Im Kinderheim befanden sich Kinder verschiedener Nationalitäten – Russen, Ukrainer, Tataren, Baschkiren, Mordwinen, Udmurten, aber ich war der einzige Deutsche. Als Deutscher empfand ich jedoch keinerlei Diskriminierung. Viele wussten einfach nicht, dass ich Deutscher war, und diejenigen, die es wussten, nahmen das nicht für ernst – ich war genau so einer wie alle, während die Deutschen für sie Leute waren, die an der Front gegen uns kämpften (dass es Sowjet- oder Russland-Deutsche gab, davon hatte hier niemand eine Ahnung – in jenen Bezirk des Urals hatte man sie aus irgendeinem Grunde nicht verbannt). Das Einzige, was sie sie verwunderte, waren mein Vor- und Nachname:
- Robert oder Riedel, was ist denn nun dein Vorname, was dein Nachname? Das kann ja kein Mensch erkennen!
Nicht die letzte Rolle spielte schließlich auch der Tatbestand, dass ich unter den Kindern über eine gewisse Autorität verfügte. Sie war bereits zu der Zeit entstanden, als ich gerade erst als Neuling hier eingetroffen war, mit den Kindern Lieder eingeübt und ihnen Bücher nacherzählt hatte. Autorität verlieh mir auch ein Vorfall in der Kantine, der sich damals ereignete. Wir standen in der Schlange vor der Küchenausgabestelle, und einer der Burschen stieß mich grob beiseite. Ich geriet in Wut, stürzte mich auf ihn, brachte ihn zu Fall und verprügelte ihn, bis mir schließlich eine Erzieherin Einhalt gebot. Über diese Prügelei wurde noch lange gesprochen; sie wurde mit verschiedenen Einzelheiten ausgeschmückt, und wahrscheinlich hatte danach niemand mehr Lust, sich mit mir zu prügeln. Und als ich „Ziehharmonika-Spieler“ wurde, nahm meine Knabenautorität noch mehr zu.
Ich mochte gern lernen und galt als bester Schüler. Für gute Erfolge wurden wir mitunter (zumeist an Feiertagen) mit wertvollen Geschenken belohnt – neuen Schnürschuhen, Stiefeln, und einmal bekam ich sogar einen Anzug. Nach der feierlichen Überreichung nahm der auf der Bühne stehende Lagerverwalter die Geschenke an sich („zur Verwahrung“). Ein zweites Mal bekamen wir sie danach auch nicht mehr zu sehen.....
Einmal wurden ich und noch zwei Jungs mit einer Fahrt nach Swerdlowsk (dem heutigen Jekaterinburg) in den Winterferien ausgezeichnet. Begleitet wurden wir von unserem letzten Direktor, Stepan Rasumowitsch Beloborodow. Wie immer gab es keine Fahrkarten für den Zug, so dass wir die ganzen zweihundert Kilometer bis Swerdlowsk (und nachher auch wieder zurück) auf dem Trittbrett oder der Waggonplattform (Vorkriegskonstruktion) fuhren. Dabei durchfuhren wir mehrere Tunnel ....
In Swerdlowsk brachten sie uns ins Dramaturgie-Theater, wo heroische Gesänge über die Kriegsmarine vorgetragen wurden. Im musikalischen Theater versetzte uns eine fröhliche Operette in Erstaunen. Im schön hergerichteten Pionierpalast (dem ehemaligen Schloß des Ural-Fabrikanten Demidow) nahmen wir am Neujahrsfeiertag unter einer riesigen geschmückten Tanne teil. Man händigte uns Geschenke mit einfachem Konfekt und sogar einer Mandarine aus. Zurück kamen wir, wie man so schön sagt, bis an den Rand voll mit Eindrücken.
Auf der allgemeinen Kinderheim- und Schulversammlung, die dem Abschluß des Schuljahres gewidmet war, verkündete unser Direktor feierlich, dass der Zögling des Kinderheims und nun schon Schüler der siebten Klasse - Robert Riedel - eine Auszeichnung erhalten sollte, die ihm eine Fahrt ins Pionierlager Artek sicherte. Die gleiche Belohnung erhielt auch die Tochter des pädagogischen Leiters der Schule. Es gab lauten Beifall, man gratulierte uns. Ich stellte mir bereits vor, wie ich auf der sonnigen Krim verweilen, das Schwarze Meer sehen würde, über das ich schon viel gelesen hatte.
Eine Woche später rief man mich ins Zimmer der Erzieherinnen. Dort befanden sich bereits der Direktor des Kinderheims, einige Erzieher und unsere Krankenschwester. Ich sollte mich bis auf die Unterhosen entkleiden, und die Krankenschwester begann mich unter zahlreichen Nörgeleien von allen Seiten zu untersuchen. Schließlich fand sie bei mir einige Schrammen und meinte laut, dass ich mit solchen Stellen auf der Haut auf keinen Fall nach Artek fahren könne, damit würden sie mich dort nicht aufnehmen. Alle pflichteten ihr einstimmig bei. Derartige Schrammen konnte man bei jedem beliebigen Heimkind finden, und so begriff ich sogleich, dass dies nur ein Vorwand war, um mir die Fahrt nach Artek zu verweigern. Da ich nun die ganze Komödie, die da gespielt wurde, klar erkannt hatte, war es mir unangenehm wegen der ganzen vor mir sitzenden Erwachsenen. Ich zog mich eilig wieder an und verließ, ohne noch einmal aufzublicken, das Zimmer.
Im leeren Korridor stieg Bitterkeit in mir auf:
- Das ist nur deswegen, weil ich ein Deutscher bin, sie sagen es nur nicht offen heraus. Dann war ich also nicht genau so einer, wie alle, ich war also schlechter als sie – und das würde immer so bleiben!
Mehrmals schoss mir der Gedanke durch den Kopf – du musst fortlaufen, einen anderen Nachnamen annehmen, und dann wird niemand wissen, wer du bist und woher du kommst. Aber dann würde ich meine Eltern nicht mehr sehen können, und gerade das war es doch, wovon ich all die Jahre geträumt hatte – sie wiederzusehen, mit ihnen in einer Familie zu leben.
Und mit der Reise nach Artek war es so gewesen, dass die aufrichtigen Erzieherinnen sie mir zugesprochen hatten, weil sie meinten, dass ich sie verdient hätte, und irgendwie würde von oben schon die Entscheidung fallen, dass man mich als Deutscher gar nicht zulassen würde.
An meiner Stelle fuhr ein anderer Heimjunge nach Artek – der Baschkire Walerij Galin, der bei weitem nicht einer der besten Schüler bei uns war. Er hatte mir selber gesagt, dass dies nicht sein wahrer Name sei, dass er ihn geändert hätte, wie viele Straßenkinder es taten. Aber er hatte nicht nur seinen Namen geändert, sondern auch sein Alter erheblich herabgesetzt – wenn wir neben ihm standen, sahen wir aus wie kleine Kinder. Die Heimleitung hatte wohl erraten, dass er älter war als wir – sie begünstigten ihn, verschafften ihm nach einiger Zeit sogar eine bezahlte Arbeit als Erzieher einer der Kleinkinder-Gruppen. Aber zwischen mir und ihm herrschten immer schwierige Beziehungen, besonders nach der Geschichte mit Wanja Meschnjakow, Meschnjak. Galin stand mit ihm im Konflikt, sie prügelten sich sogar im Wald, und Galin unternahm alles, damit man Meschnjak in die Betriebsfachschule schickte und ihn an der Schule nicht fertiglernen ließ.
Meschnjak war ein einfacher, guter Junge, und als wir davon (erst später) erfuhren, fingen die anderen an Galin zu verachten, und keiner wollte mit ihm noch irgendetwas zu tun haben.
Was das Leben innerhalb des Kinderheims betrifft, so will ich mich mit den Beziehungen der Kinder untereinander nicht lange aufhalten. Ich sage nur, dass sich bei uns nichts Außergewöhnliches ereignete, die Situation war wie in einer ganz normalen Schule. Aber natürlich gab es auch Konflikte. Noch im Kinderheim hatte ich das Buch „Die Vorsteher der Willoughby- Schule“ gelesen. Darin wird das Leben in einem geschlossenen Schulinternat gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben. Und ich war verblüfft, wie viele Situationen in dieser Schule mit denen in unserem Kinderheim zusammenfielen. Und der Hauptheld hatte, wie mir schien, große Ähnlichkeit mit mir, denn er hieß, soweit ich mich erinnern kann, Riddell... (An den Autor konnte ich mich damals nicht erinnern; erst kürzlich erfuhr ich, dass er Talbot Baines Reed hieß und das Buch den englischen Titel „The Captains of Willoughby School“ trug.
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Meine Lernerfolge verschafften mir nicht nur angenehme und unangenehme Geschenke – einmal bewahrten sie mich sogar vor der Verschickung an die Betriebsfachschule.
Im Sommer 1947 befanden wir uns auf der Heumahd, als der Vorsitzende des Militärkommissariats zur Mobilisierung der Herangewachsenen in die Betriebsfachschule nach Klenowskoje kam. Er meldete sich auch im Kinderheim, sah unsere Listen durch, und wer bereits vierzehn Jahre alt war, den merkte er zur Verschickung an die Betriebsfachschule vor. Auch ich befand mich unter diesen „Herangewachsenen“. Aufgrund meines Alters hätte ich bereits die siebte Klasse beendet haben müssen, aber ich hatte erst sechs absolviert, denn ein Schuljahr hatte ich in Sibirien verloren. Wenn sie mich nun an die Betriebsfachschule geholt hätten, dann hätte ich nicht mehr die Möglichkeit gehabt die Siebenklassen-Schule abzuschließen und anschließend entsprechend weiter zu lernen. Aber ich wollte später gern ans Technikum.
Die Liste der Zöglinge, die zur Betriebsfachschule sollten, wurde im Kinderheim durch den pädagogischen Rat, unter Mitwirkung des Vorsitzenden des Militärkommissariats erörtert. Als meine Person an die Reihe kam, sagte man ihm, dass ich ein sehr schwacher Schüler wäre, nicht ganz normal und überhaupt ziemlich debil und geistig zurückgeblieben. Einen „Debilen“ wollte er selbstverständlich nicht haben.
Auf diese ungewöhnliche Weise ließen sie mich im Kinderheim. Die Erzieher, die so weit gegangen waren, verfolgten damit aber auch ihre eigenen Ziele – sie brauchten einen guten Schüler, denn Erfolg war einer der wichtigsten Indizien für ihre gute Arbeit.
Von all dem erfuhr ich erst im Herbst – Wasilij Sidorowitsch erzählte es mir unter dem großen Siegel der Verschwiegenheit.
Am ersten September kam ich in die siebte Klasse und beendete die Siebenklassenschule im folgenden Frühling. In demselben Jahr ging ich nach bestandener Aufnahmeprüfung ans Technikum. Aber das ist schon eine andere Geschichte.