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Robert Riedel. Einschränkungen

10. Der Rückfällige und die Harmonika

Einmal tauchte bei uns ein fest angestellter Bajan-Spieler auf – Walerij Iwanowitsch, ein kleinwüchsiger Buckliger mit blassem, pockennarbigem Gesicht. Er war Berufsmusiker – mit seinen langen Fingern, die jedem Buckligen zu eigen sind, verstand er es, virtuos auf seinem Bajan zu spielen.

Die Dorfburschen berichteten, dass er sich bei einer seltsamen Alten niedergelassen hätte, über die man sich im Dorf die unterschiedlichsten Witze erzählte. Außerdem sagten sie, daß er immer auf Dorfhochzeiten spielen und damit nicht schlecht verdienen würde. Ins Kinderheim kam er nur selten – zu den Proben unseres Laienkreises und zu feierlichen Vormittags-veranstaltungen.

Für gute Ergebnisse in den Leistungen wurde unser Kinderheim mit einer chromatischen Ziehharmonika prämiert, mit einer Chromka, wie alle sagten. Zur Aufbewahrung wurde sie in den Lagerraum gebracht. Als Walerij Iwanowitsch von dem Instrument erfuhr, bestand er darauf, dass man sie uns aushändigte, und schließlich brachte er sie uns selber in den Schlafsaal. Sogleich stellten wir uns in einer Reihe auf, um ein wenig darauf herum zu klimpern.

Ein paar Tage später kam er zu uns in den Schlafraum, nahm die Ziehharmonika, spielte darauf eine einfache, schnelle Melodie (so ähnlich wie – ta-ta-ti‘-ta, ta-ta-ti‘-ta, ta-ta-ti‘-ta, ta‘-ta-ta). Dann meinte er:

- Wer will das auch mal versuchen?

Viele versuchten es. Aber mir gelang es am besten, und deswegen empfahl er mir weiter zu trainieren und versprach wiederzukommen.

Am nächsten Tag kam Walerij Iwanowitsch mit dem Bajan an. Ich zweigte ihm, wie gut ich es schon konnte. Während er zuhörte sagte er:

- Spiel weiter, nicht aufhören.

Er fing an, mein simples Spiel mit komplizierten Variationen auf seinem Bajan zu begleiten. Ganz unerwartet erklang eine schöne Musik; die Kinder kamen angelaufen, und die Erzieherinnen ebenfalls. Alle waren verblüfft, dass ausgerechnet ich an der Schaffung dieses Musikereignisses beteiligt war – wir beide spielten, zogen die Harmonikas auseinander, und keiner konnte genau erkennen, wer eigentlich was spielte. Von dem Moment an war ich für alle im Kinderheim nur noch der Ziehharmonikaspieler.

Ich studierte dieses kurze Lied ein und versuchte dann Melodien hinzuzufügen, von denen ich viele noch aus Vorkriegszeiten kannte. Es war nämlich so gewesen, dass wir in Engels vor dem Umzug in unser noch nicht ganz fertig gebautes Haus, im ersten Stock des Kinderkrankenhauses gewohnt hatten, wo mein Vater als Wirtschaftsleiter tätig war. Die Fenster unserer Wohnung zeigten zum Tanzplatz des Stadtgartens hinaus, von wo man abends ständig Walzer-, Tango- und Foxtrott-Melodien herüberschallten. Mitunter stellten sie dort Schilder mit den Texten neuer Lieder auf, die dann der gesamte Tanzplatz einübte. Ich war damals erst fünf oder sechs Jahre alt, aber viele Melodien sind mir im Gedächtnis geblieben.

Mit der Zeit spielte ich schon recht flüssig, spielte Lieder, Tänze, ländliche Stücke, die nach dem Gehör gespielt wurden und flotte Straßenlieder. Die Mädchen gingen oft hinter mir her und riefen:

- Robka (Koseform von Robert; Anm. d. Übers.), spiel doch!

Wenn Sommer war, ging ich nach draußen, zog die Harmonika auseinander, und sogleich begannen die Mädels zu tanzen oder fingen an Lieder zu singen. Einmal begaben wir Jungen uns unter das Vordach unseres Gebäudes und grölten unter den Klängen der Ziehharmonika einen Vierzeiler mit äußerst „gepfeffertem“ Text. Die draußen stehenden Erzieherinnen konnten die Worte nicht verstehen, aber als sie unseren Gesang hörten, mussten sie wohlwollend lächeln...

Aus dem Dorf kamen Mädchen und baten darum, bei ihnen für einen „Fünfer“ zu spielen. Ich hatte nicht nur im Sommer Gelegenheit im Dorf zu spielen, sondern auch im Winter. Ich kann mich noch an einen frostigen Tag erinnern – Burschen und Mädchen nehmen sich bei den Händen und versperren die Straße; sie ziehen durch das Dorf und singen laut einen Vierzeiler. Ich gehe in der Mitte der Reihe und spiele, die Hände in dünnen Handschuhen, damit mir die Finger nicht abfrieren, auf der Ziehharmonika ein flottes, ausgelassenes Straßenlied.

Gestützt auf das „ Lehrbuch für den Selbstunterricht mit der chromatischen Ziehharmonika“ machte ich mich mit den Noten bekannt und übte weitere Melodien ein. Aber für mehr reichte es nicht – ich fand es leichter „nach Gehör“ zu spielen. Ich versuchte auch auf primitiven Ziehharmonikas „russischer Bauweise“ sowie erbeuteten deutschen Instrumenten zu spielen. Bei diesen Harmonikas hängt die Tonhöhe von der Richtung ab, in die die Blasebalge bewegt werden.

Auf ihnen zu spielen ist schwieriger, aber die Töne klingen viel schöner, als die meiner „staatlichen“ Chromka. Walerij Iwanowitsch organisierte bei uns ein „Krachmacher-Orchester“, in dem sein Bajan, meine Chromka, eine Gitarre, eine Balalajka und ein riesiger Balalajka-Kontrabass, Kastagnetten, ein Triangel (Dreieck aus Metall) und eine Schultrommel Aufnahme fanden. Wir studierten mehrere Melodien ein, die Mädchen übten einen russischen Stepptanz, und gemeinsam verfassten wir lebhafte, spitzfindige Vierzeiler. Ins Kinderheim wurden zwei blass aussehende Schwestern gebracht, Schülerinnen einer Ballettschule, und mit ihnen erhielt unser „Ensemble“ dann auch eine Ballettnummer. Der Knüller unseres Programms war jedoch der sonnige Auftritt von Walerij Iwanowitsch – er verzauberte mit seinem virtuosen Spiel die Zuhörer.

Mit unseren Konzerten fuhren wir durch die umliegenden Dörfer. Unser Repertoire war einfach, fast schon primitiv, aber auf dem Lande, wo überhaupt noch keine Künstler gewesen waren, war man mit unseren Auftritten sehr zufrieden. Ob die Leute für unsere Konzerte auch Geld bezahlten, weiß ich nicht, aber wir bekamen dort zu essen – und das war das Wichtigste.

Die Gründung des „Krachmacher-Orchesters“ steigerte Walerij Iwanowitschs Autorität, und so wurde er zum heimlichen Erzieher ernannt – er ersetzte die Erzieherinnen an ihren freien Tagen und während der Urlaubszeit. Er konnte recht gut mit Kindern umgehen, war immer freundlich. Aber wir wussten, dass er auch sehr streng und sogar grausam sein konnte.

Es war Sommer, die Ferien waren bereits zu Ende. Ich befand mich draußen, als mich plötzlich einer der Jungen in den Schlafraum rief. Dort stand Walerij Iwanowitsch, blaß und völlig zerzaust inmitten der Kinderschar. Er sagte, dass er fliehen müsse, das ihm hier das Gefängnis drohen würde. Er bat darum, ihm einen Laib Brot und, aus welchem Grunde auch immer, ein Bettlaken zu besorgen.

Dann berichtete er, was geschehen war. Im vergangenen Winter, als er mit unserem damaligen Direktor durch irgendein Dorf gefahren war, hatte er ein Fässchen Kerosin gestohlen – er hatte es einfach von einem dort vor einer Hütte stehenden Schlitten auf seinen gerollt. Das Kinderheim brauchte, wie man sagte, sehr dringend Kerosin – nachdem ein Großteil des Staudamms fortgeschwemmt worden war, arbeitete das Kraftwerk nicht, so dass wir an den Abenden immer im Dunkeln saßen. Und als wir dann dieses Kerosin hatten, konnten wir wenigstens Lampen anzünden.

Der Bucklige schimpfte, dass der Schwachkopf von Direktor sofort alles zugegeben und ihn verraten hätte. Und plötzlich begann er von sich zu erzählen.

Er war in Swerdlowsk aufgewachsen, seine Eltern waren in der Stadt geachtete Leute. Er hatte die Musikschule im Fach Bajan-Spiel absolviert. Dann wurde er Krimineller; mehrfach verurteilte man ihn. In den Lagern ging es ihm nicht schlecht – schwere Arbeit brauchte er aufgrund seiner Invalidität nicht leisten, und mit der Lagerleitung unterhielt er er ein freundschaftliches Verhältnis, weil er auf ihren Saufgelagen spielte. Zu uns war er nach dem misslungenen Diebstahl gekommen. Die Jungen beschafften ihm Brot und ein Laken, er verabschiedete sich und verschwand.

Ein halbes Jahr später tauchte er erneut auf und begab sich direkt in unseren Schlafraum. Er berichtete, dass er, als er das letzte Mal vor der Inhaftierung floh, in einen Zug gestiegen sei, der Richtung Moskau fuhr. Und im Zug hätte er sogleich wieder kriminelle Freunde gefunden.

- Fährt der Zug langsam –fliegen die Koffer, fährt er schnell – fliegen die Passagiere, - erzählte er. – So haben wir gearbeitet.

Auf diese Weise gelangte er nach Moskau. In der Elektrischen nahmen sie ihn dann, durch eigene Dummheit, wie er selber sagte, fest – er war ohne Fahrkarte unterwegs und hatte außerdem ein gestohlenes Akkordeon bei sich. Vor Gericht warf man ihm dann auch noch die Sache mit dem Kerosinfass vor. Er wurde verurteilt, bekam sein Strafmaß. Im Lager ging es ihm, wie immer, nicht schlecht. Nach einigen Monaten erging eine Amnestie für Invaliden, und er wurde entlassen.

Nachdem er von sich erzählt und auch uns über unseren Lebensalltag ausgefragt hatte, verabschiedete er sich wieder von uns und ging fort. Er hatte mit keinem der Mitarbeiter des Kinderheims gesprochen – sie schreckten vor ihm zurück, als wäre er ein Pestkranker. Offenbar hatte es einen riesengroßen Skandal darum gegeben, dass er, ein Wiederholungstäter und professioneller Verbrecher, ein ganzes Jahr lang mit den Kindern zusammengearbeitet hatte.

Und so war er ihnen ebenfalls ausgewichen und hatte keinerlei Begegnung mit ihnen gesucht. Es war ihm nur wichtig gewesen, mit den Kindern zu sprechen, mit denen er sich ein einziges Mal in seinem Leben nicht als Krimineller, sondern einfach als Mensch gefühlt, der den Heimkindern etwas beigebracht hatte.


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