Viele Heimkinder hatten Spitznamen, und jeder war, so kann man wohl sagen, das Ergebnis kollektiver Kreativität. Jemand benannte ganz zufällig einen der Jungs mit einem witzigen Wort. Wenn dieses Wort zutreffend war, dann nannte man ihn auch weiter so. Dabei gab es aber auch präzisere Varianten oder Veränderungen. Schließlich wurde es von den Kindern für gut befunden, wurde zum gängigen Spitznamen und hing dem Jungchen auf immer und ewig an.
Die witzige Bezeichnung konnte mitunter aber auch misslungen sein, und dann vergaß man sie einfach wieder. Das kam vor, wenn sie nicht zutreffend genug war oder, relativ ausgedrückt, zum „Status“ bzw. der Autorität der Person nicht passte.
Der letzte Fall trat beispielsweise bei mir ein. Einer der Jungs nannte mich, meinen Vornamen Robert ausnutzend, aus Spaß Oberleutnant. Er hatte nichts gegen mich, aber irgendwie kam ihm der Ausdruck spitzfindig vor. Ich schenkte dem keinerlei Aufmerksamkeit, den Schuh zog ich mir, wie man so schön sagt, gar nicht erst an. Und so wiederholten die Kinder den spaßigen Namen auch nicht mehr, sondern vergaßen ihn.
Viele der Spitznamen harmonisierten gut mit den Nachnamen der Kinder. Wanka Meschnjakow hieß bei uns beispielsweise „Meschnjak“, Popow nannten wir „Popik“ (Pfaffe; Anm. d. Übers.), Murtasin-Lejser hieß „Arme Lisa“ und Aschichmatow – „Schichmatt“. Die lustigen Namen bekräftigten oft auch das äußere Erscheinungsbild des Betreffenden. „Popik“ war ein hagerer, schmächtiger Junge und so passte der Name zu ihm. Der Halbtatar Murtasin-Lejser hatte ein breites, weißhäutiges Gesicht mit zartrosigen Mädchenwangen – und so blieb es auch von Anfang an bei dem Spitznamen „Arme Lisa“ oder einfach nur „Lisa“. Und ein äußerst akkurate Bursche, der irgendwie dem Schauspieler Krjutschkow aus dem Kinofilm „Traktoristen“ ähnelte, erhielt den Spitznamen „Tankist“ („Panzerfahrer“; Anm. d. Übers.).
Manchmal wurden die lustigen Namen auch aufgrund der Lebensgeschichte und des Charakters der betreffenden Person vergeben. So besaß ein kleingewachsener Junge mit dem Gesicht eines bartlosen Alten den Namen „Moskwitsch“. So nannte man ihn nicht nur, weil er in Moskau Wohnungen ausgeraubt hatte, sondern auch weil er ein sehr gerissener Bursche war, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte. Er war auch noch älter als wir, aber er hatte die medizinische Kommission betrogen und sich aufgrund seiner geringen Größe für jünger ausgegeben, als er tatsächlich war.
Der Junge, der Wladimir Uljanow hieß, hatte keinen Spitznamen – alle fürchteten sich davor, den Namen des „großen Führers der Kommunisten“ – Wladimir Uljanow-Lenin - zu beleidigen. Wir alle wussten, dass bei so etwas keine Nachsicht geübt wurde.
Die Mädchen hatten komischerweise auch keine Spitznamen, zumindest kannten wir, die Jungs, sie nicht.
Der Versuch, die Spitznamen der Jungs loszuwerden, wurde nur ein einziges Mal unternommen.
Mitten im Winter wurde es dringend notwendig, unsere Toilette zu reinigen, die sich draußen in einer hölzernen Bude befand; drinnen und um sie herum war „vieles“ vereist. Gereinigt wurde sie normalerweise von Kindern „per Auftrag außer der Reihe“. Derartige Aufträge erhielten viele, deswegen war der Toilettenraum auch stets entsprechend sauber. Diesmal hatten die Erzieherinnen ihre Wachsamkeit ein wenig gelockert, und die Toilette war in einem verkommenen Zustand. Der Erzieher Wladimir Petrowitsch, der erst kürzlich demobilisierte Offizier (ich sprach bereits von ihm), löste das Problem auf einfache militärische Art und Weise. Am Sonntag, als wir uns alle im Schlafsaal befanden, kam er an und sagte mit lauter Stimme:
- Ab heute ist die Verwendung von Spitznamen strengstens verboten! Wer die Regel bricht erhält einen Auftrag außer der Reihe – und säubert die Toilette!
Er ließ sich am Tisch in der Mitte des Schlafraums nieder und vertiefte sich in irgendwelche Papiere, wobei er unseren Gesprächen lauschte.
Zuerst rissen wir uns zusammen, redeten uns gegenseitig mit den Vornamen an – Kolka, Muratka, Wowka, Robka. Aber zehn-fünfzehn Minuten später verhaspelten wir uns und benutzten wieder die gängigen Spitznamen:
- Tankist, Popik, ab auf den Berg!
- Lisa, gib mal das Messerchen, ich will den Bleistift anspitzen!
- Schichmatt, wo ist der zweite Schlittschuh? Du bist zuletzt damit gefahren!
Na ja, und so weiter.... Kurz gesagt, es war noch keine Stunde vergangen, als beinahe unser gesamter Schlafsaal einträchtig das „Eis“ aus der Toilette weghackte.
Später achtete niemand mehr auf die Spitznamen, und wir nannten uns wieder bei den gewohnten, alten Namen. Das Hauptziel dieser Sonntagsmaßnahme war jedenfalls erreicht worden – die Toilette war sauber, und an so eine aussichtslose Sache, wie das Unterbinden von Kinderspitznamen, hatte keiner auch nur im Entferntesten gedacht.
Diese beiden Systeme im Umgang miteinander existierten auch weiterhin, ohne die kindliche Welt mit der Welt der Erwachsenen zu vermischen.