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Robert Riedel. Einschränkungen

23. Naum Korschawin

Als die Gruppe RUM-51D zum ersten Mal zusammentraf, wurde ich auf einen merkwürdigen Burschen in grauem Pullover – von kleinem Wuchs, mit einem riesigen Kopf auf den schmalen Schultern und einer großen Brille in dem weichen Gesicht – aufmerksam. Er bewegte sich irgendwie ungeschickt, und beim schnellen Gehen schlenkerte er unnötig viel mit den Armen. Der Junge war älter als ich (ich war damals achtzehn, er fünfundzwanzig).

Sein wenig repräsentatives Aussehen bildete einen scharfen Kontrast zu seiner klaren, ausdrucksvollen Sprache. Das Erste, was mir durch den Kopf schoss – er ist ein „Schwätzer“, einer jenen redseligen Lagerinsassen (mir waren solche schon begegnet). Er trat auf mich zu, und wir unterhielten uns. Es stellte sich heraus, dass er Moskauer war, ehemaliger Student am Institut für Literatur, und dass er Naum Mandel hieß (heute ist er als Poet Naum Korschawin bekannt). In Moskau war er verhaftet worden, verbrachte einige Zeit im Gefängnis und wurde dann nach Sibirien geschickt. Nach der Verbannung durfte er nicht wieder nach Moskau zurückkehren, so kam er nach Karaganda (irgendwo hier wohnte sein „Onkelchen“, wie er sagte). Außer Verseschreiben konnte er nichts, einen bestimmten Beruf hatte er nicht, und er war ans Bergbau-Technikum gekommen, weil er dort ein Stipendium und einen Wohnheimplatz bekommen hatte.

In Karaganda gab es viele politisch Verbannte, und unter ihnen befand sich auch eine Gruppe junger Leute aus der Hauptstadt, die Naum noch aus der Moskauer Zeit kannten. Es waren Studenten, Journalisten, junge Wissenschaftler. Sie alle lebten in den Erdhütten von Michajlowka, unweit der Neustadt, die bereits damals das kulturelle Zentrum Karagandas darstellte. Als Naum sich im Studentenwohnheim niederließ, zog es die Jugend oft zu uns, und dann blieben sie bis spät in die Nacht in seinem Zimmer.

Als ich sie etwas näher kennenlernte, eröffnete sich mir eine andere, unbekannte Welt. Ich hörte mit Interesse, wie sie über Moskau berichteten, an gemeinsame Bekannte zurückdachten, unter denen sich auch bekannte Leute befanden. Sie sprachen und stritten häufig über Literatur.

Einige ihrer Gewohnheiten kamen mir merkwürdig vor. Obwohl sie erwachsene Menschen waren, nannten sie sich gegenseitig mit kindlichen Vornamen. Naum hieß beispielsweise Emka (vom Vornamen Emmanuel), Aleksander Jesenin-Wolpin – Alik, der Journalist Jurij Mironow- Jurka. Eine junge Frau, deren Mann vor nicht allzu langer Zeit verhaftet worden war, hörte auf den rätselhaften Namen Wawka. Nebenbei gesagt: mich, den Jungen, regte stets ihr Aussehen auf – auch darin lag etwas Rätselhaftes. Hier eine Szene aus unserem Zimmer : schlank, in einem engen schwarzen Kleid, mit feinen Gesichtszügen, sitzt sie ein wenig abseits von den anderen und raucht nachdenklich eine Papirossi, die sie in ihren zarten Fingern hält. Später tauchte bei uns Sajka („Häschen“) auf, eine junge Studentin aus Moskau, die an eine gut gebaute Süd-Kasachin erinnerte. Das war Sarja Wjesolaja, die jüngste Tochter des Schriftstellers Artjom Wjesoly, den man in den 1930erJahren erschossen hatte.

Ich nannte sie auch bei ihren Kindernamen, aber Naum mit dem Namen Emka anzureden, der eine weibliche Endung hatte, erschien mir blödsinnig. Auch in den nachfolgenden Jahren nannten seine Moskauer Freunde ihn weiter Emka, aber für mich blieb er immer Naum – in gewisser Weise zur Erinnerung an unsere gemeinsame karagandinsker Jugend.

Mitunter kam Alik Jesenin-Wolpin (der Sohn Sergej Jesenins) zu uns. Ein magerer junger Mann mit hellem Haar, der etwas kränklich wirkte und seinem Vater überhaupt nicht ähnlich war. Ungeachtet seiner Jugend, war er bereits angehender Doktor der Wissenschaften (in irgendeinem unverständlichen Bereich der Mathematik). Nachdem ich das erfahren hatte, quälte ich ihn ebenfalls mit „unverständlichen“ Fragen – was es beispielsweise mit der Relativitätstheorie auf sich habe oder was man eigentlich unter der vierten Dimension verstehe.

Im Herbst 1951feierten wir im örtlichen Restaurant Naums Geburtstag. Wir waren ein paar Studenten, und Alik war auch mit dabei. Nachdem er seinen Zimljansker Wein getrunken hatte, veränderte er sich, sein Gesicht fing an frischer auszusehen und seine Ähnlichkeit mit Sergej Jesenin wurde spürbar. Wir begleiteten ihn alle nach Hause, und in der Dunkelheit Michajlowkas zitierte er uns seine Verse (irgendwas über ein einsames Schiff auf dem tosenden Meer).

Naum und ich sahen uns häufig, und das nicht nur, weil wir auf einem Zimmer lebten und in ein- und derselben Gruppe studierten. Ich war gern mit ihm zusammen, denn er war älter als ich und kannte das Leben. Und außerdem war er Literat und Poet und überhaupt – ein kluger, ungewöhnlicher Mensch. In unseren Gesprächen streiften wir die unterschiedlichsten Themen, darunter auch manches Ernsthafte. Initiator solcher Themen war meist Naum, und er war, wenn man das so ausdrücken kann, auch der Hauptvortragende. Und es ist auch verständlich, weshalb das so war – er musste seine Gedanken mit den anderen teilen, denn er war aus dem literarischen Milieu herausgerissen worden, von den Lesern isoliert (sein erster Sammelband kam erst zehn Jahre später heraus).

Literatur hatte ich lediglich im Rahmen und Umfang des Schulunterrichts kennengelernt, und von Naum erfuhr ich vieles, wovon ich früher keine Vorstellung gehabt hatte. Wenn er über Literatur sprach, dann gab es für ihn keine Autoritäten, und zu allem hatte er seine eigene, von niemandem abhängige Meinung. Er konnte zum Beispiel offen sagen, dass einige Gedichte Nekrasows noch nicht den richtigen Schliff hätten, oder sich missbilligend über einen modernen Dichter äußern. Er erzählte von Begegnungen mit bekannten Poeten und Schriftstellern. Von irgendwoher hatte er den Sammelband mit Gedichten Sergej Jesenins mitgebracht, der bereits in den 1920er Jahren herausgekommen war, und zahlreiche Jeseninsche Gedichte las ich damals zum ersten Mal. Ich besaß einen zweibändigen Majakowskij, den ich schon zu Schulseiten geliebt hatte, und ein Bändchen von Blok. Die Verse dieser und anderer Poeten erklangen häufig in unserem Zimmer. Er zitierte mir seine Gedichte der vergangenen Jahre, zeigte mir neu geschriebene.

In unseren Unterredungen ließen wir auch die Politik nicht aus. Über das Sowjet-Regime, den Unsinn, den es im Gebiet Karaganda angerichtet hatte, sprach Naum mit solcher Entrüstung, dass ich ihn beruhigen musste, besonders dann, wenn Fremde in der Nähe waren. Er bewertete Erscheinungen wie die Massenrepressionen, den Kampf gegen den Kosmopolitismus, die „Ärztesache“, was nach dem Tode Stalins vollständige Bestätigung fand.

Wie alle anderen Studenten auch, gerieten wir auch in verschiedene Geschichten hinein. Im Korridor des Wohnheims trafen wir einmal einen Studenten aus unsrem Zimmer, der irgendwo kräftig einen über den Durst getrunken hatte und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Mit Müh und Not schleppten wir ihn ins Zimmer. Wir bemerkten nicht, dass uns der neu ernannte Komsomolzen-Organisator des Technikums dabei beobachtet hatte. Aufgrund seiner Meldung erging am nächsten Tag der Befehl, uns Dreien einen Tadel zu erteilen – „wegen Trunkenheit“, wie es so schön heißt. Bei einem solchen Tadel verschlechterten sich die Noten für das Benehmen und die Stipendien wurden entzogen. Für uns – und ganz besonders für Naum – war das eine Katastrophe; andere Existenzmittel besaß er nicht. Der Direktor des Technikums, der wusste, dass Naum ein Moskauer Poet war, zeigte ihm gegenüber Respekt und konnte bei diesem Missverständnis schnell Klarheit schaffen. Die Stipendien wurden uns nicht entzogen, aber der Tadel „wegen Trunkenheit“ blieb stehen – zur Abschreckung für die vierzehnjährigen Erstsemester, die, nachdem sie das erste Stipendium erhalten hatten, häufig in irgendwelche Trinkereien gerieten.

Das erste Produktionspraktikum absolvierte Naum in einer der Schachtanlagen. Er war Brigadeleiter für Belüftungsangelegenheiten – er kontrollierte die Arbeit der Gasmesser, welche den Methangehalt der Stollenluft anhand der Flammenlänge mit einer speziellen Kerosinlampe ermittelten, und achtete auf die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften. Naum sagte, dass die Leute im Schacht die Vorschriften nicht sehr genau nähmen und der Schacht, wenn das so weiter ging, mit Sicherheit irgendwann in die Luft fliegen würde. Und tatsächlich – einige Monate später gab es dort eine Methangas-Explosion, Menschen kamen ums Leben.

Mit der Zeit wurde Naum bekannt, die örtliche Zeitung begann mit der Veröffentlichung seiner Gedichte. Jedes Erscheinen war für uns ein Ereignis, das wir auf Studentenart feierten.

Das Lernen fiel ihm schwerer als mir – ich war ja praktisch frisch von der Schule gekommen. Und auch von seiner ganzen Natur her war er ein echter Humanitarier, weit entfernten von allen technischen Weisheiten.

Wie dem auch sei, Naum absolvierte das Technikum. Eine Zeit lang arbeitete er bei der karagandinsker Zeitung, dann fuhr er ins Moskauer Gebiet und lebte später in Moskau. Anfang der 1970er Jahre begann man ihn zu unterdrücken und zu verfolgen, bis er sich gezwungen sah, in die USA auszureisen.

Nach dem Technikum begegneten wir uns von Fall zu Fall noch. Aber unsere freundschaftliche Verbindung, die in den Studentenjahren entstanden war, brach nie ab.


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