Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

Robert Riedel. Einschränkungen

13. Pjerka, Konik

Wir hatten eigentlich immer einen Hund, aber es war stets so gewesen, dass er bei uns nicht länger als ein Jahr überlebt hatte.

Einer unserer Hunde hieß Tusik. Ein kleiner Hund mit dichtem, braunem Fell; er war der Liebling aller und es gab immer einen, der mit ihm herumtollte. Er wurde bei uns gut gefüttert – von allen bekam er etwas ab. Während des Mittagessens ging einer von uns mit dem Hundenapf von Tisch zu Tisch, und jeder gab ein Löffelchen voll Suppe und ein Stückchen Brot hinein. Wir waren viele, so dass Tusik genügend Futter zufiel. Als er zu uns gekommen war, sah er mager und kränklich aus. Bei uns konnte er sich sattfressen, sein Fell wurde glänzend, weich und flauschig.

Mitten im Winter verschwand Tusik plötzlich. Die Kinder suchten ihn stundenlang im umliegenden Gebüsch, aber alles war umsonst.

Etwa zwei Wochen später entdeckten wir, dass der neue Lagerverwalter, ein junger, kräftiger Mann, Handschuhe aus flauschigem weichem Fell trug. Wir waren uns sicher, dass es sich das Fell unseres Tusiks handelte. Ob es tatsächlich so war oder nicht, weiß ich nicht, aber die Kinder empfanden von nun an einträchtigen Hass gegen diesen Lagerverwalter. Es begann eine wahre Hetzjagd – mal reizten ihn die Jungs im Chor, mal schrieben sie irgendeine Gemeinheit ans Tor des Vorratslagers, stießen einen Stapel leerer Kisten um oder etwas anderes in der Art. Schließlich verschwand er – entweder hatte er selber gekündigt oder man hatte ihm dringend empfohlen zu gehen (denn die Direktion wusste um unseren Kampf gegen ihn Bescheid). Wie dem auch sei, wir bekamen einen neuen Lagerverwalter.

Ein anderer unserer Hunde hörte auf den merkwürdigen Namen Pjerka. Es war ein schwarzer, kurzhaariger Hund mit Ringelschwänzchen. Er war ausgesprochen lebhaft, spielte mit den Kindern und heftete sich oft bei jemandem an die Fersen, der in den Wald oder zum Fluss gehen wollte.

Einmal kehrten wir Jungs vom Fischen zurück. Wir hatten gerade die Brücke über den Bisert betreten, als uns schreiend eine Horde Heimkinder entgegengerannt kam:

- Sie töten Pjerka!

Jemand hatte gesehen, wie Kinder aus dem Dorf unseren Pjerka gejagt hatten, und das halbe Kinderheim war losgelaufen, um ihn zu retten. Wir schlossen uns den anderen an. Eine Schlacht gegen die Dorfkinder fand zum Glück nicht statt – Pjerka fand sich gesund und munter wieder ein.

Pjerka lebte den Sommer und Herbst bei uns. Dann kam der Winter. In diesem frostigen Winter waren die Wölfe besonders unverschämt. Nachts lockten sie die Hunde von den Höfen, um sie dann fortzuschleppen (die Dorfbewohner sagten, dass die Wölfe die Hunde anlockten, indem sie vor dem Tor leise winselten). Vom Hof des Müllers schleppten die Wölfe einen für ihn ziemlich wertvollen Hund fort – er hatte in der Mühle die Ratten gefangen. Der Müller hütete ihn wachsam und hielt ihn ständig an der Kette. Aber der Hund versuchte sich loszureißen und zu den Wölfen zu gelangen, und nachdem er sich aus seinen Fesseln befreit hatte, sprang er selbst vor das Tor.

In unserem Hof bemerkten wir morgens oft unzählige Wolfsspuren im Schnee. Und Pjerka, der die Wölfe wohl gewittert hatte, wollte nachts oft unbedingt nach draußen. Jeden Abend führten wir ihn auf das Heim-Territorium zurück und überprüften persönlich, ob die Außentüren auch verschlossen waren. Und zusätzlich baten wir den Diensthabenden, den Hund nicht hinauszulassen, egal wie sehr er auch nach draußen wollte.

In einer der Nächte versah Tante Mascha ihren Dienst, eine sehr nervöse, schon ältere Reinmachefrau. Während des Bürgerkriegs hatten die Koltschak-Leute (übrigens aus demselben Dorf) vor ihren Augen in grausamer Weise ihren Ehemann umgebracht, und danach war sie nicht mehr „ganz sie selbst“.

Am Abend brachten wir Pjerka wie gewohnt ins Gebäude, schoben die Riegel vor die Tür und ermahnten Tante Mascha noch einmal, sie möge den Hund auf keinen Fall hinauslassen.

Am nächsten Morgen war Pjerka nicht im Haus.. Tante Mascha versuchte sich zu rechtfertigen, dass er die ganze Nacht gebellt und an der Kette gerissen, sich gegen die Tür geworfen hätte. Sie hatte das nicht lange ertragen können, ihm schließlich die Tür geöffnet und ihn hinausgelassen.

Wir traten ins Freie und sahen Wolfsspuren im Schnee, die in Richtung Fluss führten. Laut schreiend rannte unsere ganze Gruppe den Wolfsspuren nach; am zugefrorenen Fluss entdeckten wir zuerst Blutflecke im Schnee und dann auch gefrorene Teile unseres Pjerka – ein Stück seiner Pfote, Teile seiner Flanke.

Für die Kinder bedeutete das tragische Ende des fröhlichen Pjerka eine große seelische Erschütterung. Die Mädchen weinten, alle schimpften mit der halbwahnsinnigen Tante Mascha. Und noch lange erinnerte man sich an alle möglichen Geschichten, in denen der geliebte Pjerka den Helden spielte.

Im Kinderheim gab es zwei Pferde, die für landwirtschaftliche Zwecke genutzt wurden. Wir hatten auch einen Pferdepfleger, aber der kümmerte sich mehr um den Stall, während die älteren Kinder mit den Pferden unterwegs waren. Mit ihnen fuhren wir los, um Gemüse aus der Nachbarkolchose, Heu vom Feld oder Brennholz aus dem Wald zu holen. An die Fersen der Älteren hefteten sich oftmals die jüngeren Kinder, und manchmal wurde ihnen dann erlaubt, die Zügel zu halten. Besonders leidenschaftliche „Pferdenarren“ machten sich nachts mit den Pferden auf den Weg zum Weiden.

Eines unserer Pferde war eine friedliche graue Stute, die beharrlich auf alle Befehle hörte. Wir nannten sie einfach Seraja (russisch: die Graue; Anm. d. Übers.), und mit ihr erlebten wir keine unvorhergesehenen Abenteuer. Das andere Pferd war ein roter Wallach mit Namen Konik – er war spitzfindig und widerspenstig. Wenn man ihn anspannte, blähte er den Bauch auf, und wenn er ihn während der Fahrt wieder einzog, verrutschte das ganze Geschirr zur Seite. Er wusste immer ganz genau, wenn einer der kleineren Jungen ihn lenkte. Dann konnte es gut passieren, dass er einfach kehrt machte, ohne auf die antreibenden Rufe der Kinder zu hören, und wieder die Richtung nach Hause einschlug. Es kam auch vor, dass einer der Jungs ihm eins mit der Reitpeitsche versetzte, und anstatt dann schneller zu gehen, fing das Pferd an, mit den Hinterhufen auszuschlagen. Bei einem dieser Tritte schlug Konik dem achtjährigen Achmed mit dem Huf an die Stirn. Zum Glück war der Schlag nicht allzu heftig, aber Achmed bekam einen großen blauen Fleck...

Ein lebendiges Eckchen mit Kleintieren, Vögeln und Fischen hatten wir nicht – dafür besaß das Kinderheim die notwendigen Mittel und Räumlichkeiten nicht. Und wozu auch? Wir konnten all diese Tiere ja „leibhaftig“, in der freien Natur, sehen.


Zum Seitenanfang