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Robert Riedel. Einschränkungen

24. Der heiße Sommer des Jahres 1953

Wenn man dem bekannten Film „Der kalte Sommer des Jahres 1953“ Glauben schenken darf, dann war der Sommer auf der Kolyma kalt, aber in Karaganda war er in jenem Jahr trocken und heiß. Ich absolvierte mein Vordiplom-Praktikum im Kirow-Schacht. Als ich einmal nach der Nachtschicht aus dem Schacht auffuhr, musste ich daran denken, dass ich Mamas letzten Brief noch nicht beantwortet hatte. Ich musste ihr noch einmal schreiben, dass ich sie nach Beendigung des Technikums und nachdem ich eine Arbeit gefunden hatte, zu mir holen würde.

Der Briefwechsel zwischen uns begann irgendwann im Januar dieses Jahres. Sie hatte meine Adresse ausfindig gemacht und mir einen langen, wie zu einer Ziehharmonika vielfach gefalteten Brief geschickt. Sie beschrieb darin, was in den vergangenen zehn Jahren alles mit ihr geschehen sei. Anfang 1943, nach der Mobilisierung in die Trudarmee, hatte man sie, zusammen mit anderen Frauen, in die burjatische Mongolei gebracht. Sie hatte in der Holzfällerei gearbeitet und anschließend auf einer Schweinefarm.In den letzten Jahren war sie in Ulan-Ude angesiedelt und arbeitete dort in einem Kindergarten. In ihrem Brief stellte sie mir viele Fragen - auch nach dem Vater.

Ich antwortete ihr, erzählte von meinen Abenteuern, teilte mit, dass ich am Technikum studierte und danach in einem Bergwerk arbeiten würde. Ich schrieb, dass ich auch über den Vater Bescheid wüsste. Von ihr kamen häufig Briefe, ich antwortete. Wir schmiedeten Pläne, wie sie zu mir kommen sollte und wie wir gemeinsam leben würden.

.... Als ich also nun aus dem Schacht wieder ans Tageslicht kam, gab ich das Selstrettungserät (Atemschutzgerät) und die Grubenlampe ab, wusch mich in der Kaue, zog mich um und fuhr mit der Straßenbahn zum Studenten-Wohnheim. Dort hielt mich die Diensthabende an:

- Robert, deine Mama hat dich angerufen. Sie wartet auf dem Bahnhof in der Altstadt.

Zweifelnd sah ich sie an – sie musste sich geirrt haben, ich wollte Mama doch erst noch in die burjatische Mongolei schreiben.

Zum Bahnhof fuhr ich natürlich, obwohl ich immer noch nicht glauben mochte, dass Mama tatsächlich schon da war. Die Straßenbahn war lange bis zur Altstadt unterwegs, danach musste ich zu Fuß weiter. Es war bereits Mittag, als ich das alte Bahnhofsgebäude betrat. In der entferntesten Ecke der leeren, halbdunklen Halle saß einsam und verlassen eine kleine, völlig ergraute Frau. Ich wusste sofort – das war Mama. Weinend stürzte sie auf mich zu, und wir umarmten uns...

Man kann sich wohl vorstellen, was sie durchgemacht haben muss – zehn Jahre hatten wir uns nicht gesehen, als zehnjähriges Jungchen hatte sie mich zurücklassen müssen, und nun war ich bereits Erwachsen, fast 21 Jahre alt. Ich war von diesem Wiedersehen ebenfalls zutiefst erschüttert.

Nach einigen Minuten fragte ich sie, wo ihre Sachen wären. Unaufhörlich weinend, erwiderte sie, dass sie keine Sachen hätte – alles wäre verloren gegangen. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, meinte sie, dass ihr unterwegs alles Mögliche zugestoßen sei und sie es später erzählen würde.

Vorerst wollte sie bei, wie sie sagte, guten Menschen unterkommen, die sie im Zug kennengelernt hätte.

Wir begaben uns dorthin. Die Hauswirte waren ein älteres Ehepaar von etwa sechzig Jahren. Außerdem wohnte bei ihnen noch ein behinderter Sohn, ungefähr vierzig Jahre alt, mit einem Fuß, der von Geburt an verstümmelt war. Dort begegnete ich auch Mamas Begleiter, der mit ihr gefahren war – ein fahl aussehender Mann in einer verblichenen Soldatenuniform. Aus irgendeinem Grund lächelte er die ganze Zeit schuldbewusst.

Nachdem ich ins Studentenwohnheim zurückgekehrt war, dachte ich über das Geschehene nach. In ein paar Tagen musste ich Mama von den netten Leuten, die ihr Unterkunft gewährten, fortbringen; dafür galt es nun eine Wohnung zu suchen, aber ich hatte kein Geld (den Lohn für meine Arbeit im Stollen würde ich erst in zwei Wochen erhalten). Und wovon sie leben sollte, während ich noch studierte, wusste ich auch nicht.

Mit diesen Problemen fuhr ich zum Vater. Der meinte sofort, dass er mit Mama auf keinen Fall zusammenleben wolle, es gäbe zu viele Dinge, über die sie sich nur ein Leben lang gegenseitig Vorwürfe machen würden. Er gab mir Geld für eine Wohnung und dann ging ich fort.

Aber Mama brauchte gar keine Wohnung – in den ersten Tagen fand sie bereits eine Arbeitsstelle. Sie fing an als Kindergärtnerin im Kindergarten zu arbeiten, und dort wies man ihr auch ein Eckchen zum Wohnen zu. Der Kindergarten befand sich unweit von unserem Wohnheim, so dass wir uns häufig sehen konnten.

Irgendwie fragte ich sie, weshalb sie gekommen wäre, bevor ich das Technikum absolviert und selber eine Arbeit gefunden hätte.

- Wenn ich nicht gekommen wäre, wärst du an eines der Bergwerke in der burjatischen Mongolei geraten, wo die Menschen schnell sterben.

Und tatsächlich war es so, dass es in der burjatischen Mongolei zahlreiche Minen gab, in denen Erze von seltenen Buntmetallen und andere Bodenschätze gefördert wurden (Blei, Zink, Molybdän usw.). Die Schutzvorrichtungen waren mangelhaft, der schädliche Erzstaub vergiftete die Menschen schnell. Man sagte, dass ein Mensch nicht einmal ein Jahr im Bleibergwerk überlebte. In diesen Bergwerken arbeiteten Häftlinge und deutsche Trudarmisten, und als die Arbeitsarmee liquidiert wurde, fing man an Sonderumsiedler dorthin zu schicken.

Als sie in der Sonderkommandantur erfuhren, dass ihr Sohn bald das Bergbau-Technikum absolvieren würde, hatten sie zu Mama gesagt, dass es in den örtlichen Minen an Spezialisten fehle und dass man ihren Sohn in der burjatischen Mongolei sehr gut gebrauchen könne. Der schlechte Ruf dieser Bergwerke war allgemein bekannt, und um mich davor zu bewahren, hatte sie mit allen Mitteln erreicht, dass man sie nach Karaganda umziehen ließ, bevor mein Studium zu Ende war.

Bis Karaganda hatte sie mit dem Zug fahren müssen – eine Woche bis Petropawlowsk, dort umsteigen,, und noch einmal vierundzwanzig Stunden bis nach Karaganda.

Mit irgendeinem politischen Ziel gab es 1953 eine Massenamnestie für Kriminelle. Darüber wurde viel geschrieben, geblieben sind die Erinnerungen von Augenzeugen (darum ging es auch in dem weiter oben erwähnten Film „Der kalte Sommer des Jahres 1953“).

Überall im Land fuhren nun die Diebe und Mörder umher und beraubten und töteten praktisch ungestraft Menschen. In dem von Lagern umgebenen Karaganda merkten wir das sogleich ganz deutlich. In der Stadt war es auch vorher schon unruhig zugegangen, aber nun häuften sich plötzlich Raubüberfälle, Morde und böswilliges Rowdytum. Man sagte sogar, dass in der Stadt eine Bande namens „Schwarze Katze“ wütete.

So eine Zeit war das also, als Mama mit ihrem Wachbegleiter in den durchfahrenden Zug „Chabarowsk – Moskau“ einstieg.

In den Zügen, die Richtung Moskau fuhren, hatte es auch zu normalen Zeiten genügend Kriminelle gegeben, die nach dem Absitzen ihrer Strafe in Lagern des Fernen Ostens, in Magadan oder auf der Kolyma zurückkehrten. Und dann plötzlich diese Massenamnestie... Mama kannte die Verbrecherwelt (in der Trudarmee hatte sie mit gefangenen Kriminellen zusammenarbeiten müssen); deswegen stellte sie sehr schnell fest, dass im Zug eine Bande mitfuhr. Während der langen Fahrt gab es zahlreiche Diebstähle, Menschen verschwanden. Aus ihrem Waggon verschwand ein junger Pilot, und kurz darauf stolzierte eines der Bandenmitglieder in der Pilotenuniform umher. Mama bemerkte das und war auf der Hut.

Die Banditen hefteten sich an Mamas Begleitsoldaten, versuchten auszukundschaften, ob er nicht vielleicht zum Wachpersonal gehörte. Der schwor zu Gott, dass er lediglich ein demobilisierter Soldat sei und auf dem Heimweg sei (seine Schulterstücke hatte er in den Stiefeln verborgen).

Mama mochte sich gern etwas farbenfroher anziehen und lief deswegen im Waggon in einem seidenen Morgenrock herum. Die Banditen hatten, in der Meinung sie sei reich, schon lange ein Auge auf sie geworfen. Nach allem zu urteilen waren sie Kriminelle höchster Klasse, denn trotz aller Wachsamkeit gelang es ihnen in der Nacht, vor der Ankunft in Petropawlowsk, ihren Koffer zu rauben. Darin befanden sich alle Sachen von Mama, ihre Dokumente und das gesamte Geld. Mama berichtete, dass ihr Begleiter nicht geschlafen, sondern alles gesehen hätte, aber vor lauter Angst hätte er geschwiegen.

In Petropawlowsk begab Mama sich sogleich zur Miliz und zeigte ihr Unglück an. Sie sagte, dass im Zug eine Bande ihr Unwesen getrieben und sie bestohlen hätte. In ihrer Anzeige zählte sie alles auf, was man ihr geraubt hatte und gab auch eine genaue Beschreibung der Bandenmitglieder.

Danach trat sie auf die Straße hinaus und setzte sich am Eingang der Miliz auf eine Bank. Nebenan befand sich das städtische Badehaus, und Mama bemerkte einen Mann und eine Frau, die mit Koffern hinein gingen. Sie erkannte sie sofort – das waren zwei aus der Diebesbande. Mama eilte zum Diensthabenden:

- Nehmen Sie die beiden dort fest, das sind die Banditen!

Im Koffer der Frau fand sich Mamas Unterwäsche; beide Personen wurden verhaftet.

Es begannen lange Verhöre, Gegenüberstellungen, bei denen Mama anwesend sein musste. Innerhalb einer Woche war die ganze Bande aufgegriffen. Die Banditen wussten, dass Mama der Grund für ihr Fiasko war, und schworen immer wieder sich an ihr zu rächen. Mama fürchtete ihre Rache bis zu ihrem Tode.

Obwohl die Banditen gefasst wurden, fand man nur wenige von Mamas Sachen – etwas Wäsche, ein Teil der Dokumente und Obligationen, die nichts wert waren. Mama litt besonders darunter, dass der Anzug und die Armbanduhr verloren gegangen waren, die sie mir als Geschenk hatte mitbringen wollen.

In Petropawlowsk arbeitete sie zwei Wochen. Während der gesamten Zeit wurde sie immer wieder zur Identifizierung von Banditen herangezogen, die gewöhnlich in der Nacht verhört wurden. Sie befand sich am Ende ihrer Kraft, als man sie unter Wachbegleitung nach Karaganda schickte. Einen Tag später traf sie dort schließlich, ohne Geld und Sachen, ein – „zur Wiedervereinigung mit dem Sohn“, wie es offiziell geschrieben stand.

***

Nachdem ich das Praktikum beendet hatte, schrieb ich meine Diplomarbeit, und nachdem ich sie verteidigt hatte, händigte man mir feierlich das allererste Diplom meines Lebens aus – das Diplom eines Technikers für die Förderung von Kohlevorkommen. Das geschah im November 1953.

Ich begann zu arbeiten – ich sprengte Kohle und Berggestein in karagandinsker Schachtanlagen. Bei einer Arbeit, welche von Pionieren geleistet wird, darf man sich nur ein einziges Mal irren ...

Vor mir lag ein nicht einfaches Erwachsenenleben.


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