn“ und „Aber“ antwortete, fing er an wütend zu werden; offenbar war er der Meinung, dass ich mir nur alle möglichen Gründe ausdachte, um nicht loslaufen zu müssen. Nachdem ich die Fragen geklärt hatte, die mir wichtig schienen, ging ich ins Dorf, brachte die Säge mit zurück, und dann arbeiteten wir weiter.

Er war stets um den „gehobenen Stil“ bemüht, und das Wort „fleißig“ kam ihm schon sehr schlicht und einfach vor. Nachdem er sich an die Geschichte mit der Säge erinnert hatte, erfand er eine schöne Umschreibung – die „Reihe objektiver Gründe“. Über den eigentlichen Sinn des Geschriebenen hatte er offensichtlich aber nicht nachgedacht….

Und dennoch denke ich an Wasilij Sidorowitsch als guten und starken Menschen zurück, der nicht so gut lesen und schreiben konnte, aber sich auf seine Art und Weise zum Guten bemühte und stets darauf geachtet hatte, dass aus uns normale Menschen wurden.

Innerhalb unseres Erziehungspersonals waren nie mehr als ein oder zwei Männer, die meisten waren Frauen. Sie stammten alle aus der Stadt, im hiesigen Dorfleben hatten sie keinen Platz gefunden, und außerdem besaßen viele von ihnen keine Familien. Im Kinderheim hockten sie Tag und Nacht. Ihr Arbeitstag zog sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend hin: das Personal reichte nicht, und so waren sie alle an zwei oder drei Arbeitsstellen tätig und hatten nachts auch noch Wachdienst.

Viel seelisch-moralische Kraft gaben diese Frauen den Heimkindern, und ich denke an alle mit Dankbarkeit zurück. Besonders herzliche Erinnerungen habe ich an Nina Iwanowna Pjatkowa, die Erzieherin unserer Gruppe. Diese nicht sehr große, etwa dreißig Jahre alte Frau, besaß einen äußerst ruhigen Charakter. Niemals erhob sie die Stimme gegen uns. Ihr konnte man jede beliebige Frage stellen – sie hörte stets ruhig zu, erteilte einen Rat, bedauerte vielleicht auch oder hielt eine kurze Strafpredigt. In ihrem Verhalten uns gegenüber lag etwas Mütterliches – und das fühlten wir. Ich erinnere mich, daß ich sie einmal, um sie ein wenig zum Narren zu halten, fragte:

- Nina Iwanowna, was bedeutet es, wenn der Kopf wehtut? Vielleicht tut meiner weh, und ich weiß gar nichts davon?

Woraufhin sie in aller Ruhe zur Antwort gab:

- Wenn er anfängt zu schmerzen – dann wirst du es wissen.

In gewisser Hinsicht waren auch die anderen Mitarbeiter innerhalb des Kinderheims „Erzieher“. Sie waren Ortsansässige, von ihnen erfuhren wir alle Neuigkeiten aus dem Dorf, und sie brachten uns bei, wie ein Bauer arbeitet. Echte Autoritäten waren bei uns zwei Brüder, zwei große, schöne Männer – der Schuster Onkel Tolja und der Pferdepfleger Mitja. Onkel Tolja, der jüngere der beiden Brüder, hatte als kleiner Junge ein Bein durch die Eisenbahn verloren; er ging an hölzernen Krücken. Onkel Mitja war an der Front gewesen und erst kürzlich demobilisiert worden.

Auf einer alten Nähmaschine fertigte Onkel Tolja für uns Pantoffeln aus Fließband-Material und den Mänteln von Automobilreifen an. Wenn wir in seine kleine Werkstatt kamen, lebte er auf, erzählte uns irgendeine Geschichte, von denen er eine ganze Menge kannte und lachte mit uns über seine keineswegs kindlichen Witze. Oft berichtete er auch von einer seiner letzten Schlägereien, darüber, wie sie ihn, wie immer wegen irgendwelcher Liebesabenteuer, verprügeln wollten, wie er den Angriff jedoch mit seiner Krücke geschickt abgewehrt hätte. Dabei machte er sich noch lustig – was wir doch in solchen Dingen für Nichtskönner wären ….

Onkel Mitja war ein Familienmensch, aber auch ein leidenschaftlicher Schürzenjäger. Er prahlte mit seinen Erfolgen, die er unter anderem auch unter den Frauen unseres Kinderheims errungen hatte… Er kannte eine Menge Soldatenfabeln, die er oft erzählte. Von ihm erfuhr ich beispielsweise, dass der legendäre Marschall Schukow sehr grausam gewesen war und auf seinen Befehl hin die eigenen Soldaten und Offiziere hatte erschießen lassen. Onkel Mitja besaß zahlreiche Kriegsauszeichnungen, aber er wiederholte mehrfach: „….. an der Front bekam nicht derjenige die meisten Auszeichnungen, der gekämpft hat, sondern derjenige, der näher am Kommandostab saß“.

Das ruhige und wirklich gute Verhalten der Erzieherinnen uns gegenüber, das entsprechend freie Regime und auch die uns umgebende Natur des Ural schufen im Kinderheim eine Atmosphäre, die der häuslichen ähnlich kam. Und dank dieser Atmosphäre, so meine ich, gab es bei uns auch keine Fälle böswilligen Rowdytums, und auch die Fluchtversuche der Kinder hörten auf.

Für uns alle (und erst recht für mich) wurde das Klenowskojer Kinderheim zu einem echten Elternhaus.


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