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Robert Riedel. Einschränkungen

19. Nach Kasachstan

Ich bereitete mich auf die Fahrt vor, aber wie ich sie verwirklichen sollte, wusste ich nicht, denn ich besaß dafür kein Geld. Das Kinderheim konnte mir auch nichts geben – hier war ich ja offiziell schon abgemeldet. Einen Ausweg fand Stepan Rasumowitsch – er gab mir ein Stück Papier, welches ich mit einem rückdatierten Datum unterzeichnete. Darin stand, dass ich im August, als ich ins Technikum abgefahren war, nicht einen, wie es tatsächlich der Fall gewesen war, sondern zwei Anzüge erhalten hätte. Den zweiten Anzug nahm er für sich und gab mir dafür Geld. In der Kinderheimküche kochten sie für mich Fleisch, übergossen es mit Fett und füllten es in 1-Liter-Dosen; außerdem buken sie für mich Trockengebäck.

Mit den Fahrkarten war es auch nicht gerade einfach. Dem Leiter des Klenowskojer Ausweich-bahnhofs gelang es, wenn auch mit erheblicher Mühe, einen Platz in einem hier haltenden Zug zu reservieren. Aber es war nicht bekannt, wohin die Fahrkarte ausgestellt werden sollte. Laut Bahnkursbuch und gemäß der Karte, die im Zimmer des Leiters hing, gab es im Gebiet Karaganda keine Stadt namens Temirtau. Der Leiter empfahl daher, erst einmal ein Ticket in das Temirtau zu kaufen, das sich im Gebiet Kemerowo befand.

- Vielleicht haben sie im Brief die Regionen verwechselt, - meinte er.

Aber ich war nicht einverstanden:

- Geben Sie mir eine Fahrkarte nach Karaganda, dann wird mich jede beliebige Miliz aufgrund meiner Kinderheimpapiere schon bei meinem Vater abliefern.

Als der Leiter mir das Ticket aushändigte, sagte er mir noch Bescheid, dass ich auf jeden Fall in Petropawlowsk umsteigen müsste.

Stepan Rasumowitsch begleitete mich zum Ausweichbahnhof. Der Zug näherte sich. Stepan Rasumowitsch half mir und meinem Koffer in den Waggon, und der Zug setzte sich sogleich wieder in Bewegung.

Ich nahm den Platz ein, den der Zugschaffner mir zuwies. An den Fenstern huschten mir bekannte Orte, die waldbewachsenen Berge vorbei. Der Zug nahm Fahrt auf, der Waggon schaukelte leicht, rhythmisch ratterten die Räder. Und erst jetzt fühlte ich, dass dies ein Abschied für immer war, dass ich das Kinderheimleben und alles, was damit verbunden war, Gutes und Schlechtes, endgültig hinter mir ließ. Und es war nicht bekannt, was mich dort, wohin ich nun fuhr, erwartete.

Bei der Einfahrt nach Swerdlowsk erfuhr ich zufällig, dass der Zug, in dem ich saß, gar nicht über Petropawlowsk fahren sollte – er würde den nördlichen Abzweiger über Tjumen nehmen (der Stationsleiter hatte sich geirrt und mir das Ticket nicht für den Zug ausgestellt). Ich musste also schnellstens aussteigen. Auf dem Bahnhof waren viele Menschen, manche standen stundenlang, manche auch tagelang in den Schlangen vor den Kassen. Aber mir gelang es, noch am selben Tag einen Platz in dem Zug zu bekommen, der über Petropawlowsk fuhr.

Auf dem Bahnhof in Petropawlowsk waren noch viel mehr Menschen. In einer der langen Schlangen lernte ich zwei Burschen kennen, die nach Balchasch fahren wollten. Sie waren älter als ich, und sie sahen ziemlich verdächtig aus, aber das flößte mir keine Furcht ein – ich hatte nichts, was sie mir hätten klauen können, und in Gesellschaft reist es sich schließlich leichter. Wenn einer von uns sich für einige Zeit entfernte (tagsüber zum Essen oder zur Toilette gehen, am Auskunftsschalter etwas erfragen, und nachts, um zu schlafen) dann passten die anderen beiden abwechselnd auf. Erst am nächsten Tag bekamen wir Plätze für den benötigten Zug.

Nach Karaganda fuhren wir ohne besondere Abenteuer und Erlebnisse. Mich beunruhigte lediglich die Frage – gibt es dort, wohin ich fahre, eine Stadt namens Temirtau? Bereits unweit von Karaganda erfuhr ich, dass es eine solche Stadt gab (drei Jahre zuvor hatten sie die Siedlung Samarkandskij so benannt) und dass ich zur Ausweichstelle Solonitschki müsste.

Am späten Abend begab ich mich also zur Ausweichstelle Solonitschki. Mit mir gingen ein junger Bursche und ein paar größere Familien. Diese dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Menschen schienen mir Zigeuner zu sein, aber mein Reisegefährte (er stammte von hier) sagte, dass es sich um Tschetschenen oder Inguschen handele, die während des Krieges aus dem Kaukasus verschleppt worden seien. Bei ihnen war auch ein Anwerber, der sie von irgendwoher nach Temirtau bringen sollte.

An der Ausweichstelle stellte sich heraus, dass die Strecke nach Temirtau erst kürzlich rekonstruiert worden, jedoch noch nicht wieder in Betrieb genommen war, dass aber gelegentlich Güterzüge hier führe, allerdings mit ziemlich niedriger Geschwindigkeit.

Die Nacht verbrachten wir in dem kleinen Stationsgebäude. Am Morgen zeigte der Anwerber stürmische Aktivität, und in aller Eile begaben sich seine Bergbewohner zum Güterzug, der nach Temirtau fahren sollte. Ein großer Teil von ihnen wurde, zusammen mit Frachtgut, im überdachten Waggon untergebracht, die übrigen – auf der offenen Plattform mit Schamottesteinen. Der junge Bursche und ich kamen ebenfalls dort unter.

Hier hörte ich zum ersten Mal (nicht im Radio oder Kino, sondern „live“) den vielstimmigen Gesang der Bergbewohner – und nicht von Künstlern, sondern von einfachen Leuten. Ihrer schöner, trauriger Gesang, der aus dem Nachbarwaggon herüberscholl, entsprach recht treffend meiner eigenen unruhig-aufgeregten Stimmung.

Der Zug fuhr sehr langsam und hielt stets auf freiem Feld. Bis ins lediglich dreißig Kilometer entfernte Temirtau brauchten wir mehrere Stunden.

Zu beiden Seiten lag die trockene Steppe, die sich bis an den Horizont ausdehnte. Bereits bei der Anfahrt auf Temirtau wurde das große Staubecken sichtbar. Wir fuhren an riesigen Gemüsegärten vorbei; auf manchen arbeiteten gefangene Japaner in gelbgrünen Uniformen. Ein paar Baracken tauchten auf, Fabrikgebäude – und dann erreichte der Zug die Endstation. Der kleine Waggon, der anstelle eines Bahnhofsgebäudes aufgestellt war, trug die Aufschrift „Temirtau“.

Ins Zentrum musste man zu Fuß gehen, und ich kam erst bei Tagesende dort an. Nachdem ich einige Passanten nach der Miliz gefragt hatte, kam ich in den alten Teil der Stadt, der aus einer dichten Reihe niedriger Erdhütten bestand. Für mich, der ich in Sibirien und im Ural gelebt hatte, wo in jedem Dorf hohe Holzhäuser stehen, war dies alles ungewohnt, und kam mir in der einsetzenden Dämmerung irgendwie feindselig vor. Außerdem hatte man mich mehrmals in die falsche Richtung geschickt, denn die städtische Miliz war erst zwei Tage zuvor an einen neuen Ort umgezogen, und nicht jeder hatte davon erfahren. Das Milizgebäude betrat ich, als es bereits stockdunkel war.

Der Milizleiter sah sich meine Papiere an und meinte, dass ich zu der und der „Kommandantur“ gehen müsse. Lange erklärte er mir, wie ich sie finden würde und gab mir den Rat, mich zur Orientierung immer an den Schienenverlauf der alten Schmalspurbahn zu halten. In völliger Dunkelheit (es gab keine Beleuchtung) drang ich bis zu diesen Schienen im Bezirk der Erdhütten vor und begriff, dass ich mich tatsächlich an sie halten musste, um mich nicht zu verlaufen. Aber zunächst kehrte ich zur Miliz zurück, um mich dort draußen für die Nacht auf einer Bank niederzulassen; zum Glück herrschte trockenes Wetter. Die Bank stand nicht weit vom Eingang entfernt, und man konnte sehen, wie die Milizangehörigen und ein paar Leute in Zivil ein- und ausgingen. Dann kam der Diensthabende heraus und meinte, dass dies kein Aufenthaltsort sei. Aber ich wusste ja nicht, wohin ich sollte. Offenbar berichteten sie dem Leiter von meiner Anwesenheit, denn der rief mich kurz darauf zu sich ins Kabinett. Als er erfuhr, dass ich die Kommandantur nicht gefunden hatte, bot er mir an, die Nacht in der Ecke, auf einem leeren Tisch, zu verbringen, der in den neuen Räumlichkeiten der Miliz wohl noch keinen vernünftigen Platz gefunden hatte.

Nachdem er meine Papiere im Safe eingeschlossen hatte, ging er fort; ich legte mich auf den Tisch und schlief darauf bis zum Morgen.

Als der Leiter am nächsten Morgen ankam, war ich bereits wach. Er fragte mich, woher ich käme und wohin ich wollte. Dann führte er ein Telefongespräch, und sofort erschien ein großgewachsener Mann in Militäruniform. Das war Gaburenko, der Kommandant der örtlichen Sonderkommandantur.

- Du bist der Sohn von Iwan Dawidowitsch? Gehen wir, ich bringe dich zu ihm.

Und er brachte mich zur Genossenschaft „Morgenröte“, wo, wie er meinte, mein Vater arbeiten musste. Wir betraten einen großen Hof, in dessen Hintergrund sich eine Wurstfabrik befand. Als wir dort eintraten sagte Gaburenko laut:

- Iwan Dawidowitsch, ich hab‘ dir deinen Sohn gebracht!

Und da sah ich den Vater. Er kam mir viel kleiner vor, sehr hager, mit stark ergrautem Haar. Wir umarmten uns.

Ein paar in der Fabrik arbeitende Frauen traten heran und fragten etwas. Der Vater sah ein wenig verwirrt aus – er hatte auf sein Gesuch eine Antwort aus der Kommandantur erwartet – und nun stand ich selber vor ihm.

Er bat mich zu warten. Die Räucherkammer wurde geöffnet und einige hölzerne Stellagen mit fertiger Zervelatwurst herausgerollt. Während sie arbeiteten, betrachteten mich die Frauen mitleidig, seufzten und sprachen miteinander. Schmutzig und zerknittert von der langen Fahrt, sah ich tatsächlich nicht besonders gut aus. Ich setzte mich hin und dachte, dass es schön wäre, wenn auch Mama hier in Temirtau wäre. Aber der Vater sagte nichts; er half beim Hervorrollen der Wurstgestelle. Eine Frau bot mir ein Stange noch heißer Zervelatwurst an. Die Wurst duftete dermaßen appetitlich und ich war so hungrig, dass ich gar nicht bemerkte, wie ich das ganze Stück auf einmal aß. In der Fabrik erinnerte man sich noch lange daran, wie ausgehungert Iwan Dawidowitschs Sohn dorthin gekommen war. Aber ich meine, dass auch ein weniger hungriger Mensch ein frisches Stückchen Zervelatwurst nicht abgelehnt hätte.

Auf dem Weg zu sich nach Hause wollte der Vater irgendwie nicht mit der Sprache heraus, er sagte, dass er schon früher mit Mama Probleme gehabt hätte, dass er nicht wüsste, wo sie jetzt sei, und dass bei ihm inzwischen eine andere Frau lebe. Wir betraten die Wohnung, die er in einem Privathaus genommen hatte, und dort machte er mich mit Tante Marusja bekannt, die nun meine Stiefmutter war.


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