Die Winter sind im Ural schneereich, die Flüsse schon früh mit Eis bedeckt. Aber Wintersport gab es bei uns nicht – dazu fehlte es an der entsprechenden Ausrüstung.
Doch ein paar schlechte Gerätschaften waren trotzdem vorhanden. Die Jungs brachten von irgendwoher ein Paar Schlittschuhe mit, ein Paar Hockey-Schlittschuhe und einen „Schneeschuh“ mit hochgebogener Spitze. Noch am Abend standen wir danach Schlange. Und es ist nicht verwunderlich, dass wir mit einer derartigen „Vielfalt“ an Schlittschuhen nicht vernünftig laufen lernten.
Es gab auch noch ein paar alte zerschlissene Skier mit selbstgemachten Bindungen und Stöcken. Sie fanden reißenden Absatz. Wir versuchten selber Skier herzustellen, wir hobelten und versuchten die Spitzen hochzubiegen, aber es gelang uns nicht, so dass sie sich beim Fahren nur in den Schnee gruben. Aber die Kinder aus dem Heim „tummelten sich“ trotzdem mit Vergnügen in unserem Hof darauf herum.
Auf den alten Skiern gelangten wir bis zum nahegelegenen, ziemlich hohen Berg, der zur Hälfte mit Wald bewachsen war. Eine Seite war abschüssig, und dort sprangen wir von einem kleinen Sprungbrett aus Schnee. Der zweite Abhang war nur leicht abfallend, dort konnte man über einen längeren Zeitraum hinuntergleiten, aber noch länger brauchte man, um hinaufzukraxeln.
So ist es auch nicht verwunderlich (wahrscheinlich aufgrund eines Hinweises an die Heimleitung), dass im Kinderheim ein Ski-Geländelauf organisiert wurde. Von irgendwoher wurden in aller Eile Kinderskier herangebracht und aus unseren Jungen und Mädchen eine Ski-Mannschaft ausgewählt. Skianzüge besaßen wir natürlich keine. Wie immer legten sie uns einen Haufen Kleidung aus amerikanischen Geschenken hin und schlugen vor, dass wir daraus für den Lauf etwas aussuchen sollten. Mir gefiel ein feiner Baumwoll-Pullover – in dem fühlte ich mich genauso sportlich, wie die Skifahrer auf dem schönen Plakat, dass in unserem Kinderheim hing.
Die Cross-Strecke verlief über bergiges Gelände, und viele waren ohne Training schnell völlig erschöpft. Die Kolonne wurde immer weiter auseinandergezogen, und wir, die wir vorneweg fuhren, mussten oft anhalten und auf die anderen warten. Bei solchen Stehpausen begann ich, erhitzt und verschwitzt, heftig zu frieren – der eisige Wind durchdrang meinen Pullover.
Am nächsten Tag wurde ich bettlägerig, ich hatte hohes Fieber. Alla Borisowna, die junge Feldscherin, stellte fest, dass ich eine Lungenentzündung hätte und begann ihre Behandlung sogleich mit verschiedenen Arzneien. Ich war schwerkrank, die Temperatur stieg immer weiter an, bis ich mich in einem tiefen Dämmerschlaf befand. Ein Isolierzimmer hatten wir nicht; so lag ich in unserem Schlafsaal. Außer der mich behandelnden Alla Borisowna schaute Nina Iwanowna, die Erzieherin, häufig nach mir. Und lange Abende saß unsere Buchhalterin Maria Iwanowna neben mir, eine noch jugendliche Frau um die vierzig. Sie verstand sich schon lange gut mit mir, hatte mir sogar vorgeschlagen, mich zu adoptieren, aber ich war nicht einverstanden – denn schließlich waren ja irgendwo noch meine Eltern (in meinen Papieren stand: „Eltern sind vorhanden, Adresse ist nicht bekannt“).
Nach einer Woche ging es mir langsam besser, ich konnte sogar schon in den Speisesaal gehen. Zur größten Verwunderung der Kinder wollte ich aber aus irgendeinem Grunde nichts essen.
Ein paar Tage später warf es mich erneut nieder – mit hohem Fieber und zeitweisem Bewusstseinsverlust. Als man begriff, dass es äußerst ernst um mich stand, beschloss man, mich ins vierzig Kilometer entfernte Bezirkskrankenhaus zu schicken. Sie brachten mich mit einem Schlitten dorthin, nachdem sie mich in einen schweren Schafspelz eingewickelt und mit Pelzmänteln zugedeckt hatten. Sie waren vorsichtig, und deswegen dauerte die Fahrt ziemlich lange. Als wir uns dem Krankenhaus näherten, erwachte ich, völlig nassgeschwitzt, und fühlte mich plötzlich kerngesund. Offensichtlich hatte ich unter den schweren, wärmenden Pelzen die Krisis überwunden. Im Krankenhaus bekam ich tierischen Appetit, ich wollte die ganze Zeit immer nur essen und bat ständig um Sauerkraut. Natürlich gab es das im Krankenhaus nicht, aber eine der Krankenschwestern brachte es von Zuhause mit. Sie wiederholte immer wieder, dass ich ihrem kürzlich ertrunken Sohn sehr ähnlich wäre.
Die Krankenhausärzte meinten, dass ich eine schwere Rippenfellentzündung durchgemacht hätte. Wenn ich später zu irgendwelchen Röntgen-Untersuchungen musste, dann sagte ich immer schon vorher Bescheid, dass die schwarzen Flecken von einer in der Kindheit durchgestandenen Pleuritis kämen.
Ins Kinderheim zurückgebracht wurde ich mit einem alten „Willis“ des Bezirkskomitees – auf Bitten unseres Direktors nahm mich der Sekretär des Bezirkskomitees mit, der zufällig in die gleiche Richtung fuhr, ein kräftiges Onkelchen im Ledermantel. Es war ein sonniger, frostiger Tag, und ich hatte supergute Laune. Sowohl wegen des schönen Wetters, als auch aufgrund der Tatsache, dass ich in einem richtigen Auto fahren durfte, und wohl auch, weil der Sekretär mir so viele wohlwollende Fragen stellte. Plötzlich löste sich ein Vorderrad unseres Fahrzeugs und rollte einsam vor uns den Weg entlang. Der Fahrer konnte nur mit Mühe ein Umkippen des Autos verhindern. Die im Wagen Sitzenden verhielten sich vor Schreck totenstill, aber als sie dann das einsame Rad immer weiter fortrollen sahen, mussten sie plötzlich doch laut loslachen.
In diesem Moment begriff ich, dass das Krankenhaus und meine ganze Krankheit nun hinter mir lagen, dass ich gesund war, dass ich nach Hause fuhr – in mein Kinderheim.