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Robert Riedel. Einschränkungen

22. „Einschränkungen“

Als ich im Kinderheim erfahren hatte, dass irgendeine „Kommandantur“ mich suchte, hatte ich im Klang dieses Wortes etwas Romantisches empfunden. Aus Büchern wusste ich, dass es eine Kriegskommandantur und eine Kreml-Kommandantur gab, bei Puschkin hatte ich von einer Festungskommandantur gelesen. Und so erwartete ich mit großem Interesse die Begegnung mit der „Kommandantur“, die mich ausfindig gemacht hatte.

Der Kommandant, den ich in Temirtau sah, hatte meine Erwartungen nicht enttäuscht – er war ein hochgewachsener, korrekter Angehöriger des MWD. Von welcher Kommandantur er Kommandant war, wusste ich nicht; ich hatte keinerlei Vorstellung von dem, was es mit einer „Sonderkommandantur“ auf sich hat.

Einen Monat nach meiner Ankunft, Anfang November 1948, wurde ich volljährig – ich wurde 16 Jahre alt. Bei der örtlichen Miliz erhielt ich statt eines Passes eine Bescheinigung über meine persönliche Identität – sie musste jedes halbe Jahr erneuert werden. In der Sonderkommandantur wurde ich registriert (zur „Anmeldung“, wie sie das damals nannten), und man sagte mir, dass ich von nun an jeden Monat einmal zum „Anmelden“ dorthin zu kommen hätte.

Für mich kam das alles völlig unerwartet, und nach meinem freien Leben im Kinderheim wurden hier Unterdrückungsmaßnahmen auf mich ausgeübt. Später unterlag das allerdings einem Gewöhnungsprozess (wie auch ein Hund sich an seine Kette gewöhnt), aber der innere Protest gegenüber Ungerechtigkeiten (denn ich hatte mir ja keinerlei Vergehen zuschulden kommen lassen) blieb ein Leben lang in mir wohnen.

Damals in Sibirien, als ich noch keine zehn Jahre alt war, begriff ich bereits, dass unsere Aussiedlung und all unser Elend daher rührten, dass wir der gleichen Nationalität angehörten, wie diejenigen, die gegen uns Krieg führten. Mit zunehmendem Alter verstand ich dann, dass es nicht nur für uns eine schwere Zeit war, sondern für alle – und das alles nur wegen des Krieges. Der Krieg wird zu Ende gehen, dachte ich, und alles wird wieder so wie vor dem Krieg sein. Und jetzt, nachdem bereits drei Jahre seit dem Ende des Krieges vergangen waren, hatte sich für uns offenbar nicht nur nichts geändert, sondern alles war noch viel schlimmer geworden – denn das Regime der Verbannung wurde strenger und strenger gehandhabt. 1945 wurde für die Sonderumsiedler die Sonderkommandantur eingeführt, und im Jahr meiner Ankunft in Temirtau kam ein Ukas heraus, in dem stand, dass diese Verschleppung für immer gültig sei, und dass jeder, der die Grenzen seines Zwangswohnortes verlässt, mit zwanzig Jahren Zwangsarbeit bestraft würde.

Eine weitere Verschärfungsmaßnahme war die Einführung sogenannter „Djesjatidworki“. Ich war Schüler und lernte in der zehnten Klasse, als man anfing mich so zu nennen. Jede Woche musste ich zur Kommandantur gehen, um dort Bericht zu erstatten, ob es vor Ort Verbannte und Sonderumsiedler gäbe, die in unserer Straße wohnten. Dazu musste ich Rundgänge durch die Wohnungen machen, und das war furchtbar unangenehm. Du kommst zu einer Wohnung und schämst dich; die Wohnungsinhaber öffnen die Tür, und als sie mich, das Jungchen, welches sie kontrollieren soll, sehen, verfinstern sich ihre Gesichter. Ich stelle ihnen eine Frage, sie antworten, aber ich fühle – sie können gar nicht abwarten, bis ich endlich wieder gegangen bin. Dann gehst du zum Nächsten, und da wiederholt sich das Ganze dann....

Einmal beorderten sie mich dringend zum Kommandanten, der mich mit lautem Schreien begrüßte und mir drohte, mich ins Gefängnis zu werfen. Aus seinem Geschrei entnahm ich, dass eine junge Deutsche fortgelaufen war, die in unserer Straße wohnte. Immer noch brüllend stand der Kommandant auf, zog sich seinen Mantel an, und wollte mich, wie ich meinte, zum Gefängnis bringen. Wir traten in den Korridor hinaus, wo eine Gruppe Frauen im Sprechzimmer auf den Kommandanten warteten. Ich war verstört und weiß wie eine Wand, und aus meinem Aussehen zogen die Frauen den Schluss, dass ich wohl bestraft werden sollte. Sie umringten den Kommandanten:

- Wo bringen Sie das Jungchen hin? Was hat er denn Schlimmes angestellt?

Ob es nun die Frauen waren, die mir halfen, oder ob der Kommandant mich bloß hatte erschrecken wollen – jedenfalls kehrte er um und ging in sein Kabinett zurück. Die Frauen fragten mich etwas, aber ich konnte überhaupt nicht antworten und ging mit schleppenden Schritten nach Hause.

Später stellte sich natürlich heraus, dass die „Geflohene“ gar nicht weggelaufen, sondern lediglich ohne Genehmigung zum Markt nach Karaganda gefahren war.

Die Sonderkommandantur besaß große Macht über uns, ihre „Schutzbefohlenen“. Wenn es dem Kommandanten gefiel, konnte er das Leben eines jeden von uns gründlich verderben. Er konnte einem beispielsweise zusätzliche Pflichten auferlegen (wie es bei mir der Fall war), oder die Erlaubnis versagen, die Stadtgrenzen zu verlassen (zur entfernten Heumahd oder auf den Markt), einen zu schweren oder gesundheitsschädlichen Arbeiten fortschicken usw. Und wenn ein Sonderumsiedler an Arbeitsplätzen tätig war, wo ,an etwas mitnehmen konnte, (im Warenlager, im Laden, im Fleischkombinat u.a.), dann übte der Kommandant seine Machtposition durch ständiges „Schröpfen“ aus. Ständig kam er beim Vater in der Wurstfabrik angelaufen und lud sich dort Wurst und Fleisch auf - ohne zu bezahlen. Offenbar hatte man ihm wohl einmal nicht genug gegeben (seine Forderungen ließen sich nicht immer erfüllen), und um seinen Druck auf den Vater zu verstärken, hatte er dann mich, einen Minderjährigen, zum „Djesjatidworka“ ernannt.

Ich war etwas ein halbes Jahr lang als „Djesjatidworka“ in Aktion, bis zu meiner Abfahrt nach Karaganda. Das ganze halbe Jahr lang war ich verpflichtet, mich nicht wie alle anderen einmal im Monat, sondern tatsächlich einmal pro Woche zu „melden“ und mich registrieren zu lassen.

Als ich im August 1951 in Karaganda ankam und mich am Technikum einschrieb, wurden wir in der Neustadt sogleich bei der Sonderkommandantur angemeldet. Das Kommandantenregime war hier noch grausamer als in Temirtau. Man durfte sich nicht nur nicht über die Stadtgrenzen hinaus entfernen, man durfte nicht einmal andere Stadtbezirke aufsuchen. In den Geschäften konnte man damals kaum etwas kaufen, alles wurde auf dem Sachmarkt erstanden, der sich in einem anderen Rayon befand, in der Altstadt. Man musste also in aller Heimlichkeit zum Markt fahren, und diese „gesetzeswidrigen“ Fahrten konnten erhebliche Unannehmlichkeiten für uns mit sich bringen.

Die Kommandantur war ständig dabei uns zu kontrollieren, und eines Sonntags trafen die Kontrolleure mich und Nikolaj Karius nicht an (wir waren gerade auf dem Sachmarkt). Am nächsten Tag kamen sie extra noch einmal, um uns zu verhören – wo wir gestern gewesen seien? Wir mussten uns aus der Sache herauswinden, uns etwas ausdenken.

Die Stipendien reichten nicht, und viel Studenten fuhren zu ihren Eltern nach Hause, um von dort Lebensmittel zu holen. Für Studenten aus den Reihen er Sonderumsiedler stellten solche Fahrten ein Riesenproblem dar. Die Fahrt nach Temirtau galt als „Fahrt in eine andere Stadt“ (obwohl sich Temirtau nur dreißig Kilometer entfernt befand), und die Erlaubnis dafür musste nicht in der Bezirkskommandantur, sondern bei der regionalen MWD-Behörde eingeholt werden. Wir hatten rechtzeitig Gesuche eingereicht, fast eine Woche im Voraus, aber für gewöhnlich zögerte man die Bewilligung hinaus, so dass ich oft den Zug nicht mehr erreichte. Einen Busverkehr gab es nicht, man musste dann zusehen, dass man von einem Lastwagen, der zufällig in dieselbe Richtung fuhr, mitgenommen wurde. Manchmal fuhren wir auch los, ohne lange auf die Erlaubnis gewartet zu haben, aber ebenfalls per Anhalter (wenn wir in solchen Fällen mit dem Zug gefahren wären, hätten sie uns bei der Kontrolle der Papiere festnehmen können).

Nach Stalins Tod wurde das Sonderkommandantur-Regime etwas lockerer. Wir bekamen richtige Pässe, in denen allerdings ein großer Stempel mit dem Aufdruck „Aufenthalt innerhalb des Gebietes Karaganda gestattet“. Alle nannten diesen Stempel „mit Einschränkung“.

Endgültig wurde die Sonderkommandantur 1956 abgeschafft. Wir erhielten saubere Pässe, ohne den vorherigen Stempel, waren jedoch verpflichtet ein Dokument zu unterschreiben, in dem man uns darüber in Kenntnis setzte, dass wir an den Ort, von dem wir ausgesiedelt worden waren, nicht zurückkehren dürften. Mit anderen Worten: die „Einschränkungen“ (und nicht nur in dieser Hinsicht) blieben; wir waren auch weiterhin Menschen zweiter Klasse.

Nach all dem ist in mir immer ein Gefühl von Hass gegenüber dem Regime geblieben, in dem wir auch noch weitere Jahrzehnte existieren mussten. In der „Tauwetter“-Periode schlug man mir sogar vor, der kommunistischen Partei beizutreten – selbstverständlich wäre das für meine Karriere förderlich gewesen und hätte mir das Leben erleichtert. Aber ich lehnte das Angebot unter verschiedenen Vorwänden ab – ich wusste nur zu gut, was das für eine „Partei“ war.

Und all diese Jahrzehnte habe ich in dem Bemühen gelebt zu beweisen, dass ich kein Mensch zweiter Klasse bin. Und ich hoffe sehr, dass mir das gelungen ist.


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