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Robert Riedel. Einschränkungen

20. Temirtau – Eisenberg

Die Arbeitslager der Trudarmee wurden erst 1947 geschlossen, zwei Jahre nach Kriegsende, und man stellte den Russland-Deutschen zur Wahl, ob sie an ihren Lagerorten bleiben und ihre Familien zu sich holen oder lieber dorthin zurückkehren wollten, von wo man sie seinerzeit ausgesiedelt hatte. In der Holzbeschaffung weiterarbeiten – das wollte der Vater nicht, aber er hatte auch niemanden in der Region Krasnojarsk, zu dem er hätte zurückgehen können: Mama, von der er bereits geschieden war, lebte irgendwo in der burjatischen Mongolei, und wo ich mich befand, wusste er nicht. Man erlaubte ihm, nach Kasachstan zu fahren, in die noch junge Stadt Temirtau, in der viele Arbeitshände vonnöten waren.

In der Übersetzung aus dem Kasachischen bedeutet „Temirtau“ - Eisenberg. Die Bezeichnung wurde dadurch gerechtfertigt, dass in der Stadt eine Stahlgießerei in Betrieb war und sich auch der Bau eines großen Metall-Kombinats abzeichnete. Eisenberge gab es dort natürlich nicht, aber es gab Berge, die denen des Ural ähnelten. Den Kindern im Heim schrieb ich damals: „Hier haben wir genau solche Berge, wie bei uns, nur dass sie nicht bewachsen sind“.

Die junge Stadt wuchs schnell – man baute Industrieobjekte, Wohnblocks. In der Stadt befanden sich, wie es stets in der Nähe derartigen Baustellen der Fall war, einige GULAG-Lager, unter anderem eines für japanische Kriegsgefangene, das aber bald geschlossen wurde.

Nachdem der Vater also in Temirtau angekommen und dort bei der Sonderkommandantur registriert worden war, begann er als regulärer Arbeiter tätig zu werden. In der Sonderkommandantur wusste man, dass er über Erfahrungen in der Wurstherstellung verfügte (in den zwanziger Jahren hatte er tatsächlich als Geselle in einer Wurst-Genossenschaft gearbeitet). Man rief ihn zu sich und sagte ihm, dass er hier eine Wurst-Produktionsstätte organisieren sollte. Er machte sich aktiv an die Sache heran, mauerte in einer der Räumlichkeiten der damaligen Genossenschaft „Morgenröte“ einen Räucherofen, wählte Einrichtungs- und Ausrüstungsgegenstände aus, und dann nahm die Wurstfabrik ihren Betrieb auf. Die Wurst, die hier produziert wurde, war in der ganzen Stadt bekannt – sie schmeckte immer besser, als die angelieferte. Und wenn sich wichtige Veranstaltungen abzeichneten (Partei-Konferenzen, feierliche Zusammenkünfte), wandte sich die Stadtleitung , die meinen Vater als vortrefflichen Meister seines Fachs kannte, an ihn; und dann blieb er mehrere Nächte hindurch in der Fabrik und fertigte Wurstdelikatessen für die Büfetts der Obrigkeit.

Tante Marusja, meine Stiefmutter, war ebenfalls 1947 hierhergekommen, um sich vor der Hungersnot in der Ukraine zu retten. Sie war eine große, grobe Frau von etwa dreißig Jahren, die beim Sprechen ukrainische und russische Wörter durcheinanderbrachte. Sie arbeitete nicht, kümmerte sich um den Haushalt und die kleine Wirtschaft – sie hielten ein paar Schweine und schafften sich später auch noch eine Kuh an.

Für mich war hier vieles ungewohnt, vor allem in der ersten Zeit. Bis dahin hatte ich in Kinder-Kollektiven gelebt, um mich herum waren meine Kameraden, mit denen ich gemeinsam alle Ereignisse der Kinderzeit durchlebte. Hier ging ich in die Schule, in die achte Klasse, aber meine Klassenkameraden wohnten in einem anderen Teil der Stadt, sie hatten schon alle ihre Freunde, ihre Gesellschaft, während ich der Einzige aus dieser Gegend war. Außerdem waren meine Familienangehörigen, im Unterschied zu den Erzieherinnen im Kinderheim, weit von meinen schulischen Belangen entfernt: vieles, was mich interessierte, worüber ich gern Bücher las oder was ich von den Lehrern erfuhr, war ihnen völlig unverständlich.

Mein Leben wurde ziemlich eintönig. Zur Schule ging ich um die Mittagszeit, zur zweiten Schicht. Morgens ging ich ins Stadtzentrum, um Brot zu holen, wobei ich mich stets in eine lange Schlange einreihen musste. Sobald ich zurückgekehrt war, machte ich mich an meine Hausaufgaben. Einige Lehrbücher besaß ich nicht, für einige musste ich durch die ganze Stadt laufen, um sie von einem Klassenkameraden zu bekommen.

Die Zeit für die Hausaufgaben reichte oft nicht, aber irgendwie kam ich zurecht und hatte keine Probleme mit meinen schulischen Leistungen. Abends las ich Bücher, die ich aus der Bibliothek des Bauarbeiter-Klubs auslieh, die sich nicht weit von uns entfernt befand.

Mein ganzes Getue mit den Büchern und Schulheften ärgerte und reizte Tante Marusja.

- Ist schon so groß geworden und arbeitet nicht, - meinte sie wiederholt. – Ewig liest er diese Romane (wobei sie das „o“ betonte)!

Aber Vater,, selber ein halber Analphabet, der erst als Erwachsener ein wenig Russisch Schreiben gelernt hatte, war der Meinung, dass ich eine gute Ausbildung haben sollte, und deswegen schenkte er ihrem Geknurre keine weitere Beachtung.

Irgendwie führten sie ein merkwürdiges Familienleben. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Schrank, den er vor den anderen sorgfältig verschlossen hielt. Vater weihte sie nie in seine Angelegenheiten ein, redete nie über irgendwelche ernsthaften Themen – in ihren Gesprächen ging es immer nur um häusliche Dinge. Wenn der Vater von der Arbeit heimkehrte, dann erzählte sie ihm haarklein, was sie den ganz Tag über alles erledigt hatte, dass ich mitunter schon sagen wollte:

- Und vergessen Sie nur nicht zu erzählen, dass sie den Hocker einmal woanders hingestellt haben!

So vergingen drei Jahre. Ich absolvierte die achte Klasse, dann die neunte und war nun bereits in der zehnten. Aber in diesen Jahren wurde ich mit der Schule N° 1 trotzdem nicht „warm“. Mit meinen Klassenkameraden hegte ich ausgeglichene Beziehungen, aber in der Schule gaben die Schüler aus den, wie wir meinten, „reichen“ Familien den Ton an. Es waren Sprösslinge aus verschiedenen Reihen der „Obrigkeit“. Sie bildeten stets ein Grüppchen und betrachteten, wie mir schien, die anderen ziemlich von oben herab. Sie waren besser gekleidet als wir, einige besaßen sogar Anzüge. Ich litt darunter ganz besonders, denn ich trug Flanell-Pumphosen und eine kurze Jacke aus demselben Material. All diese Söhnchen schienen mir „aufpoliert und geschniegelt“, und ich fühlte mich in ihrer Umgebung äußerst unwohl.

Es ist gut möglich, dass ich alles nur besonders heftig empfand, dass es sich um den Maximalismus eines Heranwachsenden handelte. Wie dem auch sei, aber am Schulleben nahm ich praktisch nicht teil und sah nach dem Unterricht immer zu, dass ich möglichst schnell nach Hause kam.

Aber das Lernen gefiel mir. In vielerlei Hinsicht war dies das Verdienst unserer Lehrer, die auf ganz unterschiedlichen Wegen in diese verlassene Gegend geraten waren. Die intelligente, von Natur aus feinfühlige Nina Nikolajewna leitete bei uns die Literaturstunden. Ihr war es zu verdanken, dass viele von uns sich in Literatur auskannten und sie liebten. Daniel Borisowitsch, ein energischer Koreaner, lehrte uns irgendwie auf seine Weise Mathematik. Einer seiner Methoden war, dass er in einer ganz gewöhnlichen Unterrichtsstunde urplötzlich eine Blitzkontrolle ohne Vergabe von Noten durchführte. So ein „Blitz“ verwandelte sich in einen Wettstreit, wo jeder sich nach Kräften bemühte über den anderen zu triumphieren. Die pädagogische Leiterin, Walentina Aleksandrowna, erteilte so gründlichen Chemie-Unterricht, dass die Chemie zu meinem Lieblingsfach wurde und ich davon zu träumen begann, einmal selber Chemiker zu werden. Aber am liebsten mochten wir Georgij Awtonomowitsch, den Lehrer für Geschichte und Geographie, ein ehemaliger Frontsoldat mit Narben im Gesicht. Er verhielt sich seinen Schülern gegenüber respektvoll, und seine Stunden waren immer interessant. Mitunter führte er statt einer Befragung eine Art internationale Konferenz durch, um dabei unsere Meinung über die Gründe irgendeines hundert Jahre zurückliegenden Ereignisses herauszufinden. Und es war einfach eine Schande, wenn man da nicht auf dem Laufenden war. Im Unterricht stellte er mit uns gemeinsam Überlegungen an, teilte seine Gedanken mit uns. Und einige davon verblüfften mich wirklich. Er sagte beispielsweise, dass die Massenvertreibung arabischer Muselmänner, vor allem Handwerker, der Beginn des Untergangs des aufblühenden Spaniens waren. Oder – nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich die Industrie in Deutschland so rasant entwickeln, weil das Land zerstört war und und anschließend nach viel moderneren technologischen Standards wieder aufgebaut wurde.

Jahre später erfuhr ich mit großer Verwunderung, dass er weder Historiker noch Geographielehrer gewesen war, sondern vielmehr – Chemielehrer.

Und Zuhause blieb alles beim Alten. In diesen Jahren kam es mehrmals vor, dass der Vater keine Arbeit hatte (der von ihm organisierte Produktionsbetrieb wurde auf Anordnung der regionalen Behörden geschlossen). In diesen kurzen Zeiträumen schickte Vater mich auf den Markt, um dort irgendetwas von seinen Kleidungsstücken zu verkaufen (einen Mantel, ein Paar Stiefel u.a.). Und außerdem – es gab in diesen Jahren einige Skandale zwischen Vater und Tante Marusja, woraufhin sie dann, zu meiner Freude, vorübergehend zu ihrer Schwester zog, die ebenfalls nach Temirtau gekommen war. Aber zu meinem Bedauern, kam sie auch jedes Mal wieder zurück.

Die tiefgründige Feindseligkeit zwischen mir und meiner Stiefmutter drückten meine Stimmung ständig nieder, und ich konnte die Stunde nicht mehr abwarten, in der ich eines Tages dieses Haus verlassen würde. Ich träumte von einem Studium am Institut, ich wollte weiterlernen.


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