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Robert Riedel. Einschränkungen

12. Den Lebensunterhalt auftreiben

Als ich mich daran erinnerte, wie Mama versuchte mich zum Essen zu überreden, aber ich mich weigerte, dachte ich:

- Was für ein Dummkopf muss ich gewesen sein. Jetzt würde ich alles essen, was ich vorgesetzt bekäme .....

Im Kinderheim bekamen wir dreimal täglich zu essen, aber aus der Kantine traten wir immer wieder hungrig ins Freie. Ständig wollten wir essen, und jeder von uns war darum besorgt, wie er sich zusätzlich irgendwo und irgendwie etwas beschaffen könnte.

Mit zusätzlicher Nahrung war es im Winter schwierig, als man nirgends etwas Essbares fand – der Wald, die Felder und Gemüsegärten waren alle hoch zugeschneit, die Flüsse mit Eis bedeckt. Und auch die ganzen Unregelmäßigkeiten mit der Lebensmittelversorgung, die im Kinderheim vorkamen, geschahen merkwürdigerweise grundsätzlich zur Winterzeit. In einem solcher Jahre gaben sie uns beispielsweise anstelle von Fleisch Flundern aus einem Fass zu essen.

Das Einzige, was man im Winter finden konnte, waren Kartoffeln. Ein – zwei Kartoffeln konnte derjenige stibitzen, der im Vorratslager aushalf, ein anderer – während er Küchendienst hatte. Einige Kartoffeln konnte man dann auch bei den Dorfjungen gegen Bleistifte und Schreibfedern eintauschen.

Die zusätzlich zusammengesuchten Kartoffeln buken wir in holländischen Öfen, deren Türen in den allgemeinen Korridor hinauszeigten. Wir versammelten uns abends neben ihnen, wenn die Öfen für die Nacht noch einmal durchgeheizt wurden, und jeder wartete geduldig, dass seine ersehnten Kartoffeln hinter dem gusseisernen Türchen fertiggebacken waren.

Mit Einsetzen des Frühlings fingen wir an die im Winter in der Erde verbliebenen, gefrorenen Kartoffeln zu sammeln. Nach dem Auftauen war sie feucht und weich. Einige Knollen waren weiß geblieben, andere total schwarz. Wir stellten daraus Fladen her, die wir „Krachmal“ (russische Bezeichnung für Stärke(mehl); Anm. d. Übers.) nannten. Diese „Krachmals“ buken wir in denselben Öfen.

In einem Winter wurden wir aus Mangel an Brennholz ins „Herrenhaus“ umgesiedelt. In unserem neuen Schlafsaal war es furchtbar eng, im gesamten Raum standen die Betten dicht nebeneinander. Aber uns war das Zimmer nur recht – denn es gab darin einen Ofen mit gusseisernem Herd, auf dem wir wunderbar unsere „Krachmals“ backen konnten.

In diesem Schlafraum verbrachten wir den ganzen Winter. Im Frühling fingen wir, wie gewöhnlich, wieder mit dem Sammeln der erfrorenen Winterkartoffeln an. Irgendwie saßen wir auf unseren Betten am Ofen, auf dem unsere „Krachmals“ brieten. Die Tür ging auf, und ein paar Stadt-Onkelchen mit Aktentaschen unter dem Arm tauchten auf. Sie befragten uns, wie wir hier lebten, was wir den ganzen Tag machten, was wir zu essen bekämen. Eine der Erzieherinnen der Kleinkindergruppe schaute erschrocken in den Schlafsaal, aber einer der eingetroffenen Männer schrie:

- Raus hier!

Die Erzieherin verschwand.

Einer der Onkelchen zeigte voller Ekel auf unsere schwarz-weißen Fladen:

- Was habt ihr denn da?

Wir erwiderten, dass das „Krachmals“ wären, die würden wir gleich essen. Er bat darum, einen der Fladen mitnehmen zu dürfen. Nachdem er den noch heißen Fladen in ein Stück Papier eingewickelt hatte, legte er ihn in seine Aktentasche. Später machten wir uns über den Burschen lustig, der heute ohne „Krachmal“ ausgehen musste.

Aber die Onkel mit den Aktentaschen waren Mitglieder einer Kommission aus Swerdlowsk, um unseren Direktor des Amtes zu entheben (das war fast jedes Jahr einmal der Fall).

Als es Zeit wurde, mit den Pflanzungen in den Gemüsegärten zu beginnen, ging unsere „Hungerzeit“ zu Ende. Uns vertraute man lediglich das Setzen der Kartoffeln an und, ganz egal, wo wir sie auch pflanzten (im Garten des Kinderheims oder in der Kolchose), über unserem Lagerfeuer kochten jedenfalls immer welche. Und ein paar durften wir auch immer mitnehmen.

Und wenn dann erst der Sommer kam, dann bekamen wir, wie man so schön sagt, überall etwas Essbares – auf den Feldern, in den Gemüsegärten, in den umliegenden Wäldern und in unseren Flüsschen.

Am häufigsten angelten wir im Bisert, wo es sowohl Stromschnellen, als auch ruhige Sandbänke gab. Manche fischten schon im Frühjahr – in den Untiefen bei der Mühle gab es herrliche Aalquappen. Aber gewöhnlich fischten wir einfachere Arten – Gründlinge, Kaulbarsche, Barsche. Gleichzeitig verfügte das Kinderheim auch über einen eigenen Fischer mit Boot und Fanggerätschaften. Manchmal nahm er uns mit, und wir halfen ihm mit großer Begeisterung – ließen das kleine Schleppnetz in die Tiefe gleiten, jagten die Fische in tiefen Wasserstellen mit einem langen Stab (einer langen Stange, die am Ende mit einem hohlen Glöckchen versehen war) ins Netz. Seinen Fang gab er in der Küche ab, aber ein paar kleine Fischchen fielen auch uns immer zu.

Jeder von uns besaß einen Haken und Angelschnüre (in der örtlichen Kooperative hatten wir sie gegen heilende Kamille eingetauscht), jeder verfügte auch über einen Kochtopf, der aus einer alten Konservendose angefertigt war, in der sich einst amerikanisches geschmortes und anschließend eingewecktes Fleisch befunden hatte, sowie ein wenig Salz. Zum Entfachen des Feuers besaß jeder einen Feuerstein mit cremefarbenem oder braunem Zunder aus Birkenpilzen.

In den umliegenden Wäldern gab es eine Menge Beeren, aber der größten Beliebtheit erfreuten sich bei uns die Himbeeren. Besonders zahlreich fanden wir sie im Wald an alten Brandrodungsstellen. Während wir dort pflückten, aßen wir uns damit bis zum Umfallen voll und tranken später nur noch den Saft, den wir aus den Beeren in unsere Kessel pressten. In den sumpfigen Niederungen sammelten wir schwarze Johannisbeeren, im dichten Gestrüpp der Waldbäche – Faulbeeren.Und auf den sonnigen Wiesen „pickten“ wir süße Erdbeeren.

Im Wald gab es auch noch andere essbare Pflanzen: die fetthaltigen Knollen der Waldlilien, die dicken Wurzeln der gewöhnlichen Klette, die vom Geschmack her an Kohlstrünke erinnerte, oder die jungen Triebe der hochgewachsenen, röhrenförmigen Gräser, die man hier „Pikany“ (sibirische Kuhpastinaken; Anm. d. Übers.) nannte. Aber die Pilze, die im Wald ebenfalls zahlreich wuchsen, aßen wir nicht – wir kannten uns nicht gut damit aus, vielleicht auch deswegen, weil die Ortsansässigen sich nicht sonderlich für das Pilze Sammeln begeisterten.

Nachdem wir mit den Kolchosgärten fertig waren, holten wir uns nach und nach ebenfalls Kartoffeln, Mohrrüben, Kohl, dicke Rübenwurzeln und noch ein anderes Wurzelgemüse, das ich danach nie wieder gesehen habe. Sie nannten sich Steckrüben und ähnelten äußerlich und auch beim Schneiden den Radieschen, erreichten jedoch im Durchmesser gut 10-15 cm und mehr und schmeckten süßlich.

Die Dorf-Gemüsegärten rührten wir nicht an, wenngleich die Dorfbewohner jeglichen Verlust den Heimkindern zuschrieben (vielleicht stammte die Einstellung noch aus den Zeiten des „Besserungsheims“). In einem der Dorf-Gemüsegärten hatte jemand in der Nacht einige Sack voll Kartoffeln ausgegraben. Die Besitzerin kam schreiend bei unserem Direktor angelaufen. Man ließ uns Aufstellung nehmen, um herauszufinden, wer das gewesen sei. Vergeblich erklärten wir, dass wir es nicht gewesen sein konnten, dass wir so viele Kartoffeln überhaupt nicht gebrauchen konnten, und wenn wir welche nehmen würden, dann höchstens von woanders, aber ganz bestimmt nicht aus den Dorfgärten, in denen wir uns prinzipiell niemals aufhielten. Aber man wollte uns nicht zuhören und ließ uns zur Strafe mehrere Stunden lang so stehen.

Neben dem endlosen Stehen in Reih und Glied bestrafte man uns auch mit Stubenarrest. Dann hatten wir es richtig schwer – man konnte sich keine Zusatznahrung beschaffen, und selbst wenn jemand einen Kartoffelvorrat besaß, konnten wir diese nirgends braten oder kochen – wo sollten wir denn ein Feuer anmachen? Und im Sommer wurde nur der Ofen in der Küche beheizt. Wir versuchten die Kartoffeln roh zu essen, aber davon zog es einem den Mund zusammen. Später kamen wir mit der Situation zurecht – wir kletterten auf das Dach, schlichen uns ans Ofenrohr der Küche heran und ließen einen langen Draht mit aufgefädelten Kartoffeln hinab. Den Draht banden wir oben fest, und die Kartoffeln wurden im heißen Qualm gegart.

Die Möglichkeit sich etwas besser zu ernähren bestand auch dann, wenn wir außerhalb des Kinderheims an landwirtschaftlichen Arbeiten teilnahmen – bei der Heumahd, bei der Holzbeschaffung. Manchmal schickte man uns zu Kolchosarbeiten los (dafür bekam das Kinderheim einen Fahrzeugtransport zur Verfügung gestellt). Dort gab man uns, neben den gewohnten Kartoffeln, auch Bauernbrot, Butter- oder Magermilch (entrahmte Milch). Während des Dienstes in der Küche oder im Speisesaal gab es viel zu tun – wir säuberten das Gemüse, wuschen die Töpfe und Pfannen ab, verteilten die einzelnen Portionen auf den Tischen. Aber die Diensthabenden bekamen eine Extraportion, und manchmal wurden ihnen auch noch die in den Töpfen und Pfannen übriggebliebenen Reste zuteil.

Ich sagte bereits, dass unsere Direktoren praktisch jedes Jahr entlassen wurden. Man enthob sie „wegen Materialmissbrauchs“ ihres Amtes oder, um es schlicht und einfach zu sagen, wegen Diebstahls. Zusammen mit ihnen wurden auch einige andere Leute entfernt, aber uns störte das wenig – es kamen andere, und alles ging seinen gewohnten Gang – Lebensmittel klauten sie alle: sowohl die Leute aus der Verwaltung, als auch die Lagerarbeiter oder Köche.

Eine der Mitarbeiterinnen, die eine große Familie hatte, war extra aus der Stadt hierher umgezogen, um sich im Kinderheim mit Lebensmitteln durchzuschlagen.

Diverse Kommissionen, welche all diese Fakten feststellten, wunderten sich – bei all dieser Klauerei erwarteten sie magere und entkräftete Kinder zu sehen, aber wir waren ziemlich kräftig und braungebrannt. Sie wussten nicht, dass es hier, in den ländlichen Gegenden, viele Möglichkeiten gibt, sich zusätzlich etwas Essbares zu besorgen. Und hinzu kamen ja auch noch die frische Luft, die Sonne, das Baden im Fluss u.a. Sie begriffen nicht, dass uns hier die Natur selber half.


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