Ich hatte mich für das Bergbau- und Metallurgie-Technikum in Swerdlowsk entschieden. Aber das war ein schwieriges Unterfangen – ich musste selber sehen, wie ich nach Swerdlowsk kam (natürlich ohne Fahrkarte), für die Zeit der Examina musste ich eine Privat-Unterkunft finden, und ich hatte insgesamt vier Prüfungen abzulegen. Aber es gelang mir, all das zu bewältigen – auf Waggon-Trittbrettern kam ich heil bis nach Swerdlowsk, bei Verwandten unseres Direktors bekam ich eine Unterkunft und die Aufnahmeprüfungen bestand ich mit „gut“ und „sehr gut“, was für ein Jungchen, das aus einer ur-ländlichen Gegend kommt, keineswegs schlecht war.
Neben der Kanzlei hingen die Listen der Zugelassenen. Ich fand auch meinen Namen und dachte:
- Na schön, das war’s! Jetzt bin ich Student, ich werde fleißig lernen und später als Elektromechaniker im Bergbauwesen tätig sein.
Ich bereitete mich schon auf den Heimweg vor, als sich herausstellte, dass es mit „das war’s“ nicht seine Richtigkeit hatte. Der Direktor des Technikums folgte stets einer Regel – vor der endgültigen Aufnahme seiner Studenten, führte er mit jedem erst noch ein persönliches Gespräch. Dazu wurden die Studenten in Gruppen, nach beruflichen Fachgebieten, zu ihm gerufen. Dann war auch unsere Gruppe an der Reihe.
Wir saßen im Wartezimmer und wurden einzeln zum Direktor geholt. Die bevorstehende Unterredung beunruhigte mich nicht sonderlich – ich hatte meine Prüfungen gut gemacht, war am Technikum angenommen worden, und was sollte er mir schon für Fragen stellen? Schließlich war ich ein Heimkind!
Ich kam als Letzter an die Reihe. Als ich das Kabinett betrat, sah ich einen riesigen Mann an einem großen Schreibtisch sitzen, der irgendwelche Papiere durchlas. Nach langem Schweigen fragte er plötzlich:
- Du bist also Deutscher?
- Ja.
Er starrte mich unverwandt an und schrie dann plötzlich:
- Du weißt wohl nicht, dass Swerdlowsk eine geschlossene Stadt ist?! Wir nehmen hier keine Deutschen!
Danach musste ich noch lange im Vorzimmer sitzen und auf meine Dokumente warten. Der Direktor trat aus seinem Kabinett und entfernte sich. Verwundert sah ich, dass er gar nicht so groß war, fast ein Zwerg – bei seiner großen Statur wirkten seine Beine viel zu kurz. Entweder war das ein angeborener Defekt oder die Folgen eines Unfalls. Jedenfalls brachte mir dieser „mächtige Zwerg“ nichts als Unheil.
Nachdem ich meine Papiere zurückerhalten hatte, trat ich verwirrt und enttäuscht auf die Straße hinaus. Was sollte ich jetzt tun? Ins Kinderheim zurückkehren konnte ich aufgrund meines Alters nicht; Verwandte, zu denen ich hätte gehen können, besaß ich nicht; wo meine Eltern lebten, und ob sie überhaupt noch am Leben waren, das wusste ich auch nicht. Und so beschloss ich, doch ins Kinderheim zurückzugehen, in der festen Überzeugung, dass sie mich dort schon nicht im Stich lassen würden. Eine Zeit lang hatte bei uns auf dem Dachboden ein ehemaliger Heimjunge gewohnt, der irgendwo weggelaufen war. Im schlimmsten Fall würde ich auch dort unterkommen, bis entschieden war, was weiter mit mir geschehen sollte.
Nachdem ich ins Kinderheim zurückgekehrt war, erzählte ich alles Direktor Stepan Rasumowitsch. Er reagierte äußerst missmutig und meinte, dass er das nicht einfach so auf sich beruhen lassen wollte. Am folgenden Tag machten wir uns auf den Weg nach Bisert. Wir klapperten dort ein paar Bezirksorganisationen ab, in denen wir uns die Fürsprache und lobende Beurteilung über mich sicherten. Allerdings weigerte man sich in einer dieser Institutionen daran zu glauben, dass ich Deutscher wäre – sie hielten das für einen groben Scherz. Aber nachdem sie sich eine Weile gewundert hatten, gaben sie uns schließlich doch die notwendigen Dokumente.
Nachdem er einen umfangreichen Brief vorbereitet (was darin stand, weiß ich nicht) und die Papiere aus der Bezirksstadt beigefügt hatte, fuhr Stepan Rasumowitsch mit mir nach Swerdlowsk. Vor dem Gebäude des Technikums ließ er mich aus irgendeinem Grunde auf der Straße stehen und begab sich höchstpersönlich zum Direktor. Lange blieb er nicht fort. Als er zurückkam, sagte er nur kurz:
- Du bist aufgenommen.
Und dann machten wir uns auf den Heimweg in unser Kinderheim, wo ich mich auf den Umzug nach Swerdlowsk vorbereiten musste.
Im Klenowskojer Kinderheim war ich der Erste, der zur weiteren Ausbildung fortgeschickt wurde, und sie versuchten mich so gut wie möglich einzukleiden – ich bekam einen billigen, aber neuen Anzug, neue Schnürschuhe und Hemden. Sie wählten auch Winterkleidung für mich aus, allerdings ließen sie sie bis zum Winter im Kleiderlager. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte ich mir einen hölzernen Koffer gebaut und mit hellgrüner Farbe gestrichen, die ich zufällig auftreiben konnte. Darin verstaute ich mein bescheidenes Hab und Gut – ein Hemd, Unterwäsche zum Wechseln, ein paar Büchlein und einige Lebensmittel.
Ende August 1948 ließ ich, nachdem ich meinen Koffer genommen und ein wenig Geld erhalten hatte, das Kinderheim hinter mir und machte mich auf den Weg nach Swerdlowsk. Ich schrieb bereits, dass wir nach Swerdlowsk immer auf den Trittbrettern eines Waggons gelangten oder, wenn wir Glück hatten, auf einer der Plattformen zwischen zwei Waggons. Wenn das Gerücht aufkam, dass der Kontrolleur im Anmarsch sei, kletterten wir schnell über die Leitern auf das Dach des Waggons. Die Kontrolleure gingen vorbei, und wir kehrten wieder auf unsere Plätze zurück. Aber auf dieser Reise nahmen sie mich fest – mein Koffer hinderte mich daran, mich auf dem Dach zu verstecken. Der Kontrolleur brachte mich in den Waggon und verlangte, dass ich eine Strafe zahlte. Vergeblich versuchte ich ihm zu erklären, dass ich aus dem Kinderheim käme und an meinen Ausbildungsplatz wollte. Der Kontrolleur war unnachgiebig und drohte mir, er würde mich an der nächsten Bahnstation bei der Miliz abgeben. Eine solche Perspektive gefiel mir gar nicht; ich war gezwungen, ihm die Hälfte meines Geldes zu geben. Das einzig Gute an der Situation war, dass ich nicht aussteigen musste, sondern er mich in beinahe komfortabler Weise bis nach Swerdlowsk fahren ließ – auf einer geschlossenen Plattform.
Ich bekam einen Platz im allgemeinen Studentenwohnheim, und dann begann mein Unterricht am Technikum. Die meisten Lehrbücher erhielt ich in der Bibliothek, aber einige Bücher musste ich auch kaufen, was mein „Budget“ weiter schrumpfen ließ.
Einmal beschloss ich, mir die Stadt anzusehen und ging zum Stausee, der sich fast im Zentrum der Stadt befindet. Am Ufer lag ein Boot mit zwei Jungs an Bord.
- He, Bursche – willst du fahren? – fragte einer von ihnen.
Ich willigte ein. Wir hatten uns bereits ein gutes Stück vom Ufer entfernt, als derjenige der mich zum Bootfahren aufgefordert hatte, plötzlich sagte:
- He, gib uns einen Dreier, sondern bringen wir das Boot zum Kentern!
Und sie begannen heftig damit zu schaukeln. Ich erwiderte, dass ich kein Geld hätte, dass ich aus dem Kinderheim käme, aber die beiden lachten nur:
- Na mach schon, Du Kulak – sei nicht so geizig!
In meiner Kleidung sah ich tatsächlich wie ein Wohlhabender aus. Das Boot schaukelte immer heftiger, es drang bereits Wasser ein. Ich begriff, dass ich es mit meiner Kleidung nicht schaffen würde, bis ans Ufer zu schwimmen, während dies für die beiden Jungs kein Problem war – sie trugen nur ihre Unterhosen. Und so musste ich ihnen schließlich drei Rubel aushändigen.
Und es gab noch weitere Ausgaben. Der Zeichenlehrer, ein grauhaariger, unverschämter Geck in Anzug und Fliege, brachte uns in der ersten Unterrichtsstunde, Buben im Alter von 14-15 Jahren, bei:
- Eins müsst ihr auch fürs ganze Leben merken: vertraut keinem eure Ehefrau und euer Reißzeug an!
Er zeigte uns ausländische Bleistifte der Marke „Kohinor“ und meinte, dass wir ohne diese Stifte nicht vernünftig zeichnen lernen würden; und deshalb schlug er auch sogleich vor sie zu kaufen. Keiner wagte abzulehnen, und so kaufte auch ich von meinem letzten Geld ein paar Bleistifte.
Die erste Unterrichtswoche war zu Ende, und mein Geld ebenfalls. Ein Stipendium konnte ich erst ab dem 20. des Monats erhalten, aber bis dahin musste ich noch über die Runden kommen. Ich musste zum Kinderheim fahren, dort würden sie mir ganz bestimmt helfen.
Einen Zug, der in die Richtung fuhr, machte ich erst gegen Abend ausfindig. Die Miliz war hinter uns her, und ich sprang im allerletzten Moment auf eines der Trittbretter, als der Zug bereits angefahren war. Anschließend kletterte ich auf das Waggondach. Der Zug schaukelte unterwegs sehr, ich musste mich kräftig am Lüftungsrohr festhalten. Nachdem wir Druschinino passiert hatten, begann es schnell zu dunkeln. Vom Waggondach aus sah ich die rhythmisch aufleuchtenden Feuer der automatischen Weichenstellung – rot, gelb, grün, dann wieder rot usw. Auf dem Dach liegend und mit Vergnügen diese kleinen Lichtchen betrachtend, erreichte ich am späten Abend das Klenowskojer Ausweichgleis.
Nun mußte ich noch etwa drei Kilometer zu Fuss gehen, so dass ich erst spät in der Nacht im Kinderheim eintraf. Als ich unseren Schlafsaal betrat, sprangen die Kinder aus den Betten und stürzten auf mich zu:
- Robka, sie haben deinen Vater gefunden!
Sie berichteten, dass ein Brief vom Vater angekommen wäre, man hatte ihn im Erzieher-Zimmer gelesen; vielleicht würde er dort auch noch liegen. Natürlich war der Raum für die Erzieher, der im zweiten Stock gelegen war, abgeschlossen. Von der Ecke unseres Gebäudes aus gelangte ich in die zweite Etage (das machten wir häufig so) und kletterte dann durchs Fenster ins Erzieher-Zimmer. Aber dort fand ich nichts, und so machte ich mich, obwohl tiefste Nacht herrschte, zur Wohnung von Stepan Rasumowitsch auf. Er schimpfte nicht, weil es so spät war, sondern zeigte mir gleich einen Brief von irgendeiner Kommandantur. Darin stand, dass der Sonderumsiedler Iwan Dawidowitsch Riedel, wohnhaft in der Stadt Temirtau, Gebiet Karaganda, seine Sohn Robert Iwanowitsch Riedel suche. So sehr freute ich mich darüber gar nicht, aber ich fühlte eine große Erleichterung – mir fielen meine langjährigen Strapazen, meine derzeitige Ruhelosigkeit und die Tatsache ein, dass mich irgendwie kein Mensch brauchte. Und so sagte ich zu Stepan Rasumowitsch:
- Beantworten sie den Brief nicht, ich fahre selber dorthin.
Ich musste zuerst zum Technikum fahren – wegen meiner Papiere. Als der pädagogische Leiter meine Noten sah, wollte er mich dazu überreden, den Unterricht nicht einfach hinzuwerfen, er schlug mir sogar vor, in den Ferien zum Vater zu fahren, zumal die Studenten in der Zeit ja sowieso in der Landwirtschaft mithalfen. Aber nun machte es sich bemerkbar, dass ich hier eine unverdiente Demütigung erfahren hatte, als man mich als 15-jährigen Jungen allein deswegen vor die Tür gesetzt hatte, weil ich nicht so gewesen war, wie sie es sich vorgestellt hatten.
So verließ ich also das Swerdlowsker Technikum für Bergbau und Metallurgie, an dem ich nach Bestehen der Aufnahmeprüfungen nur eine einzige Woche zum Unterricht gegangen war.